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Geloste Bürgerversammlungen aus integraler Sicht

Unser Regierungssystem braucht ein Update. Es ist von seiner Struktur her noch nicht darauf ausgelegt, langfristige, hochkomplexe und globale Probleme zu lösen. Am deutlichsten ist dies im Bereich der Klimapolitik zu erkennen. Fast alles, was wir über die Erderwärmung wissen, war bereits 1979 bekannt[1]. Die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel zeigt die Schwächen der heutigen Regierungssysteme auf: Zu kurzfristiges Denken und Handeln – maximal in Legislaturperioden. Hohe Komplexität kann aufgrund von Lager- und Ressortdenken in und zwischen den unterschiedlichen Ministerien kaum abgebildet werden. Es fehlt der institutionelle politische Rahmen auf staatlicher, geschweige denn internationaler Ebene, um solchen Herausforderungen angemessen Rechnung zu tragen. Auf globaler Ebene haben seit 1979 bereits 25 Klimakonferenzen stattgefunden. Das Pariser Abkommen 2015 hat einen wichtigen Fortschritt markiert. Die konsequente Umsetzung allerdings hat selbst in Deutschland bis heute noch nicht stattgefunden.

Wie können wir dies überwinden? Wie kommen wir zu praktischen neuen Lösungen und Ideen? Müssen wir unser Regierungssystem neu erfinden?

Demokratie in Flächenstaaten und die Idee von Nationalstaaten sind geschichtlich sehr junge Phänomene, die vor gerade einmal 200 Jahren entstanden. Dieses damals geniale Konzept löste zentralisierte und auf einen Herrscher ausgerichtete Systeme ab, die nach dem absolutistischen Prinzip “L´etat c´est moi” (der Staat bin ich) funktionierten. Auf diesem Boden entstanden die unterschiedlichen Ausprägungen der Demokratie.

Ein-Parteien-Demokratien (blau) haben sich zu parlamentarischen Viel-Parteien-Demokratien (orange) weiterentwickelt. Wenn man nur die großflächig angewandten Regierungssysteme betrachtet und von einzelnen Experimenten absieht, ist diese orange Form noch immer das modernste Regierungssystem der Welt. In Krisenzeiten wie jetzt in der Corona Pandemie fallen diese Strukturen in ihren Krisenmodus zurück und agieren weitgehend mit Kontrolle, Regeln und Autorität. Dies kann zielführend sein, zeigt aber auch, wo wir gesellschaftlich wirklich stehen.

In Deutschland sind laut Umfragen aus der Zeit vor der Corona-Krise fast 50 Prozent der Wahlberechtigten unzufrieden damit, wie die Demokratie funktioniert[2] – Tendenz steigend. Es gibt also nicht nur die lange bekannte Unzufriedenheit mit Politiker*innen oder der Politik, sondern auch mit der Demokratie selbst. Die Demokratiemüdigkeit betrifft nicht nur sozial benachteiligte oder weniger gebildete Menschen. Besonders dramatisch ist der Vertrauensverlust bei den Jüngeren.[3]

Doch wir müssen gar nicht auf Statistiken blicken, es genügt ein Blick nach innen: Warum bin ich so ermüdet von unserer Demokratie? Warum kämpfe ich nicht für diese Staatsform, sondern sehe nur ermattet zu, wie Autokraten und Parteien mit radikaler Rhetorik an den Grundfesten der Demokratie rütteln? Wieso inspiriert sie mich nicht mehr? Wieso glaube ich nicht mehr daran, dass die heutige Politik wirklich etwas verändern kann?

Die integrale Theorie kann uns dabei helfen, demokratische Strukturen weiterzuentwickeln. In diesem Beitrag wird ein Ausschnitt eines möglichen Zukunftsbildes genauer betrachtet. Wir wollen untersuchen, wie Bürger besser beteiligt werden können, und insbesondere, welche Rolle das Losverfahren hierbei spielt.

1. Wie funktioniert Demokratie im grünen Mem?

Ein Mem-Wechsel wird meist auch durch veränderte äußere Rahmenbedingungen initiiert. Oft entwickeln wir uns als Einzelwesen oder als Gesellschaften erst weiter, wenn uns der Problemdruck keine Wahl mehr lässt. Wir sind nun an die härteste Grenze überhaupt gestoßen, die Endlichkeit unseres Planeten.

Meine Einschätzung ist, dass in Deutschland, Skandinavien, einigen Ländern Mitteleuropas und Kanada die bislang am weitesten entwickelten Regierungssysteme zu Hause sind. Sie stehen bereits am Übergang von Orange zu Grün.

Im Spiral Dynamics Klassiker von Don Beck / Christopher Cowan[4] wurde in einer politischen Matrix das grüne Mem so beschrieben: „Demokratie ist, .... dass jeder sich gleichberechtigt an der konsensorientierten Entscheidungsfindung zum Wohle von uns, dem Volk, beteiligt.“ (Seite 501). Die politische Struktur sei „Gemeinschaft mit gleichen Rechten und Ergebnissen“.

Eine wunderbarere Aussicht, doch in der Realpolitik sind wir davon weit entfernt. Wie können wir uns dem nun annähern?

Meine Prognose: Auf dem Weg zum grünen Mem werden die bisherigen demokratischen, parlamentarischen Strukturen revitalisiert und nach und nach um folgende Aspekte ergänzt.

  • Möglichst alle Bürger*innen werden an wesentlichen Entscheidungen beteiligt.
  • Dialogische, partizipative und direktdemokratische Formen werden auch auf bundesstaatlicher Ebene integriert.
  • Betroffene werden ins Gespräch und in die Lösungsfindung integriert, auch wenn sie von der Mehrheit abweichende Meinungen vertreten.
  • Dezentrale Strukturen werden gestärkt und ermächtigt, so weit wie möglich eigenständig zu entscheiden (Subsidiaritätsprinzip).
  • Digitale Werkzeuge werden für neue Kooperations- und Debatten-Formen genutzt.
  • Der Kommunikationsstil in Politik und Medien ändert sich grundlegend.
  • Empathie wird auch politisch gesellschaftsfähig.
  • Kollektive Gefühls- und „Innenräume“ werden bewusster wahrgenommen und ihnen wird auch politisch Rechnung getragen.

Im Folgenden soll ein wichtiger Baustein, um dies zu erreichen, genauer untersucht werden: Losbasierte Bürgerräte.

Doch zuvor noch einige theoretische Überlegungen. In der Literatur finden sich viele Hinweise dazu, wie Organisationsentwicklung aus integraler Perspektive gelingen kann. Gesellschaftliche Zusammenhänge sind um ein Vielfaches komplexer als Organisationen. Umso wichtiger ist es, dass wir unser bisheriges Wissen konsequent und zugleich angemessen übertragen und umsetzen. Dazu habe ich einige bekannten Prinzipien aus dem integralen Modell im Blick auf ein neues Politikverständnis „übersetzt“:

2. Integrale Prinzipien

2.1. Viele Meme gleichzeitig

In modernen Gesellschaften dominiert nicht ein mehr oder weniger geschlossenes Mem, sondern eine Vielzahl von soziokulturellen Milieus. Daher rührt auch die Unübersichtlichkeit der heutigen politischen Landschaft. In der Menschheitsgeschichte existierten bislang noch nie so viele ausgeprägte Mem-Strukturen gleichzeitig. In früheren Jahrhunderten erfolgte der Wandel langsamer, und es wurden etwa nur ein bis zwei Meme innerhalb einer Generation erfahren. Heute existieren in aufgeklärten Gesellschaften drei bis vier politische Mem-Strukturen nebeneinander. Sie spiegeln sich in verschiedenen Denkmustern, wirtschaftlichen Vorstellungen, Parteien und Milieus wider. Auch die Vielzahl der Parteien hängt damit zusammen. Parteien sind so etwas wie Gefäße und Wirkstätten für die unterschiedlichen politischen Bewusstseinsinhalte. So hat die Weiterentwicklung der CDU in Deutschland unter Angela Merkel dazu geführt, dass traditionell konservativ sozialisierte Schichten, die eher im blauen Mem angesiedelt sind, heimatlos wurden. Die CDU hat sich unter Merkel stärker in die politische Mitte, basierend auf einem wissenschaftlichen, orangen Weltbild, bewegt. Für diejenigen, die deutlicher konservative Werte vertreten, war die CDU damit nicht mehr wählbar. Spätestens mit der Entscheidung von 2015, die Grenze für Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen, wurde Angela Merkel für diejenigen, die sich klare Regeln, Grenzen und Verbote (blau) wünschen zum unkalkulierbaren Risiko. Die AfD konnte so überhaupt erst politisch Fuß fassen.

Transformationen sind nicht zwangsläufig angenehm, sondern äußerst kraftraubend. Manche Menschen haben in ihrem Leben bereits zwei oder drei systemische Übergänge erlebt (etwa den zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit, die „Wende“ 1989/90, die Finanzkrisen oder die Corona-Zeit) und sind erschöpft. Man denke nur an den Fall der Mauer. Umso wichtiger ist, dass alle behutsam mit einbezogen werden und sich nicht überrollt fühlen.

2.2. Jedes Mem hat eine gesunde und eine pathologische Ausprägung

Es gibt relativ gesundes und relativ ungesundes Rot, Blau, Orange, Grün, Gelb... Ken Wilber fasst zusammen: Das ungesunde blaue Mem sei verantwortlich für das Desaster der mittelalterlichen Vormoderne (Inquisition, Theokratie), das ungesunde orange Mem für das Desaster der Moderne (von globalem Raubtierkapitalismus bis hin zur Ausbeutung der Erde) und das ungesunde grüne Mem für das Desaster der Postmoderne (Orientierungslosigkeit, Verweigerung von Leadership). Da das orange Mem in den letzten drei Jahrhunderten so dominant in der Welt gewesen sei, würde es wohl den Negativ-Preis für die schlimmste aller ungesunden Mem-Ausprägungen gewinnen.[5]

2.3. Meme können nicht übersprungen werden

Besonders wichtig ist, dass Meme nicht übersprungen werden können, da die Lerngewinne jedes Stadiums erforderlich sind, um das nächste zu erreichen. Insofern sind sie nicht "höher" im Sinne von Herrschaft, sondern "tiefer" in dem Sinne, dass sie mehr umfassen, ohne zu verdrängen und zu beherrschen. Die Meme werden lediglich immer komplexer, bis sie durch ihre Lösungen Probleme geschaffen haben oder auf Probleme treffen, die sie in ihrem Reifestadium nicht mehr lösen können. Kein Meme ist somit „besser“ als das andere. Wie Clare Graves, der Begründer der ganzen integralen Theorie, bemerkt hat, muss beim Übergang von der Stammesgesellschaft zur Demokratie zuerst die Autokratie durchlaufen werden. Wer z.B. noch kein (blaues) Konsequenz-Denken entwickelt hat, sieht keinen Grund, sich an Regeln und Gesetze zu halten, da ihm die Vorstellung, erst viel später dafür bestraft zu werden, fremd ist. Auf unsere Gesellschaft bezogen heißt das: Ein super komplexes politisches System kann erst recht nicht von orangen Strukturen ins gelbe Mem springen, sondern muss zuerst eine gelebte, reife, grüne Kultur ausprägen. Nach meiner Beobachtung wird dies von manchen Avantgarde-Denker*innen, die gerade selbst mit Mühe das grüne Mem zu überwinden suchen, in Bezug auf die politische Wirklichkeit übersehen.

2.4. Integration der früheren Strukturen ist notwendig

Wenn eine neue Stufe ins Leben kommt, entsteht dabei in Abgrenzung von erst einmal Widerstand gegen die frühere Stufe. Besonders gesund und stabil sind Meme erst dann, wenn die davorliegenden Strukturen integriert und in ihren lichten und schattenhaften Qualitäten erkannt sind. Das gilt sowohl individuell als auch kollektiv. Auch in einem gesunden Regierungssystem müssen alle Ebenen ihren Platz finden und ihre Qualitäten zum gesellschaftlichen Leben beisteuern. Auch heute noch gibt es das Bedürfnis nach starken und Einheit stiftenden Symbolen (purpur), wie der Flagge oder der Hymne eines Landes. Ein positiv besetztes Beispiel ist die EU-Flagge.

Ein anderes Beispiel, auf das blaue Mem bezogen: Auch in höheren Mem Strukturen will kaum jemand auf die klare ordnende Kraft einer unabhängigen Gerichtsbarkeit verzichten. Rechtsstaatlichkeit, eine verlässliche Verwaltung, der Glaube und das Vertrauen, dass Gesetze eingehalten werden, sind auch Grundlagen in zukünftigen grün und gelb geprägten Staaten. Es geht also nicht darum, eine Phase zu „überwinden“, sondern die lichten Anteile aller Stufen zu nutzen. Damit bleibt auch jede Phase integraler Bestandteil des Gesamtgefüges.

2.5. Das Versprechen des second tier

Menschen sind durch alle Meme bis in grüne Denkstrukturen hinein davon überzeugt, dass ihre Sicht der Welt die Richtige ist. Erst ab Gelb, ab dem Übergang zur zweiten Stufe (second tier) können wir zum ersten Mal den Wert und die Legitimität aller bislang entstandenen Bewusstseinsstufen erkennen. Solange bekämpfen sich noch alle Meme und damit auch alle sie repräsentierenden politischen Parteien. Selbst die im doppelten Sinne grüne Partei, ist nicht bereit, Gruppen oder Menschen zu integrieren, die ihre grünen Werte in Frage stellen. Motto: Wer nicht integriert, wird nicht mehr integriert. Vielleicht erklärt sich daraus die Intensität, mit der grüne Strukturen (Die Grünen) blaue Strukturen (AfD, FPÖ) ablehnen.

Um nun politisch mit dem Spiral Dynamics-Modell arbeiten zu können, ist es notwendig, dass wir persönlich, gerade auch wenn wir politisch agieren, einen möglichst übergeordneten „gelben“ Blickwinkel einnehmen. Diesen müssen wir uns oft erst in Theorie und Praxis erarbeiten. Dazu müsste idealerweise jeder Mensch für sich selbst alle Meme nicht nur auf der persönlichen, seelischen Ebene, sondern auch die damit verbundenen politisch-gesellschaftlichen Konzepte und moralisch-ethischen Werte durchdringen.[6] Auf jeder Stufe sind die authentischen, sinnvollen von den unangemessenen und überzogenen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Vor allem bei persönlich oder kollektiv belasteten Themen ist dies keine leichte Aufgabe, wie jetzt in der Corona-Zeit eindrucksvoll zu erleben war.

2.6. Staaten sind anders als „gewöhnliche“ Organisationen

In politischen Prozessen gibt es einen wesentlichen Unterschied zu allen anderen Organisationsformen. Wenn sich Unternehmen oder gesellschaftliche Organisationen weiterentwickeln, können Mitarbeitende in der Regel auch das Unternehmen oder das Umfeld verlassen, wenn sie nicht mehr mit den Neuerungen einverstanden sind. Auf staatlicher Ebene müssen wir indessen damit rechnen, dass es Menschen gibt, die sich – aus welchem Grund auch immer – nicht verändern wollen oder können. Das muss respektiert werden. Staaten und Gesellschaften haben hierbei eine ganz andere Verantwortung. Sie haben das Gewaltmonopol inne, haben also existentiellen Einfluss auf alle Ihre Bürger*innen. Menschen sind in der Regel per Geburt „Zwangsmitglieder“ eines Staates. Man kann nicht einfach austreten – oder gar ausgeschlossen werden auf der Grundlage mangelnder „Passung“ qua persönlicher Entwicklung oder aufgrund eines mit dem dominierenden nicht kompatiblen Wertesystems. Was in Unternehmen funktionieren mag, kann unter anderem deshalb nicht ohne Weiteres auf Staaten übertragen werden. Staaten sind dem Gemeinwohl verpflichtet und müssen alle Menschen integrieren und akzeptieren, auch wenn diese sich nicht verändern können oder wollen.

2.7. Innere Prozesse müssen integriert werden

Die mit der Entwicklung in das grüne und in höhere Meme einhergehende Zunahme von Komplexität dehnt sich – aus meiner Sicht notwendigerweise – auch in den inneren Raum aus. Damit werden emotionale, psychologische und kulturelle Felder angesprochen. Dies geschieht natürlich auf allem Mem-Ebenen, aber ab grün vergrößern sich das Bewusstsein und die gesellschaftliche Akzeptanz dafür sprunghaft. Ab dem grünen Mem können auch kollektive Innenräume gemeinschaftlich bearbeitet werden. Ob der Übergang vom orangen Mem in das grüne Mem gelingt, hängt meiner Meinung nach davon ab, ob solche Innenräume wirksam erschlossen werden können. Emotion, Empathie und persönliches Befinden sind Wesensmerkmale der grünen Ebene. Hier offenbart sich auch erstmalig, wie sehr Haltungen und Glaubenssätze für unser Handeln maßgeblich sind.

Im Bereich der Ökologie hat bereits eine solche Erweiterung stattgefunden mit der Entwicklung der Tiefenökologie. Der norwegische Philosoph und Umweltaktivist Arne Naess hat Anfang der 70er Jahre den Begriff „deep ecology“ geprägt. Er benutzte diesen Begriff, um damit über die oberflächlichen Antworten auf die sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit hinauszugehen. Die Tiefenökologie sieht die Erde als ein lebendes System, in dem alles miteinander verbunden ist. In Übungen und Ritualen lehrt sie uns, uns wieder zu verbinden – mit uns selbst, unseren Mitmenschen, allen anderen Wesen und unserer Erde. Die Probleme, die wir mit uns tragen, und der Schmerz, den wir in uns spüren, sind nach diesem Ansatz nur zum Teil individuell; ein anderer, oftmals weitaus größerer Teil, ist kollektiv.[7]

Wie ist vor diesem Hintergrund nun das derzeit viel diskutierte und sich weltweit als ein Ansatz zur Erneuerung unserer Demokratien immer größerer Beliebtheit erfreuende Konzept von gelosten Bürgerräten zu verstehen? Und wie ist es aus einer integralen Sicht zu bewerten?

3. Die Vorteile von Bürgerräten und Losverfahren

Gut gemachte Beteiligungsverfahren tragen einer Vielzahl grüner Werte Rechnung: Sie sind ergebnisoffen, sozial inklusiv und regen kollektive Intelligenz an. Menschen werden in ihrer Lichtseite angesprochen und integriert. Sie werden als verantwortungsvoll betrachtet und handeln deswegen auch so. Tiefe menschliche Begegnungen finden statt. Die Magie derartiger Verfahren liegt oft in den kleinen Räumen. Bei Männern wie Frauen, bei gebildeten Vielrednern und Menschen aus weniger gebildeten Verhältnissen, mit oder ohne Migrationshintergrund gleichen sich nach einiger Zeit die Redeanteile von selbst an. Alle Akteure werden eingebunden. Losverfahren stellen sicher, dass soziale Selektion weitgehend überwunden wird.

Im alten Athen gab es bekanntermaßen eine ausgeprägte direkte Demokratie, eine Versammlungsdemokratie. Doch ein entscheidender Aspekt funktionierte damals anders als heute: Es gab keine Wahlen. Die Mitglieder der Athener Regierung, des sogenannten Rats der 500, wurden ausgelost. Viele Athener Bürger hatten daher in ihrem Leben ein politisches Amt inne, es gab keine Berufspolitiker. Schon Aristoteles fasste zusammen: Wahl führt zu Aristokratie, Los zur Demokratie.

Athen war natürlich keine egalitäre Gesellschaft, wie wir sie heute anstreben. Frauen und sozial schlechter gestellte Personen (ganz zu schweigen von Sklav*innen) blieben in der Politik außen vor. Trotzdem lässt sich von den Grundprinzipien etwas lernen.

Das Losverfahren in seiner modernen Form bietet viele Vorteile: Jeder Mensch kann per Los ausgewählt werden. Daher gibt es keine soziale Ausgrenzung, es sind nicht nur die “üblichen Verdächtigen”, die zu politischen Themen Stellung nehmen. Die Amtszeiten sind begrenzt. Es gibt keine Wahlkämpfe und keine nicht eingelösten Wahlversprechen.

Das Losverfahren korrespondiert auch mit unseren Erkenntnissen über kollektive Intelligenz. Damit in Gruppen etwas Neues entstehen kann, müssen die Teilnehmenden möglichst verschieden sein und aus unterschiedlichen Zusammenhängen kommen. Gruppen sollten interdisziplinär besetzt sein und in keinerlei Abhängigkeiten zueinander stehen. Nur dann bekommt man frische Ideen – und die Beteiligten auch den Mut, sie auszusprechen.

Zusammenfassung: Vorteile von losbasierten Beteiligungsverfahren

  • Professionelle Moderation stellt einen wertschätzenden, rationalen, faktenbasierten Diskurs sicher.
  • Soziale Exklusion wird minimiert, z. B. durch Zahlung von Verdienstausfall an Teilnehmende, Unterstützung bei Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Übersetzung etc.
  • Das Verfahren ist transparent und lobbyfest, alle Interessen kommen zu Wort.
  • Die sozialen Folgen von Maßnahmen können umfassend durchdacht und behandelt werden. Eckpunkte für breit getragene bürgerliche Kompromisse werden sichtbar.
  • In beide Richtungen wird Vertrauen aufgebaut. Bürger*innen verstehen die Arbeit der Politik besser. Sie kommen mit Politiker*innen und untereinander in Kontakt, jenseits von Filterblasen und Echokammern.
  • Die von Bürgerinnen und Bürgern erarbeiteten Lösungsvorschläge spiegeln einen „common sense“ wieder und werden als fair wahrgenommen. Sie sind mehrheitsfähig.

Gesellschaft und Politik wissen anhand der in Bürgerräten konkret erarbeiteten Vorschläge und Maßnahmen dann genau, bis wohin die Bürger*innen mitgehen können und wollen. Darauf kann die Gesetzgebung ausgerichtet werden.

Der Hauptschatten aller Beteiligungsverfahren ist, dass sie unverbindlich und auf eine wohlwollende Verwaltung als Auftraggeber angewiesen sind. Auch die Finanzierung ist meist abhängig von der Exekutive. Wenn der Politik das Ergebnis nicht schmeckt oder sie damit schlicht überfordert ist, verschwindet die Arbeit der Bürger*innen in der Schublade. Diese Nachteile können und sollten durch eine intelligente Kombination mit direktdemokratischen Elementen überwunden werden.[8]

4. Von Irland lernen

In Irland ist in den letzten Jahren mit dem Konzept der Citizens‘ Assembly ein Labor für Demokratie entstanden. So wurde unter anderem kontrovers über die Homo-Ehe diskutiert. Der Streit um das Thema spaltete das katholische Land. Die Legalisierung der Homo-Ehe schien undenkbar – zu konservativ die Bevölkerung, zu stark die Macht der Kirche. Daher wurde das Problem einer per Losverfahren zusammengesetzten Bürgerversammlung übergeben. 100 Menschen (40 Parlamentarier*innen und 60 Bürger*innen) machten ein Jahr lang Politik. Die Versammlung bekam unterschiedlichsten Input, von Jurist*innen, Philosoph*innen, der katholischen Kirche, Betroffenen, und diskutierte darüber. Sie stimmte ab und gab ihrer Regierung eine Handlungsempfehlung. Die Berufspolitiker*innen mussten sich zwar nicht zwingend an das Votum halten, aber es war ein starkes Signal.

Das Parlament übernahm den Vorschlag der Bürgerversammlung pro Homo-Ehe und setzte, da er eine Verfassungsänderung vorsah, ein Referendum darüber an: 62 Prozent der Bürger stimmten alsdann per Volksentscheid für die Einführung der Homo-Ehe bei einer Beteiligung von über 65 Prozent der Wahlberechtigten.

Frankreich – auch ein katholisches Land – hat auf rein parlamentarischem Wege die Homo-Ehe beschlossen. Die Folge war, dass Hunderttausende auf die Straße gingen und dagegen protestierten.

Zur Veranschaulichung dessen, welche Entwicklungsprozesse durch eine geloste Bürgerversammlung möglich sind, hier zwei Zitate von Finbarr O’Brien, Postbote, 62 Jahre, Mitglied der irischen Bürgerversammlung. Das erste stammt vom Beginn des Beteiligungsprozesses, das zweite aus der Zeit, in der bereits mehrere Treffen der ausgelosten BürgerInnen stattgefunden hatten:

"Ihr habt schon von pädophilen Priestern gehört? So was ist mir als Kind passiert. Seit ich missbraucht wurde, dachte ich: Homosexuelle sind alle gleich: brutal – egal ob Pädophile, Schwule oder Lesben. Alle gleich. Ich hasste und verachtete sie."

"Ich habe eine wichtige Lektion gelernt: Homosexuelle sind normale Leute. Sie tun Kindern nichts. Also stand ich in der Bürgerversammlung auf und sagte, dass ich für die Homo-Ehe stimmen würde."

Das ist nur ein kleines Blitzlicht auf das Transformations-Potential, das solche Bürgerversammlungen haben können.

Die drei Verfahren – parlamentarische Entscheidung, Bürgerbeteiligung, direkte Demokratie – ergänzen sich ideal. Intensive Beteiligungsverfahren bringen eine tiefe Diskussionsqualität hervor und führen zu kollektiv-intelligenten Lösungen. Parlamente, in denen nach wie vor der größte Anteil der Gesetzgebung stattfindet, werden so praktisch unterstützt und kommen direkt mit den Bürger*innen in den Austausch. Am Ende können alle Bürger*innen nach intensiver Information verbindlich über wichtige Themen abstimmen und sind unmittelbar am Prozess beteiligt. Dieser Dreiklang ist ein Schlüssel zur Weiterentwicklung der Demokratie.

5. Praxisbeispiel Bürgerrat Demokratie 2019

Motiviert und inspiriert durch die irischen Erfahrungen hat in Deutschland ein erstes vergleichbares Experiment im Herbst 2019 stattgefunden. Diesen Prozess hat Mehr Demokratie zusammen mit zwei Durchführungsinstituten[9] konzipiert und organisiert. Ein losbasierter Bürgerrat war sein Herzstück. Hier haben per Los ausgewählte Menschen darüber gesprochen, wie es mit unserer Demokratie weitergehen kann. Dabei ging es vor allem um die Frage: Soll die parlamentarische Demokratie durch direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ergänzt werden? Wenn ja, wie?

5.1 Ausgangsfrage und Ziel

Im Zentrum des Bürgerrats stand die Frage „ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann oder soll?“ Diese Formulierung stammt aus dem Koalitionsvertrag von März 2018 zwischen CDU/CSU und SPD. Im Koalitionsvertrag wurde die Einsetzung einer Expertenkommission zu dieser Frage angekündigt. Vermutlich wird diese aber in dieser Legislaturperiode nicht mehr eingesetzt. Damit hat der Bürgerrat Demokratie hat de facto die Aufgabe einer solchen Kommission erfüllt.

5.2 So lief das Verfahren ab

Die Teilnehmenden des Bürgerrats trafen sich zweimal für zwei Tage. Sie kamen als Plenum von rund 160 Menschen in Leipzig zusammen, erhielten alle notwendigen Informationen und debattierten dann in kleinen Gruppen, zu denen weder die Fachleute, noch Medien oder Politik Zutritt hatten. Die Ergebnisse wurden schließlich wieder im Plenum zusammengetragen und abgeglichen. Dadurch wurde ein persönlicher und vertraulicher Kommunikationsrahmen gewährleistet, und die Anbindung ans Ganze blieb trotzdem bestehen. Moderator*innen vor Ort sorgten dafür, dass alle zu Wort kamen und dass die Ergebnisse gebündelt wurden. Um sinnvoll diskutieren zu können, mussten die Teilnehmenden über die verschiedenen Demokratie-Instrumente und Beteiligungsmöglichkeiten, über das Pro und Kontra Bescheid wissen. Vor Ort bekamen sie daher durch Treffen mit Expert*innen alle notwendigen Informationen, so dass alle auf dem gleichen Wissensstand waren. Dafür wurden unterschiedliche Menschen aus der Praxis, aus Politik und Wissenschaft, aus den Medien oder von Verbänden ausgewählt.

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Der Prozess hatte vier Phasen.

  

Phase 1 – Juni bis August 2019 – Regionalkonferenzen zur Vorbereitung des Bürgerrates auf Bundesebene: Zunächst wurden auf Regionalkonferenzen Fragestellungen und Themen aufgenommen, die im Bürgerrat behandelt werden sollen. Auf sechs dreistündigen Abendveranstaltungen erarbeiteten interessierte Bürger*innen und Vertreter*innen der Politik Vorschläge für die Agenda des Bürgerrats auf Bundesebene. Die Organisator*innen wollten ein Gefühl für die Stimmung in der Bevölkerung – und auch in der Politik – bekommen. Wie steht es um unsere Demokratie? Braucht sie ein Update? Was läuft gut? Was könnte besser laufen? Was muss unbedingt geändert werden? Die Regionalkonferenzen halfen, diese Frage zu klären und den Bürgerrat vorzubereiten.

Phase 2 – September bis Oktober 2019 – Bürgerrat Demokratie: Darauf folgte die Hauptphase, in der 160 zufällig ausgewählte Bürger*innen aus ganz Deutschland an zwei Wochenenden Empfehlungen zu konkreten Reformen an die Politik erarbeiteten. Zu jedem Thema erhielten die Teilnehmenden Informationen von Fachleuten. Dabei wurden Pro- und Kontra-Argumente berücksichtigt. Anschließend an die Diskussionsrunden oder Vorträge der Expert*innen hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, Fragen zu stellen. Die Fachleute antworteten auf diese Fragen direkt in der großen Runde, bevor die inhaltliche Arbeit an den einzelnen Tischen begann.

Die Teilnehmenden verteilten sich auf 23 Tische. Die Tischzusammensetzung wurde täglich gelost und war somit an jedem der vier Tage anders. An jedem Tisch sorgten eine Moderation und eine Assistenz dafür, dass alle Teilnehmenden zu Wort kamen und alle Ergebnisse festgehalten wurden. Die Ergebnisse zu den einzelnen Themenblöcken wurden dokumentiert und an ein im Hintergrund arbeitendes Redaktionsteam weitergleitet. Die festgehaltenen Ergebnisse konnten die Teilnehmenden auf Plakaten und am Ende der vier Tage auch digital einsehen. So ließ sich überprüfen, ob das Moderations- und Redaktionsteam die Anregungen der Bürgerinnen und Bürger richtig erfasst und zusammengefasst haben. Auf Grundlage der Diskussionen entwickelten die Bürger*innen zum Abschluss des Bürgerrats Empfehlungen zur Ausgangsfrage, ob und wenn ja wie unsere repräsentative Demokratie durch Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie ergänzt werden soll. Ein Redaktionsteam aus Bürger*innen führte die Empfehlungen zusammen, so dass am Ende 22 Empfehlungen im Bürgerrat zur Abstimmung gestellt wurden. Alle Empfehlungen wurden mehrheitlich angenommen und daher in das Bürgergutachten aufgenommen.

Phase 3 – Tag für die Demokratie: Die Ergebnisse des Bürgerrats wurden in einem Bürgergutachten zusammengefasst. Am Tag für die Demokratie wurde das Gutachten des Bürgerrats der Öffentlichkeit und der Politik vorgestellt, diskutiert und an den Bundestagspräsidenten, Dr. Wolfgang Schäuble, übergeben.

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Phase 4 – Umsetzungsphase: Nach der Übergabe der Ergebnisse des Bürgerrats an die Politik findet derzeit eine zivilgesellschaftliche Begleitung der Politik bei der Umsetzung der Empfehlungen statt. Derzeit finden im Bundestag in den Fraktionen und im Ausschuss für bürgerschaftliches Engagement Diskussionen darüber statt, ob und wie die Empfehlungen der Bürger*innen umgesetzt werden können.

5.3 Das Losverfahren beim Bürgerrat (Phase 2)

Die Teilnehmer*innen wurden aus allen Bundesbürger*innen ab 16 Jahren ausgelost. Dafür wurde ein dreistufiges Verfahren angewandt: Zuerst wurden aus dem amtlichen Gemeindeverzeichnis in allen Bundesländern Gemeinden zufällig ausgelost. Die Gemeinden wurden dafür in fünf Größenklassen unterteilt. Der Anteil der Gemeinden einer Größenklasse an der gesamten Stichprobe des Bundeslandes entspricht dem Anteil, den die Gemeinden dieser Größenklasse an der Gesamtheit aller Gemeinden des Bundeslandes haben.

Im zweiten Schritt wurden die Einwohnermeldeämter der ausgelosten Gemeinden gebeten, eine Zufallsstichprobe ihrer Bürger*innen zu ziehen. Diese wurden anschließend vom Organisationsteam des Bürgerrat Demokratie angeschrieben und zum Bürgerrat eingeladen. Bei der Berechnung der Teilnehmendenzahl pro Bundesland wurde nicht die statistische Verteilung der Bewohner*innen zugrunde gelegt, sondern das Stimmverhältnis im Bundesrat. Technisch wurde sowohl die Auswahl der Gemeinden als auch die der Bürger*innen über Algorithmen realisiert.

Im letzten Schritt wurden aus allen Bürger*innen, die sich bereit erklärt hatten am Bürgerrat mitzuwirken, 160 Personen anhand bestimmter Kategorien für die Teilnahme am Bürgerrat ausgewählt. Die Kriterien waren Geschlecht, Verteilung Stadt – Land, Migrationshintergrund und Bildungsabschluss. Die Verteilung soziodemografischer Merkmale im Bürgerrat soll möglichst genau der Verteilung in der Gesamtbevölkerung entsprechen. Mit dieser geschichteten Zufallsauswahl[10] wurde das Phänomen der sozialen Exklusion (also der Tatsache, dass bestimmte Gruppen und Milieus der Gesellschaft bei Wahlen und Beteiligungsprozessen unterrepräsentiert sind) deutlich verbessert.

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5.4 Ergebnisse

Die lebhaften Diskussionen des Bürgerrats waren von der Überzeugung getragen, dass es die bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie zu schützen und zu stärken gilt. Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie wurden auf dem Bürgerrat nicht als Gegenmodelle diskutiert, sondern als Möglichkeiten zur Belebung der Demokratie, zur Annäherung von Bevölkerung und Politik und zum Ausgleich von Schwächen und Herausforderungen der gegenwärtigen Situation. Die 22 Einzelempfehlungen[11] des Bürgerrates können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Es soll per Zufallslos berufene Bürgerräte auf Bundesebene geben.
  2. Unsere bewährte repräsentative Demokratie soll durch eine Kombination von Bürgerbeteiligung und Volksentscheiden auf Bundesebene ergänzt werden.
  3. Es soll bundesweite Volksentscheide geben.
  4. Es soll eine unabhängige Stabsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie eingerichtet werden.
  5. Es soll ein Lobby-Register auf Bundesebene geschaffen werden.

Die Ergebnisse des Bürgergutachtens werden derzeit im Bundestag im Unterausschuss für bürgerschaftliches Engagement diskutiert. Mehr Demokratie hat deswegen zu allen Empfehlungen des Bürgerrates konkrete Umsetzungsvorschläge[12] erarbeitet, konkrete Eckpunkte für Gesetzesvorschläge. Am realistischen sehen wir – neben der Einführung eines Lobbyregisters – die Institutionalisierung von Bürgerräten. Für die deutlich wichtigere Kombination von Bürgerräten mit direkt-demokratischen Verfahren ist die dafür notwendige Zweidrittel-Mehrheit (Grundgesetzänderung) noch nicht in Reichweite.

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Eckpunkte für einen Gesetzentwurf für losbasierte Bürgerräte auf Bundesebene

Damit Bürgerräte auf Bundesebene eine dauerhafte Wirkung entfalten, sollten sie institutionalisiert werden. Mehr Demokratie e.V. hat konkrete Vorschläge dafür erarbeitet:

1. Initiierung

Ein losbasierter Bürgerrat kann auf den Weg gebracht werden durch:

  • die Bundesregierung per Kabinettsbeschluss
  • den Bundestag per Beschluss über einen entsprechenden Antrag
  • Unterschriftensammlung von Einwohner*innen (Bürgerrats-Initiative)

Gerade die letzte Möglichkeit, dieses Instrument auch von unten, also von den Bürger*innen initiie-ren zu lassen, ist wichtig. Sonst sind Bürgerräte nur vom Wohlwollen und der Einsicht der Regieren-den abhängig und werden zu unliebsamen Themen nicht stattfinden.

2. Anforderung an eine Bürgerrats-Initiative

Wenn Bürger*innen einen Bürgerrat initiieren wollen, brauchen sie:

  • 100.000 gesammelte Unterschriften (nicht nur online, sondern mit realer Unterschrift). Jede natürliche Person (analog zu den Regelungen bei Petitionen) soll unterschreiben können, also nicht nur Staatsbürger*innen.
  • Die Unterschriften werden mit der Fragestellung (zu einem abgrenzbaren Thema) und Begründung beim Bundestagspräsidium oder einer unabhängigen Stabsstelle für Bürgerbeteiligung eingereicht.
  • Der Inhalt muss im Rahmen der Zuständigkeit des Deutschen Bundestages liegen.

3. Zulässigkeit der Bürgerrats-Initiative

  • Das Bundestagspräsidium entscheidet innerhalb eines Monats nach Einreichung über das Zustandekommen.
  • Über die Vereinbarkeit einer Bürgerrats-Initiative mit dem Grundgesetz entscheidet – falls dies vom Bundestagspräsidium beantragt wird – das Bundesverfassungsgericht innerhalb von sechs Monaten. Grundgesetz- oder völkerrechtswidrige Themen sind nicht zulässig.

4. Umsetzung der Bürgerrats-Initiative

  • Die Fragestellung der Bürgerrats-Initiative kann vom Bundestagspräsidium im Einvernehmen mit den Initiator*innen angepasst werden. Der Leitgedanke hierbei ist: Die praktische Umsetzbarkeit eines Bürgerrates und der daraus resultierenden Empfehlungen soll gewährleistet werden.
  • Der Bundestag kann den Bürgerrats-Prozess innerhalb von zwölf Monaten selbst, über eine neu zu schaffende Stabsstelle oder über eine Beauftragung von externen Organisationen umsetzen.
  • Der Bundestag beschließt die Grundprinzipien des Prozesses (orientiert an den Regeln für irische Citizens Assemblies: Offenheit, Fairness, gleiches Gewicht der Stimmen, Effizienz, Respekt, Kooperation).
  • Die Umsetzung orientiert sich an den aktuellen Qualitätskriterien guter Beteiligungspraxis und generativer und agiler Prozessbegleitung.
  • Die Finanzierung eines Bürgerrates erfolgt aus dem Bundeshaushalt.

5. Was passiert mit den Empfehlungen einer Bürgerrats-Initiative?

  • Das Bundestagspräsidium überweist die Empfehlungen an die betreffenden Fachausschüsse und legt einen federführenden Ausschuss fest. 
  • Die zuständigen Bundesministerien befassen sich ebenfalls mit den Empfehlungen und speisen ihre Rückmeldungen in den parlamentarischen Prozess ein.
  • Der federführende Ausschuss erstellt eine Beschlussvorlage für den Bundestag.
  • Gewählte Vertretungspersonen des Bürgerrates haben (gemeinsam mit den Vertrauensleuten der Bürgerrats-Initiative) das Recht auf Anhörung in den Fachausschüssen und gegebenenfalls im Bundesrat.
  • Der Bundestag teilt innerhalb von zwölf Monaten nach Übergabe der Empfehlungen des Bürgerrates das Ergebnis der parlamentarischen Behandlung mit und versieht dies mit Gründen.
6 Abschluss und Ausblick

6.1 Weitere Pilotprojekte

Nach der Übergabe der Ergebnisse des Bürgerrates Demokratie an den Bundestag initiierte Bundestagspräsident Schäuble auch eine Diskussion unter allen Fraktionen, ob das Prinzip der losbasierten Bürgerräte ein geeignetes Instrument sei, um die parlamentarische Demokratie weiter zu entwickeln. In diesem Jahr werden wir sehen, wieweit der Deutsche Bundestag demokratische Innovationen nicht nur diskutiert, sondern auch auf den Weg bringt. Nahezu alle Fraktionen sind dafür offen und wollen demokratische Innovationen weiter testen. So könnte vor der gesetzlichen Einführung ein weiterer direkt vom Bundestag beauftragter Bürgerrat noch in dieser Legislaturperiode stattfinden. Idealerweise sollte das Mandat dazu nicht nur von den Regierungsparteien, sondern von möglichst allen Fraktionen des deutschen Bundestages erteilt werden. Damit entstünde auch eine Grundlage für demokratische Reformen in der nächsten Regierungsperiode.

Unabhängig davon kann die Zivilgesellschaft selbst weitere Bürgerräte zu den drängendsten, politischen Fragen organisieren. Eine vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebene Studie aus 2019 zeigt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland einen grundlegenden Wechsel in der Energie-, Landwirtschafts- und Verkehrspolitik für erforderlich hält. Eine Mehrheit der Bürger*innen ist auch zu Einschnitten und zu sozial abgewogenen Kostenübernahmen in der Klimapolitik bereit. Vor diesem Hintergrund könnten beispielsweise in einem Klima-Bürgerrat praktische Maßnahmen und Zukunftsbilder erarbeitet werden, die mit großer Sicherheit wirksamer und mutiger sind als die Klimapolitik der heutigen Bundesregierung.

6.2 Einordnung von Bürgerräten aus integraler Sicht

Zum Schluss noch einige Gedanken zur Einordnung von Bürgerräten in eine integrale Landkarte. Aktuell ist der Kern der deutschen Politik im orangen Mem organisiert, „eine pluralistische Politik, die von Geben und Nehmen bestimmt wird, innerhalb eines ökonomischen Spiels gegenseitiger Kontrolle[13]." Pluralistisch könnte auch mit getrennt und fragmentiert bezeichnet werden. Das zeigt sich bis in die Wortbedeutung hinein. Die wesentlichen Arbeitseinheiten im Parlament sind Parteien und Fraktionen, also Pars, der Teil und Fraktion, der Bruch. Beide sind per definitionem Teile des Ganzen. Parlamente sind heute fragmentiert organisiert. Das Prinzip ist Konkurrenz und nicht Synchronisation. Ganz konkret zeigt das sich zum Beispiel darin, dass so gut wie kein Antrag der Opposition übernommen wird. Selbst in den Ausschüssen, die nicht öffentlich tagen, gibt es kaum kreativen Austausch, geschweige denn gemeinsames Lernen. In der Regel werden vorgestanzte Positionen ausgetauscht. Oftmals gibt es noch nicht einmal eine ernsthafte Diskussion, dafür umso mehr Schaufensterdebatten. Dies sind keine Allgemeinplätze, sondern Erfahrungen aus Gesprächen mit Abgeordneten, die diese Strukturen zwar reflektieren, aber sich nicht in der Lage sehen, sie zu ändern.

Interessant ist, was in den seltenen Fällen passiert, wenn der Bundestag eine kleine Spielregel ändert: Abstimmungen werden freigegeben, der Fraktionszwang wird aufgehoben und Abgeordnete können nach ihrem Gewissen entscheiden, zum Beispiel in der Diskussion über Präimplantationsdiagnostik. Dann ändert sich die Qualität der gesamten Debatte vollständig. Im gleichen Raum und mit den gleichen Menschen findet nun ein Diskurs auf höchsten Niveau statt. Außerordentlich klug und differenziert, wertebasiert, achtsam im Umgang…

Daran sehen wir, dass das Potential für eine modernere, grüne Kultur (grün im Sinne von Spiral Dynamics) in der Politik sehr wohl angelegt ist, sie jedoch erschlossen werden muss. Das parlamentarische Geschehen wird sich jedoch schwerlich aus sich selbst heraus reformieren, sondern benötigt Anstöße und Inspiration von außen.

Bürgerräte können dazu beitragen. Sie arbeiten nach anderen Prinzipien und werden auch konsequent so moderiert. Im Falle Irlands hat sogar das Parlament folgende Regeln für die irische Citizens Assembly beschlossen: Offenheit, Fairness, gleiches Gewicht der Stimmen, Effizienz, Respekt, Kooperation. Kreativ und modern organisierte Bürgerräte helfen der Politik also nicht nur bei inhaltlichen Fragen, sondern liefern auch einen wichtigen Beitrag zu einem kulturellen Update.

Vielen Menschen sind die feinen Qualitäten aufmerksam moderierter Räume aus persönlichen oder meditativen Zusammenhänge bekannt. Jetzt gilt es, eine entsprechende Achtsamkeitskultur auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Ob wir im besten Fall gesellschaftliche Felder der kollektiven Weisheit erzeugen oder im schlimmsten Fall kollektive Traumata aktivieren, hängt maßgeblich von den miteinander vereinbarten Formen des Umgangs, den Spielregeln der Kommunikation, der Moderation und der Prozessgestaltung ab.

Je mehr es gelingt, Fragmentierungen und Getrenntsein nicht nur auf kognitiver, sondern auch emotionaler Ebene innerhalb einer Gruppe zu überwinden, desto wacher, kreativer und intelligenter wird jedes Individuum dieser Gruppe (und umgekehrt). Und desto besser werden die erarbeiteten Lösungen sein. Im demokratischen Sinne besser bedeutet, dass Lösungen die Präferenzen und Interessen der Teilnehmenden besser abbilden. Sie werden also gemeinwohlorientierter sein.

6.3 Form follows function

Damit dies auch stattfinden kann, sollte im Idealfall für jede Fragestellung ein eigener Prozess entworfen werden, der sich genau aus der gestellten Frage ergibt. Dazu gehört auch die konsequente Aufteilung in Prozessbegleiter*innen, die ein kluges Problemlösungsdesign und Entscheidungsformat entwickeln, und in Stakeholder, die für die Inhalte stehen.

Heute brauchen wir umfangreiche nationale Prozessräume und internationale Foren, um so kraftvolle und umfassende Impulse zu setzen, damit auf allen Ebenen echte Transformation stattfinden kann. Hierbei wird schnell klar, welche immensen Anforderungen dies an die Persönlichkeitsstruktur und die innere Integrität von Prozessbegleiter*innen stellt. Ohne persönliche innere Arbeit, ohne eine vertikale Ausrichtung und ohne eigenes Ankerfeld ist dies nur schwer möglich. Vor allem geht es nicht alleine, sondern nur in einem auf einander bezogenen Team. Ich denke, die nächste evolutionäre Stufe ist es, Erfahrungen aus großen Organisationen und aus Kommunen heraus auf die nächsthöhere Ebene zu tragen.

6.4 Ausblick: Parlamente der Zukunft

Um noch einen Schritt weiterzugehen: Parlamente im grünen und beginnenden gelben Mem werden eher wie gemeinsame Prozessräume gestaltet sein. Sie werden wie „offene Nervensysteme“ agieren können, in denen Parlamentarier gemeinsam in immer höherem Maße möglichst viele Perspektiven von Gesellschaft, Wissenschaft, Verwaltung, Bürgern in sich abbilden – und zwar individuell, sowie auch als immer intelligenteres Gruppenfeld. Dazu wird es ein reichhaltiges Instrumentarium an Beteiligungsformen und Prozessen zur Ko-kreation geben.

Demokratische Prozesse werden dann viel mehr Wahrnehmungs-, Witnessing- und Gestaltungsprozesse sein, die die Feldenergie von synchronisierten Gruppen nutzt. Das wird ganz neue Anforderungen an alle Beteiligten, also Politik und Bürger*innen stellen. Beziehungskompetenz, soziale Intelligenz und die Fähigkeit, Körper-, Herz-, und Geist mit einzubeziehen, wird immer wichtiger werden. Parteien werden sich eher zu Impulsgebern und Prozess- und Synchronisations-Räumen weiterentwickeln.

Eine demokratischere Zukunft ist greifbar, sie braucht unsere Kraft und unser Herzblut, um Wirklichkeit zu werden. Losbasierte Bürgerräte sind ein erster Schritt in diese Richtung.

P.S. Eilmeldung: Ende Juni 2020 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, noch in dieser Legislaturperiode selbst einen Bürgerrat in Auftrag zu geben. Zum ersten Mal in seiner Geschichte.

05 Huber LiFT 

Und eine Anmerkung der Redaktion (E.F.): Die Zeit berichtete kürzlich über erste Ergebnisse des französischen Bürgerrates zur Klimakrise. Wie sich zeigt sind die Bürger zu konsequenten und weitergehenden Schritten bereit als die Politik selbst:
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/klimapolitik-frankreich-buergerrat-klimaschutz-gelbwesten-direkte-demokratie.

 

Endnoten

[1] Nathaniel Rich (2019): Losing Earth, Rowohlt.

[2] Umfrage Civey, 28.4.2018, https://civey.com/pro/unsere-arbeit/trend/politik/deutsche-fuer-mehr-direkte-demokratie

[3] Foa R, Mounk J (2016): The Danger of Deconsolidation. Journal of Democracy. S. 2ff.

[4] Don Edward Beck / Christopher C. Cowan (2015): Spiral Dynamics - Leadership, Werte und Wandel. 6. Aufl.

[5] Ken Wilber (2002): On the mean memes in general, www.integralworld.net/mgm2.html, frei übersetzt.

[6] Siehe auch „Leadership der Zukunft“ von Anette Christl /Angelika Scheuer (2019): Leadership der Zukunft – Führung an der Schwelle von 1st Tier zu 2nd Tier. In: Parnow H., Schmidt P. (Hrsg.) Zusammen arbeiten, Zusammen wachsen, Zusammen leben. Springer Gabler, Berlin, Heidelberg.

[7] Entnommen aus https://tiefenoekologie.de/.

[8] Factsheet zur Kombination von losbasierten Bürgerräten und direkter Demokratie auf Bundesebene https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/faktenblatt_buergerraete_direkte_demokratie.pdf.

[9] Nexus und ifok.

[10] Losverfahren sollten mit weiteren Auswahlverfahren kombiniert werden. Denn der Zufall hat kein Gedächtnis. Das Los könnte auch 160 Männer oder 160 Menschen unter 30 Jahren treffen.

[11] Das vollständige Bürgergutachten: https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf.

[12] https://www.buergerrat.de/dokumentation/, siehe Punkt Diskussionspapiere.

[13] Beck/Cowan, Spiral Dynamics, Seite 500.

 

   

Huber RomanRoman Huber ist Projektleiter beim Bürgerrat Demokratie (www.buergerrat.de) und Geschäftsführender Bundesvorstand (www.mehr-demokratie.de), sowie außerdem Mitgründer der Zukunftswerkstatt und Gemeinschaft Schloss Tempelhof (www.schloss-tempelhof.de) und Senior Fellow am IASS Potsdam (www.iass-potsdam.de).

 

 

 

 

  

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