Logo Integrale PerspektivenEuropa erzählt große Geschichten:

  • ein jahrtausendealtes Schlachtfeld erlebt erstmalig eine jahrzehntelange Friedensepoche;
  • Konkurrenz und Feindschaft verwandeln sich in Kooperation und gemeinsame Stärke;
  • Militärische und kulturelle Dominanz über ferne Länder wird losgelassen;
  • Die bisher historisch umfassendste Realisierung des Prinzips „Einheit in Vielfalt“ präsentiert sich als potenzielles Weltmodell;
  • Große Gruppen von Menschen entwickeln ein holarchisches Zugehörigkeitsgefühl: Sowohl zu ihrer Nation als auch zu einem politisch-gesellschaftlichen Holon auf umfassenderer Ebene;
  • Die hohe kulturelle und technologische Produktivität Europas dynamisiert die gesamte Weltgesellschaft;
  • Eine Bevölkerung mit dem weltweit höchsten Anteil höherer psychologischer Entwicklungsniveaus impliziert besondere globale Verantwortung.
Die Zähigkeit der real existierenden europäischen Einigung

Wie sehr die Europäische Union intensiv und ambivalent emotional besetzt ist, war in den letzten Jahren zunehmend offensichtlich zu beobachten: Brüssel-Bashing und Austritts-Impulse auf der einen Seite, Pulse-of-Europe-Demonstrationen und Rekord-Wahlbeteiligungen bei Europawahlen auf der anderen Seite.

Derzeit können sich viele von uns dabei erwischen, dass sie es lange als selbstverständlich empfunden haben, dass ein solches Erfolgsmodell wie die europäische Integration weiter gedeiht oder zumindest Bestand hat. Wir müssen erkennen: es ist überhaupt nicht selbstverständlich. Eher gehört immer mehr Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass dieses Konstrukt stabil bleibt oder gar weiter gedeiht. Als Europa-Pessimist könnte man die Frage spannend finden, ob Europa am Ende eher von inneren oder von äußeren Kräften oder von einer Kombination aus beidem zerrissen wird. Frei nach Adorno: Es gibt kein Stabiles im Volatilen. Das Wort „Zukunftssicherheit“ hat im exponentiellen Zeitalter jegliche Bedeutung verloren, sofern es je eine hatte. Aber „Zukunftsfähigkeit“ klingt ja auch schon gut.

Was bewegt in Europa psychologisch?

Aus psychologischer Sicht drängt sich als Betrachtungsbrille für Europa das Konzept des Grundkonfliktes „Bindung vs. Autonomie“ auf. Der Drang, die eigene Zugehörigkeit neu zu justieren, hat in den letzten Jahrzehnten weltweit wieder massiv zugenommen, vom „Ende der Geschichte“ keine Spur. Eine omnidimensionale evolutionäre Beschleunigung, das Erleben eines sich überschlagenden Wandels und einer rasenden Komplexitäts- und Turbulenzsteigerung in der politischen Sphäre, geht immer häufiger einher mit dem Erleben, der eigene Zugehörigkeitskreis müsse dringlich korrigiert werden, entweder erweitert, oder verkleinert. Sowohl die erweiterungs- als auch die abgrenzungsorientierten Strömungen scheinen dabei insgesamt von der Verheißung motiviert zu sein, ein stärkeres Kontrollgefühl über den Verlauf des Geschehens gewinnen zu können. „Take back control“.

Unter diesem Rahmenkonflikt finden sich die Dimensionen „Veränderung vs. Stabilität“ sowie „Konkurrenz vs. Kooperation“ als Unterkonflikte. Alle diese psychologischen Dimensionen werden von den politischen Kräften im europäischen Parlament unterschiedlich gelesen und gefüllt, ohne dass jedoch die analogen oder gar gleichen zugrundeliegenden emotionalen Ziele erkannt würden.

Es ergibt sich ein schwindelerregendes Durcheinander. Meinungsforschung konnte zeigen, dass die pro Brexit-Stimmen beim Votum in Großbritannien nicht auf ein niedrigeres, sondern auf ein höheres Regulierungsniveau hofften. 82% der den Brexit befürwortenden Briten wollen zum Beispiel nicht den Amerikanischen Verbraucherschutz, sondern den Europäischen oder sogar höher. Leider werden sie das Gegenteil von dem bekommen, wofür sie votieren wollten. Einfach, weil es die globale Marktdynamik einem einzelnen Land gar nicht anders erlaubt.

Verlieren Nationen an Zuständigkeiten und Gewicht?

Die Frage nach der Zukunft Europas berührt auch die Frage der holarchischen Struktur der Weltgesellschaft: welche Ebenen entwickeln welche Rollen und Bedeutungen?

Steve McIntosh hat nahegelegt (Integral Consciousness and the future of evolution, S. 312, 313), dass es mittelfristig zu einer Stärkung der globalen Ebene (global governance) und der lokalen / regionalen Ebenen kommen könnte, bei gleichzeitiger Minderung der mittleren, also nationalen Ebene.

„One of the major benefits of „pushing power up“ through the advent of a global constitution is that this would allow for more power to be „pushed down“. We know this because it is exactly what has happened in the European Union. As the nation-states of Europe have transferred some of their sovereignity to the E.U., this has facilitated the reemergence of smaller political entities such as Scotland and Catalonia. […] And if such a program of local empowerment was implemented under the guidance of integral thinking, it could serve to strengthen traditional cultures and help them to better develop their own native forms of modernist culture […].
Dies würde dem Prinzip der Subsidiarität folgen: alles so dezentral wie möglich regeln, aber eben nicht dezentraler. Aus holarchischer Sicht wäre die Frage: inwiefern liegt Europa diesbezüglich näher an der nationalen, inwiefern näher an der globalen Ebene?

Welche Optionen die EU selbst sieht

2017 wurden von der Europäischen Kommission 5 Szenarien (eigentlich sind es eher strategische Optionen) für den Zeitraum bis 2025 skizziert. Anlass war ein Rück- und Ausblick zum 60-jährigen Jubiläum der Unterzeichnung der römischen Verträge.
www.eiz-rostock.de/informationen-zur-europaeischen-union/weissbuch-zur-zukunft-europas/

„Szenario 1: Weiter wie bisher.

Die EU, die nach dem Brexit nur noch aus 27 Mitgliedstaaten besteht, behält ihren jetzigen Kurs bei. Sie setzt weiterhin ihre Reformagenda um und baut diese aus. Das heißt, die 27 Mitgliedstaaten konzentrieren sich auf Reformen, Jobs, Wachstum und Investitionen.
In diesem Szenario wird die aktuelle Politik der EU, aber auch die mit der Bratislava-Erklärung beschlossene stärkere Ausrichtung auf den Binnenmarkt, auf Wachstum und Beschäftigung fortgeführt. Die Kommission geht davon aus, dass dieses Szenario zwar zu einigen positiven Ergebnissen und Fortschritten führen kann, zugleich werden bestehende Differenzen jedoch nicht strukturell angegangen und können die Einheit der 27er-EU weiter auf die Probe stellen“.

Positiv interpretiert, steht dieses Szenario sowohl für Standhaftigkeit als auch für undogmatischen Pragmatismus. Aus evolutionärer Sicht schimmert hier allerdings auch eine Strategie des „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ durch. Damit wird Europa das kommende Jahrzehnte nicht bewältigen können. Zu radikal ist der globale und innere evolutionäre Wandel, in den es eingebettet ist.

„Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt

Die 27 Eurostaaten konzentrieren sich nur auf den Binnenmarkt. In vielen anderen Politikbereichen können sie jedoch nicht mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, sodass die EU international an Bedeutung einbüßt“.
Dieses Szenario ist schwierig zu beurteilen. Möglicherweise täte einigen Mitgliedsländern eine Phase der autonomeren Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung nicht schlecht. Dennoch schmeckt das Szenario fad und wie ein Anfang vom Ende der Schönheit des europäischen Gedankens.

„Szenario 3: Weniger machen mehr

Staaten, die im Rahmen der EU enger zusammenarbeiten wollen als bisher, können „Koalitionen der Willigen“ bilden. Derartige Koalitionen gibt es bereits beim Euro oder im Schengen-Rahmen. Diese Zusammenarbeit könne in Zukunft auf die Bereiche Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern und soziale Angelegenheiten ausgedehnt werden.

Außerdem sind gemeinsame Polizeitruppen und Staatsanwälte denkbar, die bei grenzüberschreitender Kriminalität ermitteln. Des Weiteren können nationale Datenbanken miteinander verknüpft werden, um sicherheitsrelevante Informationen unmittelbar auszutauschen. Bei diesem Szenario besteht die Möglichkeit, dass andere Staaten später nachziehen“.

Aus Sicht des wilber‘schen Holon-Konzeptes macht dieses Szenario durchaus Sinn: nicht alle Unter-Holons müssen in alle Aktivitäten des übergreifenden Holons gleichermaßen involviert sein. Allerdings weißt Junker zurecht darauf hin, dass die EU dadurch noch viel komplexer und für noch weniger Menschen nachvollziehbar werden könnte. Demokratische politische Gebilde dürfen eine gewisse Komplexität und Intransparenz nicht überschreiten, sonst werden sie zu einer Art orangener Performative Contradiction.

„Szenario 4: Weniger machen, aber effizienter

Die EU konzentriert sich auf ausgewählte Bereiche, um schneller Ergebnisse zu erzielen, und überlässt andere Tätigkeitsbereiche den Mitgliedstaaten. Für die Migrationspolitik könne das zum Beispiel bedeuten, dass der neue Grenz- und Küstenwachschutz die Überwachung aller nationalen Grenzen übernimmt. Alle individuellen Asylentscheidungen werden dann nicht mehr national, sondern auf europäischer Ebene getroffen. Dagegen würde sich die EU aus anderen Bereichen weitestgehend zurückziehen“.

In dieser Form klingt das Szenario etwas beliebig und willkürlich. Brüssel erkennt zurecht, dass es zu einem Popularitätsproblem führt, wenn das Image entsteht, regulierungswütig zu sein und sich übergriffig und kleinteilig in das Leben der Menschen einzumischen. Sehr viel schwerer greifbar für Presse und Öffentlichkeit sind die Vorteile und Errungenschaften durch EU-Regulationen, bis hin zu positiven globalen Auswirkungen in Form des sogenannten „Brüssel-Effektes“: Wenn die EU einen hohen Standard definiert, lohnt es sich für Konzerne oft nicht, für andere Märkte parallel minderwertig zu produzieren. Im Ergebnis profitieren die Verbraucher in allen Märkten der Welt von Europas höheren Standards. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Größe des EU-Binnenmarktes für solche globalen Effekte nicht ausreicht. Fest steht, dass die EU bereits einen Großteil ihrer Regulationsprojekte aufgegeben hat aus Angst, den EU-Gegnern Munition zu liefern. Dies hat Vor- und Nachteile, jedenfalls verweist es auf die Notwendigkeit, einige Upgrade-Wünsche nicht europäisch, sondern global zu denken.

„Szenario 5: Mehr gemeinsames Handeln

Es sollen mehr Kompetenzen und Ressourcen geteilt werden. Dadurch soll es einfacher werden, Entscheidungen zu treffen. Allerdings besteht die Gefahr, Europaskeptiker dahingehend zu stärken, dass die EU Entscheidungen diktiere und den nationalen Regierungen mehr und mehr Kompetenzen abnehme“.

Es macht wenig Sinn, aus emotionalen oder ideologischen Gründen kategorisch für „mehr“ oder „weniger“ Europa zu sein. Es muss von der Sachlogik her im Einzelfall dargelegt werden, welche Kompetenzen und Ressourcen aus welchen Gründen weiter oben oder weiter unten aufgehängt werden. Auf europäischer oder sogar globaler Ebene sollten diejenigen Themen verortet werden, in denen Nationen nicht oder nicht mehr angemessen handlungs- oder gestaltungsfähig sind.

Szenario 6 …

… sei hier ergänzt, als Platzhalter für die Möglichkeit, dass etwas ganz unerwartetes passiert. Vielleicht experimentiert die EU mit einem Grundeinkommen? Vielleicht stößt sie globale Demilitarisierung an und entwickelt sie sich zu einem globalen Bildungszentrum? Vielleicht werden neue, disruptive demokratische Praktiken eingeführt? Vielleicht entwickelt sie die Möglichkeit für einzelne Länder, niederschwelliger temporär auszutreten? Vielleicht werden besondere Mitgliedschaftsformen für Länder anderer Kontinente eingeführt?
Wir leben in einer Zeit, in der unerwartete Dinge passieren.

Wahl von Ursula von der Leyen: die EU auf „mehr Europa“ ausgerichtet

Ursula von der Leyen scheint ausgeprägt für Szenario 5 zu stehen. Ihr schweben „Vereinigte Staaten von Europa“ vor, auch wenn sie diesen Begriff zu vermeiden gelernt hat, um Antieuropäern nicht unnötig Munition zu liefern. Als erste Weichenstellungen in Hinblick auf ein Mehr an Integration können ihre Vorstöße in Richtung einer europäischen Sozialunion gelesen werden, ähnlich wie die Aussagen zu einem klimapolitisch maximal engagierten Europa. Doch nicht, wie man fast schon gewohnt ist, sind es rechtsgerichtete Nationalpopulisten, von denen der Gegenwind aufbraust, sondern die deutschen Arbeitgeber und Wirtschaftsvertreter, aus deren Sicht durch eine solche Sozialunion die europäische globale Wettbewerbsfähigkeit auf‘s Spiel gesetzt wird.

Ein weiteres Mal erweist sich also der globale Standortwettbewerb als zentrale Rahmenbedingung. Von der Leyen scheint bei ihren begrüßenswerten Klima-Ambitionen primär auf die Pionier-Strategie zu setzen („erster klimaneutraler Kontinent“), anstatt Wege zu suchen, den destruktiven globalen Wettbewerb zu überschreiten.

Durch Bürgerkonferenzen und digitalen Dialogformaten wird die EU mit von der Leyen weiter versuchen, Bürgernähe herzustellen. Nicht zuletzt, um das Vertrauen wiederzugewinnen, dass durch das gebrochene Versprechen des Prinzips der Spitzenkandidaten verloren wurde. Lasst uns auf möglichst vielen Wegen offensiv integrale Perspektiven einbringen und partielle Perspektiven integral anreichern und miteinander in Umsatz bringen. Lasst uns dabei sowohl die unterschiedlich komplexen Perspektiven integrieren und zusammenführen, die es in Europa gibt, als auch uns mit Europa als einer lebendigen Ganzheit und als einem einzigartigen Organismus verbinden. Wir haben erhebliche Mitverantwortung für das kostbare Projekt Europa. Wenn die globale Zusammenarbeit so gut wäre wie diejenige in Europa in den letzten Jahrzehnten, stünde es vermutlich erstaunlich viel besser um die Menschheit.

Einigung, Zusammenarbeit und gemeinsame Gestaltung sind nicht utopisch.

 

 

John Bunzl, Nick Duffell
Nationales Denken, globale Krise
Taschenbuch: 290 Seiten
Phänomen-Verlag (15. März 2019)
ISBN-10: 8494985620

 

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