Logo Integrale PerspektivenDie Integrale Theorie im öffentlichen Raum

Es ist im integralen Forum oft die Frage gestellt worden, wie dieser oder jener Sachverhalt aus integraler Sicht zu verstehen sei. Doch die mittlerweile interessantere Frage wäre die, wie die integrale Theorie anschlussfähig werden kann an einen allgemeineren und öffentlichen wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs.
Außerhalb der integralen Szene wird diese Theorie kaum, oder wenn dann bestenfalls als nebenbei inspirierend, oder im schlimmeren Fall als unverständlich oder zu abgeschlossen rezipiert. Viele Wissenschaftler scheuen sich, explizit auf Ken Wilber oder andere Autoren der integralen Theorie aus der Befürchtung heraus, als unseriös zu gelten, Bezug zu nehmen.

Das hat verschiedene Gründe.

Ein erster Grund liegt in ihrer Terminologie, die nur jemand verstehen kann, der sich mit dieser Theorie eingehend beschäftigt hat (grün, blau, gelb, links unten, rechts oben, AQAL etc. sind nicht sich selbst erklärend). Die Diskurse in der integralen Szene werden aber oft in eben jener Sprache geführt, was eine Öffnung nach außen verhindert.

Ein zweiter Grund liegt in ihrem Anspruch, eine allgemein gültige Theorie zu sein. Tatsächlich ist ihr Gültigkeitsbereich recht eng, was eine Öffnung für andere Modelle aus anderen Strömungen und Schulen notwendig macht. Ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit führt zu dem Phänomen, dass sich die integrale Theorie bisweilen anderer Themen und Ideen bemächtigt, sie gleichsam in sich einverleibt (zum Beispiel diverse entwicklungspsychologische Modelle oder Spiral Dynamics), diese aber nicht als gleichberechtigte intellektuelle Ideen begreifen kann und möchte.

Ein dritter Grund liegt in ihrer Tendenz zur Selbstreferenzialität. Diskurse beziehen sich oftmals auf theorieinterne Angelegenheiten. Damit entsteht zwar eine horizontale Interpretationsweite, nicht aber eine vertikale Weiterentwicklung und schon gar nicht eine Anschlussfähigkeit an andere wissenschaftliche und philosophische Standpunkte.

Ein vierter Grund verweist auf ihre konkrete und auch empirisch belegbare Anwendbarkeit. Wo liegt ihr sichtbarer Nutzen? Um in dem öffentlichen Debattenraum der Wissenschaften ernst genommen zu werden, reicht es nicht, auf subjektive Erkenntnisgewinne zu verweisen. Es braucht Studien, die den allgemeinen Standards wissenschaftlicher Forschung genügen, die also objektiv, verlässlich und valide sind. Dazu müsste die integrale Theorie von der scientific community wahrgenommen werden. Der scientific community Ignoranz vorzuwerfen, wäre ganz sicher der falsche Weg. Vielmehr muss sich die integrale Theorie selbstkritisch und veränderungsbereit die Frage stellen: Wie machen wir uns sichtbar? Wie bringen wir uns in den öffentlichen Diskursraum ein? Welche Kommunikationsformen bevorzugen wir bislang, und wie können wir diese verändern und offener gestalten? Eine grundsätzliche Voraussetzung dazu wäre, die integrale Theorie oder Aspekte daraus falsifikationsfähig zu machen.

Ein Beispiel möge das Gesagte illustrieren:
Die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa[1] stößt derzeit auf breites Interesse. Rosa selbst hält sich mit der Begründung, seinen Kompetenzbereich nicht überschreiten zu wollen, mit psychologischen Implikationen zurück.
Es könnte eine interessante Herausforderung sein, die Resonanztheorie mit der Integralen Theorie in Verbindung zu bringen. Nur darf dies nicht auf die bisher übliche Weise geschehen, indem die Resonanztheorie von der Integralen Theorie lediglich absorbiert wird. Über die resonanztheoretischen Aspekte kann die Integrale Theorie nicht aussagefähig sein, das würde ihren Validitätsrahmen sprengen. Aber sie kann einige Fragen beantworten und Lücken schließen.
Konkreter: Rosa definiert Resonanzen als dynamische lebendige Beziehungen, in denen Sender und Empfänger durch wechselseitige Bereitschaft, sich verändern zu lassen, verwandelt werden. Das entscheidende Kriterium für den transsubjektiven Charakter der Resonanztheorie ist der Blick auf jenes Dritte, auf die pulsierende Resonanzachse zwischen den beteiligten Personen. Zu den Subjekten des Du und Ich tritt der Resonanzstrom, der uns überhaupt erst lebendig sein lässt.
Auf die Frage, von welchen innerpsychischen „Orten“ aus Resonanzachsen ausgeworfen werden, könnte die Integrale Theorie Antwort geben, etwa indem sie Entwicklungslinien, Wert-Meme oder Quadrantenzuordnungen benennen könnte. Was aber dem Erkenntnisgewinn sicher nicht helfen würde, wären Fragen danach, ob nun die Resonanztheorie grün oder doch gelb oder ob sie „nur“ einen Quadranten oder doch mehrere abdecke. Anschlussfähigkeit wird möglich durch Selbstbeschränkung innerhalb des eigenen Gültigkeitsbereichs, innerhalb dessen aber auch durch das nüchterne Bewusstsein ihrer eigenen Stärken und Kompetenzen.

II Die Integrale Theorie im innerpsychischen Raum

Weltanschauliche Fahrzeuge, um diese Allegorie aus dem Buddhismus aufzugreifen, haben die oft unerwartete Tendenz, sich mit fortschreitender Reise auf dem offenen Meer selbst aufzulösen. Dann erweist sich, dass jene psychonautischen Gefährte nicht die Aufgabe haben, uns an die fernen Ufer zu bringen, sondern uns Zeit zu verschaffen, schwimmen zu lernen. Taugliche Fahrzeuge koppeln ihre Auflösetendenz an die Schwimmfähigkeiten des Passagiers. Untaugliche lösen sich vorher auf oder beharren auf ihrer Existenz und werden somit Selbstzweck.
Die Integrale Theorie bildet da keine Ausnahme. So wie für den Yogi die letzte Anhaftung der Yoga selbst ist, so ist es auch die Integrale Theorie für ihre Anwender.
Aus der begrifflichen Theorie gerinnt mit der Zeit eine abstrakte Werthaltung, eine implizite Einstellungsänderung. Diese wiederum leitet Empathiefähigkeit und Verhalten. An diesem Verhalten erst ist der Wert einer weltanschaulichen Haltung zu ermessen.

Ich spie die Theorien aus, als ich in dunklen Hotelzimmern in Varanasi im Fieber lag.
Ich sah das glitzernd-kristalline Muster der Integralen Theorie, das mein Gehirn durchzog wie messerscharfe Fäden aus Glas. Die Hitze des Fiebers ließ das Glas schmelzen. Ich schwitzte es aus.
Das Muster jenes Denkens sackte hinab in die tiefen Quellcodes des Fühlens und Denkens und wurde zu einer Erfahrung unter vielen. Was bleibt, ist ein Wissen darum; eine Erinnerung, die den Erfahrungen der Gegenwart eine Tönung verleiht. Die Begriffe benutze ich nicht mehr und doch leiten die zu abstrakten Werten und Richtschnuren geronnenen Ideen Wilbers, wie auch die des Humanismus, des Christentums, des Buddhismus und weiterer, mein Verhalten aus einem subtilen Hintergrund heraus.

Die Psyche steuert das Verhalten. Teil der Psyche sind die Fragmente der Welterklärungsmodelle, die wir im Laufe des Lebens assimiliert haben. Am Verhalten also können wir erkennen, welchen Wert eine Theorie hat: Verändert sie unser Leben? Sind wir durch sie sensibler in Wahrnehmung und Handlung? Weiten sich unsere Perspektiven? Bekommen unsere Erfahrungen eine andere Qualität? Werden intensiver?
Geschieht das nicht, ist die Theorie nichts wert. Sie bleibt intellektueller Selbstzweck.
Was mich also interessiert, sind die Veränderungen der Menschen, ihr Verhalten, ihre Sensibilität.
Das next level der Integralen Szene wird sich an den Wirkungen ihrer Annahmen messen lassen. Das Erreichen dessen wird mit einer Abkehr von der übermäßigen Beschäftigung mit Begriffen und den (horizontalen) Feinjustierungen des Modells einhergehen. Auf die Theorie folgt die Anwendung.
Anwendung meint hier nicht, gemäß dem Modell für diesen oder jenen Quadranten oder diese oder jene Entwicklungslinie bestimmte Psychotechniken zu entwickeln, um sie täglich nach Plan durchzuexerzieren. Anwendung heißt vielmehr, nach den impliziten Werten zu leben, die die integrale Theorie transportiert, sich von ihren Werten leiten und führen zu lassen, so sie das Unbewusste durchdrungen haben.
Was nun ansteht, ist ein Hinabsinken dieser integralen Theorie in die neuronalen Quellcodes des Unbewussten, sie müssen von den kognitiv-affektiven Systemen der Anwender assimiliert werden und gleichsam aus dem Hintergrund Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln leiten. Das wäre das next level, das jede Komplexitätserweiterung ab einem bestimmten Punkt erreicht. Nach der horizontalen Erweiterung (die Theorie wird ausgearbeitet) folgt die vertikale Bewegung, die die begrifflichen Ebenen überwindet und zur Tat führt.

III Perspektiven und Fragen

Es ist seltsam, wie bestimmte Erfahrungen in der Retrospektive als Ereignisse erscheinen, die keineswegs zufällig eintreten. Die, wie durch eine innere unbewusste Instanz gerufen und ausgewählt, die gewachsenen und konditionierten Ich-Verkrustungen auflösen und dabei einen tiefen seelischen Schmerz entweder freilegen oder erzeugen. Solche Ereignisse zwingen zu einem Sprung ins Konkrete. In solchen Zeiten kann eine Theorie oder eine Weltanschauung als ein sicherer Rückzugsort wahrgenommen werden. Hinter den Palisaden ist man vor den wütenden Pfeilen direkter Emotionalität etwas geschützter, und der Blick von den kognitiven Türmen ist weiter und überschauender. Und dennoch geschieht eine wirkliche Anverwandlung der Ereignisse erst, wenn man diese schützenden Mauern hinter sich lässt.
Mit philosophischen Worten: Der Blick aus der festen Burg der Theorie zwingt zu einem deduktiven Weg – also zum Einordnen des Gesehenen und Erfahrenen in die Muster des theoretischen Modells. Das Modell diktiert die Wahrnehmung.
Anders, wenn man sich, wie Arjuna in der Bhagavad Gita, in die Schlacht stürzt, die als der innere Kampf verstanden werden kann. Der Weg wird zu einem induktiven. Die Erfahrungen fügen sich zusammen und verweben sich zunehmend zu einem sinnhaften Ganzen, einem Seinsentwurf in ganz eigener Sache.

Es waren konkrete Lebensereignisse vor einigen Jahren, die in mir ein Gefühl des Vorher und Nachher erzeugt haben, einen Bruch, den auch andere Menschen aus ihrem Leben kennen. In dieser Zeit des Bruchs, diesem Niemandsland des „Ichs“ (das alte „Ich“ war verbrannt zu einem postapokalyptisch wirkenden Ruinenfeld und ein neues war noch nicht in Sicht) schrieb ich den Rohentwurf zu „Und im Abgrund wohnt die Wahrheit“.
Die emotionalen Zerrissenheiten, die Dummheiten, die verzweifelten Versuche und Experimente, die Suche nach einem lebenswerten Leben, nach einer sinnhaften Passung zwischen Welt und eigener Person, brauchten Bilder, Szenen, brauchten unverstellte Subjektivität.
In mir brannten Fragen, die ich damals nicht bewusst formulierte, aber die das Schreiben aus dem unbewussten Hintergrund leiteten:
Ist es mir möglich, aus den Architekturen theoretischer Modelle hinaus- und in die Nebel und vagen Konturen des Lebens hineinzutreten, als einziges Kriterium der mehr oder weniger wache Geist in mir? Das „Ich“ dabei schrittweise lernend, in den verschiedenen Räumen des Innens wie des Außens zu navigieren?
Ist es mir möglich, das Vertrauen in ein weltanschauliches Modell behutsam abzulösen durch ein tiefes Vertrauen zu mir selbst, zu den eigenen Wahrnehmungen, seien diese konkret oder subtil, vage oder deutlich, intuitiv oder fühlend?
Wage ich trotz der tiefen seelischen Angst den Sprung in die Unvorhersehbarkeit des Konkreten, wenn doch der Rausch der Freiheit so eng mit dem Gefühl einer existenziellen Verlorenheit verbunden ist?
Die Antworten lassen sich nicht theoretisch formulieren, sie durchdringen das ganze Wesen durch die unmittelbare Erfahrung, durch die Tat, durch das Bezeugen eigener Entscheidungen.
Das weltanschauliche Fahrzeug zerstört sich auf dem offenen Meer selbst, und es sind die ersten eigenen Schwimmbewegungen, die die Antworten offenbaren.

  

[1] Rosa, Hartmut: Resonanz. Suhrkamp, Frankfurt/M., 2018. Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. Residenz-Verlag, Salzburg, 2018.

  

 

Podcasts: Tom Amarque im Gespräch mit Matthias Thiele

Tom Amarque spricht mit dem Psychologen & Buchautor Matthias Thiele über eine ganze Reihe von Themen: Sein neues Buch, Sinn und Sinnangebote der Gesellschaft,  Selbstbestimmung,  Selbstaufgabe, Motive unserer Kreativität, Simulationen, Leid und vieles mehr. 

 

 

Zum Autor:

Thiele MatthiasMatthias Thiele, geboren 1972, ist Psychologe und freier Autor. Nach mehreren Sachbüchern zu Psychologie und Kulturphilosophie ist „Und im Abgrund wohnt die Wahrheit“ sein erster Roman. 

Buch-Empfehlung:

Und im Abgrund wohnt die Wahrheit

Klappentext:
Fassungslos steht Milos vor den Trümmern seiner bürgerlichen Existenz. Seiner Lebenslügen überdrüssig wagt er einen letzten Schritt und lässt alles zurück. Als er in Indien der schönen wie geheimnisvollen Theodora begegnet, nimmt seine Reise eine ungeahnte Wendung, die ihn in die Abgründe seiner Vergangenheit und der Liebe wirft.

Und im Abgrund wohnt die WarhheitAus dem Buch
Warum lasse ich mich verführen? Ich übe Freiheit. Die Freiheit ist zu einem Imperativ geworden, der mich wie ein frustrierter Feldwebel über den Hof der Leichtigkeit jagt. Ich bin aber nicht frei, nicht leicht, nicht offen, ich bin vollkommen verwirrt, bin ein blutleerer Zombie geworden. Vor einigen Jahren noch war es eine wuchtige Architektur gewesen, die sich über mir aufgeschichtet hatte, mich nicht atmen ließ, und diese zu pulverisieren, war ich damals aufgebrochen, erst nach Indien, dann zurück nach Deutschland, nun nach Marokko. […] Knapp neben mir ist mein Körper. Hier dieses Ich, das den Staub seiner eigenen Trümmer aushustet, dort der Körper, der sich zu autonomisieren weiß. Es ist der Körper, der Ja zu Roxane sagt, während das Ich wie ein Behinderter einfach hinterher trottet. Der Körper ist intelligenter. Er weiß etwas, das ich nicht weiß. Es hatte, in Indien, Momente gegeben, in denen sich die Folien von Ich und Körper deckungsgleich übereinander geschoben hatten. Doch dann fiel ich in den Abgrund, und die Folien wehten auseinander. Das ist es. Der Grund, warum ich hier bin, warum ich den Laptop dabei habe. Ich hoffe durch das Aufschreiben die Trümmer der Erinnerung wegstemmen zu können, hoffe mich frei und leicht aufrichten zu können. Ich habe mich verrannt.

Matthias Thiele
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit
Taschenbuch: 368 Seiten
Verlag: Phänomen Verlag; Auflage: 1 (9. Dezember 2017)
ISBN-10: 9788494628436
ISBN-13: 978-8494628436

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