Logo Integrale Perspektivenvon Joachim Penzel

Differenzen im ästhetischen Erleben – Anstöße zur Persönlichkeitsentwicklung. Eine integrale Perspektive.

Der folgende Text handelt nur am Rande von der Wirkung der Kunst auf den einzelnen Menschen. Er geht in der Hauptsache der Frage nach, welche Chancen der Meinungsaustausch über ästhetische Erfahrungen für die soziale Entwicklung des Einzelnen bietet. Die Kontroverse über Geschmacksfragen steht nicht unter dem Handlungsdruck unmittelbarer Existenzentscheidungen und kann daher dazu beitragen, sich die eigene Persönlichkeitssouveränität zu vergegenwärtigen und Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen und Weltansichten zu lernen. Der gesellschaftliche Bereich der Kunst ist, wie Friedrich Schiller das vor 200 Jahren formuliert hat, ein „Übungsgelände der Freiheit“ – und zwar für alle Andersdenkenden.

Penzel Geschmack Crowd of PeopleWer kennt nicht die Erfahrung, bei der Begegnung mit einem Kunstwerk in einem Museum, beim Genuss von Musik oder einem Theaterstück in völlige Begeisterung, in einen Zustand positiver Aufwühlung und Hochstimmung zu geraten, während die Nachbarin genau das Gegenteil erlebt, nämlich Unwohlsein, Ablehnung, vielleicht sogar eine durch das Werk ausgelöste Aggression? Die eine Person hört jenes Raunen des Kunstwerkes „Du musst Dein Leben ändern“, das Rilke in einem seiner frühen Gedichte beschrieb; die andere denkt „Ich kann keine Kunst mehr sehen“. In diesem unterschiedlichen Erleben gründet der soziale Impuls, dass wir beginnen, uns über die ästhetischen Differenzen auszutauschen, im extremen Fall über unseren Kunstgeschmack zu streiten. Und das, obwohl die meisten das aufklärerische Diktum kennen, dass man über Geschmack eigentlich nicht streiten kann.

Es gehört zu den – fast möchte man sagen – alltäglichen Grunderfahrungen, dass über ästhetische Fragen gestritten wird. Auch im professionellen Bereich der Kunstkritik gibt es keinen friedlichen Diskurs über die Interpretation von Kunstwerken und die sich daran anschließende Beurteilung von deren sozialer und kultureller Relevanz. Auch hier existiert ein Konkurrenzkampf der Meinungen, entfaltet sich ein Streit um die Deutungshoheit über ein Kunstwerk, der sich zum Politikum ausweiten kann, wenn beispielsweise der eine Teil einer Bürgerschaft die Entfernung eines Werkes aus dem öffentlichen Raum verlangt, während die andere für dessen Erhalt kämpft. So ist die Frage dieses Textes „Warum über Geschmack streiten?“ mehr als ein theoretisches Problem, denn wir erleben heute, dass es auch innerhalb demokratisch firmierter Gesellschaften wieder Gruppen gibt, die bestimmte Formen kritischer Kunstproduktion unterbinden möchten, die Ausstellungen wegen der weltanschaulichen Gesinnung von Künstler*innen schließen wollen oder die Kunstwerke ins Museumsdepot verbannen, weil diese (beispielsweise) nackte Menschen darstellen.

Was ist Ästhetik?
Subtile Impulse zur Welt- und Selbsterkenntnis

Unter dem Begriff Ästhetik, vom griechischen Wort αἴσθησις oder aísthēsis (dt. = Wahrnehmung, Empfindung) kommend, werden seit Mitte des 18. Jahrhunderts alle bewussten Auseinandersetzungen mit Wahrnehmungsproblemen verstanden. Die ästhetische Theorie geht von der Grundannahme aus, dass wir Kunstwerke bewusst wahrnehmen, das heißt, dass wir, entlastet vom existentiellen Handlungsdruck des Alltags, nicht nur die Werke sehen oder hören, sondern ebenso auch den Prozess unserer Wahrnehmung selbst betrachten können und uns dadurch im Kunstgenuss an uns selbst erfreuen. In diesem Sinne sei, so heißt es, ästhetisches Erleben immer eine Korrelation von Werkbezug und Selbstbezug, von Außen- und Innenwahrnehmung oder von Welt- und Selbsterleben. Es geht folglich um das bewusste Pendeln über die Grenze der eigenen Identität hinaus in die möglicherweise fremdartige Welt eines Werkes und zurück in die Tiefenstruktur des Selbst, das den meisten von uns unter Umständen noch fremder erscheint, als die vom Tageslicht beschienene Außenwelt. So ergibt sich ein vierstufiger ästhetischer Prozess:

  1. die Wahrnehmung des Kunstwerkes,
  2. die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung,
  3. die Formulierung eines eigenen Kunsturteils und
  4. die Reflexion der Entstehung dieses Kunsturteils im Verhältnis zum Kunstwerk.

Das ist sehr anspruchsvoll und – tatsächlich (!) – nicht der Normalfall einer Kunstrezeption, sondern ein höchst komplexes Ideal, das innerhalb der verschiedenen ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert immer wieder formuliert wurde. Zumeist bleiben wir bei Schritt 1 stehen und springen dann gleich zu Schritt 3. Zwar machen die Kunstwerke Angebote, an ihnen die Wahrnehmung des Fremden und des Selbst bewusst zu erleben, aber dieses ästhetische Verhalten müssen Menschen im Laufe ihres Lebens erlernen. Niemand ist in der Lage, seine Wahrnehmungen zum Reflexionsgegenstand zu machen, wenn er darin nicht geschult wurde. Genaugenommen sind dazu die wenigsten Menschen fähig. Und genau das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir über Wahrnehmungsdifferenzen und Geschmacksunterschiede in Streit geraten. Wir sind unseren Wahrnehmungen, unseren Gefühlen und Weltdeutungen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Das ist in der Begegnung mit Kunstwerken nicht anders als im Rest des Lebens. Zumeist mangelt es einfach am nötigen Maß an Bewusstheit, das heißt, an der Vergegenwärtigung der komplexen Bedingungen der äußeren und der inneren Welt.

Wie erklärt man ästhetische Geschmacksunterschiede?
Ein Blick ins Telefonbuch der kosmischen Adressen

Das Problem der Heterogenität des ästhetischen Empfindens und des daraus resultierenden Kunst- bzw. Geschmacksurteils ist nicht nur eine existentielle Tatsache, sondern auch eine theoretische Herausforderung, die ganze Philosophen- und Soziologengenerationen beansprucht hat, seit sich in der Aufklärungszeit das herausgebildet hat, was wir heute als Art World, als Kunstwelt bezeichnen. Gemeint ist ein eigener gesellschaftlicher Bereich, der dem Kunstgenuss vorbehalten ist und der verschiedene Institutionen wie Museen, Theater oder Opernhäuser hervorgebracht hat, die allein der bewussten Wahrnehmung des Schönen dienen. Obwohl sich Künstler und Theoretiker wie Friedrich Schiller in der Phase des klassizistischen Idealismus eine grundsätzliche Läuterung und Erbauung der Menschen durch den Kunstgenuss erhofften, so waren doch auch damals schon die Unterschiede im ästhetischen Empfinden nicht zu übersehen.

Überschaut man die einzelnen theoretischen Erklärungsansätze über das Zustandekommen der Differenzen bei der ästhetischen Urteilsbildung der letzten 200 Jahre, so können im Wesentlichen drei grundlegende Modelle unterschieden werden.

  1. Soziologische Erklärungen: Diese unterstreichen, dass die Urteilsbildung von der berufsspezifischen Qualifikation eines Menschen und vom sozialen Herkunftsmilieu und den dadurch bedingten Bildungsressourcen abhängen.
  2. Psychologische Erklärungen: Diese unterstreichen, dass es unterschiedliche ästhetische Einstellungen bei Kunstbetrachtern und damit spezielle Vorlieben gibt wie die Fixierung auf formal-technische Aspekte der bildenden Kunst, die Bevorzugung realitätsnaher oder -ferner (bspw. abstrakter oder surrealer) Formen sowie das reine Interesse am Schönen oder die Suche nach Antworten auf lebensphilosophische Grundfragen. Diese ästhetischen Einstelllungen werden unabhängig vom Herkunftsmilieu und Geschlecht ausgebildet und sind charakterlich bzw. psychologisch bedingt.
  3. Entwicklungspsychologische Erklärungen: Diese betonen, dass sich die ästhetische Urteilsfähigkeit stufenförmig entwickelt, beginnend bei einer rein emotionalen Wahrnehmung, über realistische Deutungen, die Wertschätzung künstlerischer Ausdruckselemente, die Beurteilung stilistischer Eigenheiten und stilhistorischer Zuschreibungen und schließlich eine komplexe kulturgeschichtliche Werkinterpretation.

Aus Sicht der Integralen Theorie können diese verschiedenen Erklärungsmodelle innerhalb des von Ken Wilber entwickelten Quadrantenmodells zusammengefasst werden. Dabei lässt sich zunächst eine horizontale Ordnung von vier grundlegenden Geschmackseinstellungen und ästhetischen Rezeptionstypen herausarbeiten:

Penzel Geschmack

Solche schematisierten Rezeptionstypen sind natürlich reine theoretische Konstrukte. In der Lebenswirklichkeit vermischen sich die vier Typen zumeist zu einer Melange mit verschiedenen Geschmacksnuancen, wobei jeweils eine davon personenabhängig besonders hervorsticht. Das Quadrantenmodel bietet folglich allenfalls etwas Orientierung bei der Diagnostik von ästhetischen Urteilen. Es kann aber auch dem einzelnen Menschen helfen, diejenigen Persönlichkeitsaspekte zu erkennen, die seine Stärken sind und diejenigen, die er noch als Ressource entwickeln kann.

Nach meiner beruflichen Erfahrung als Kunstpädagoge läuft die Entwicklungsachse, also die vertikale Schichtung durch jeden einzelnen Quadranten. Wir können folglich von vier parallelen ästhetischen Entwicklungslinien sprechen – eine der psychisch-emotionalen und eine der körperli-chen Kompetenzen, eine der kulturellen und eine der formaltechnischen Kompetenzen. Fasst man diese vier Entwicklungslinien in einem gemeinsamen Modell zusammen, so ergibt sich das, was Ken Wilber ein Integrales Psychogramm nennt, im vorliegenden Fall das der ästhetischen Persönlichkeits- bzw. Geschmacksentwicklung. Tatsächlich hat ein solches Psychogramm außerhalb therapeutischer und pädagogischer Kontexte aber nur eine theoretische Bedeutung, nämlich, um sich als einzelner Mensch bewusst zu machen, dass wir alle sehr unterschiedliche Kunsteinstellungen haben. Es hilft uns zu verstehen, warum wir unterschiedliche ästhetische Empfindungen bilden und daraus Geschmacksurteile, Werkdeutungen und Lebenseinstellungen ableiten, ja warum wir gar nicht anders können, als anders zu sein als die anderen. Innezuhalten, um uns in der Selbstbetrachtung das eigene ästhetische Psychogramm zu vergegenwärtigen und mit denen der Mitmenschen zu vergleichen, ähnelt also dem Blick ins Telefonbuch der „kosmischen Adressen“ (Ken Wilber), und das kann extrem heilsam sein, um die eigene Meinung zu relativieren und in der Folge Bescheidenheit und Demut im Umgang mit anderen zu praktizieren.

Wozu brauchen wir eigentlich Streit über ästhetische Fragen?
Persönlichkeitsentwicklung erfolgt nur in Beziehung mit anderen Menschen

Nicht jeder Gedanken- und Meinungsaustausch über Kunstwerke, über Architektur, Musik oder Mode ist automatisch ein Streit. Die Ästhetik bietet, wie jeder andere Lebensbereich auch, die Möglichkeit, Dissens oder Konsens zu empfinden. Zumeist freuen wir uns über die Bestätigung unserer eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen durch andere Menschen. Dann verspüren wir Resonanz und erfahren so etwas wie kollektive Zugehörigkeit im Großen oder Kleinen. Kohärenzerfahrungen stabilisieren unser Weltbild und unser Selbstbewusstsein und sind existentiell äußerst wichtig. Ein gemeinsamer euphorisierender Museums- oder Konzertbesuch, der Austausch von Begeisterung über ein gelesenes Buch oder die Bestätigung von Ablehnung eines Films fördert die grundlegende Erfahrung, dass wir mit unserer Weltwahrnehmung nicht allein dastehen, dass wir nicht isoliert sind vom emotionalen und kognitiven Raum der Mitmenschen.

Im Leben benötigen wir aber auch Differenzerfahrungen, um uns als soziale Wesen zu entwickeln. Einen Dissens, eine Meinungsverschiedenheit erleben die meisten Menschen allerdings als eine Irritation des eigenen Weltbewusstseins, manchmal als einen Akt der Aggression. Dann beginnen, beispielsweise in der politischen Meinungsbildung, die Abgrenzungsgefechte, die Positionierungen, die Zuspitzung von Urteilen bis hin zu Polemisierung. Das ist die Stunde von dem, was man als einen Bürgerkrieg der Meinungen bezeichnen könnte, den wir alle tagtäglich von den Medien als Meinungskampf, als Gerangel um Wählerstimmen präsentiert bekommen. Zwangsläufig rutschen wir mit unseren eigenen Überzeugungen in die Positionskämpfe von Meinungen, Gesinnungen und Macht hinein. Dem kann sich niemand entziehen. Und wir erleben, dass es im Bereich des Politischen und Ökonomischen, zum Teil auch des Zwischenmenschlichen kaum Möglichkeiten gibt, aus den Abgrenzungsgefechten herauszukommen. Wie wir aus neueren soziologischen Studien wissen, existiert weder auf der großen politischen Bühne der Parteien noch auf den Kleinbühnen individueller Meinungsbildung ein geregelter und friedlicher Diskurs, bei dem sich schließlich die besseren Sachargumente durchsetzen. Tatsächlich ist die Zuspitzung, die Verhärtung und Radikalisierung einzelner Sichtweisen der Fall mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, weil wir im gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungszustand noch nicht über adäquate Regulationsmechanismen verfügen, die zwischen politischem Konsens (Zugehörigkeitserfahrung) und Dissens (Abgrenzungsbedürfnis) vermitteln. Daher brauchen wir die Kunst, insbesondere die soziale Sphäre des ästhetischen Diskurses.

Was heißt das? Der ästhetische Diskurs unterscheidet sich tatsächlich ein wenig von anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wenn wir Kunstwerke betrachten, genießen, deuten und uns eine Meinung bilden, dann folgen daraus keine existentiellen Entscheidungen. Das hat keinen Einfluss auf die Verabschiedung von Gesetzen, von öffentlichen oder privaten Finanzhaushalten oder dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen. Die Kunst betrifft jeden einzelnen Menschen zunächst ganz allein in seinen Wahrnehmungen, Empfindungen und Welturteilen. Wenn wir über ästhetische Fragen in einen Meinungsaustausch treten, dann tun wir dies also entlastet von allen existentiellen Entscheidungen. Wir können, aber wir müssen nicht aus einer Kunsterfahrung einen sofortigen Handlungsvollzug ableiten. Daher bietet ein ästhetischer Meinungsaustausch die Chance, neben den zumeist gewünschten Kohärenzerfahrungen auch Differenzerfahrungen bewusst zu erleben. Wir können in der Kontroverse über Geschmacksfragen und Werkdeutungen durch andere Meinungen unser eigenes Weltbild irritieren lassen, wir können unsere Weltvorstellungen durch fremde Sichtweise erweitern. Da ist vielleicht das Schwärmen des oben beschriebenen funktionalen und technischen Rezeptionstyps über die handwerkliche Raffinesse von Malerei eine Bereicherung unserer eigenen begrenzten Wahrnehmungen; da wird unser Blick auf ein Werk durch das Wissen des philosophischen Typs enorm bereichert; oder wir kommen in Resonanz mit oder auch in Distanz gegenüber den durch ein Werk ausgelösten Empfindungen des emotionalen Typs eines anderen Menschen. So erhalten wir im Meinungsaustausch über Kunstwerke eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit der kollektiven Intelligenz und erleben unsere eigene ästhetische Sichtweise als Bestandteil des mentalen Erfahrungsraums unserer Kultur.

Vielleicht sehen wir uns aber durch ablehnende Meinungen anderer Menschen in Bezug auf ein Kunstwerk auch herausgefordert, dieses Werk zu verteidigen und dabei unsere eigene Position, unser eigenes Geschmacksurteil zu formulieren und zu begründen. In dieser Weise plädiert man nicht nur für die Freiheit der Kunst, sondern demonstriert auch seine eigene Souveränität. Dazu gehört, ob im intimen Freundeskreis oder in einer öffentlichen Runde, vor allem Mut. Das erfordert die Fähigkeit zur Abgrenzung, das ist ein Akt produktiver Aggression, den man im Laufe der biografischen Entwicklung auch erlernt haben muss. Genauso wie es ein Lernprozess ist, das ästhetische Urteil so zu formulieren, dass es andere nicht brüskiert, verletzt und diskreditiert.

Der ästhetische Diskurs besitzt aus Sicht des einzelnen Menschen also einen Außenbezug, der die kollektive Einbindung des Einzelnen ermöglicht, mit der seine individuelle Gesellschaftsfähigkeit praktiziert wird. Es gibt daneben auch einen Innenbezug, eine introspektive Dimension. Im ästhetischen Diskurs können wir nämlich außerdem beobachten, wie unser eigenes Abgrenzungsbedürfnis entsteht, auf welchen weltanschaulichen Voraussetzungen, welchen Gesinnungen und Vorurteilen es gründet. Das heißt, im Spiegel der anderen Meinung sehen wir uns selbst klarer.

Fasst man diese äußere und innere Dimension der ästhetischen Urteilsbildung zusammen, so ist die Kunst, wie das Friedrich Schiller bereits in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung der Menschen“ (1795) beschrieben hat, ein „Übungsgelände der Freiheit“. Also eine Art gesellschaftliche Schutzzone, in der sowohl freie Meinungsäußerung als auch Meinungstoleranz geübt werden können. Aus soziologischer Sicht ist die Kunst folglich ein pädagogischer Raum ohne Lehrautorität, in dem wir als Menschen auf uns selbst gestellt sind, um in Paaren oder Gruppen Beziehungen mit Kohärenz- und Differenzerfahrungen zu praktizieren, wo wir diskursive Wege finden können, um mit Frustrationen, Ängsten und Aggressionen im Meinungsaustausch umgehen zu lernen. Vorausgesetzt, man greift nicht mit konsumistischem Reflex auf eines der professionellen Vermittlungsangebote von Museen zurück, ist der Kunstdiskurs einer der wenigen Räume pädagogischer Selbstorganisation im Erwachsenenleben, in dem wir uns um unsere individuelle soziale Entwicklung kümmern können. Hier bietet sich die Chance zu lernen, den Schrecken vor dem Fremden zu verlieren und Einsichten in unsere eigene psychische und kollektive Disposition zu erlangen. Hier kann es im Diskurs um Selbst- und um Fremderforschung gehen.

Daher ist es jedem Menschen zu empfehlen, seine persönlichen Erlebnisse mit Kunstwerken (Musik, Filme, Literatur, bildende Kunst) mit anderen auszutauschen und gegebenenfalls auch in Streit zu geraten, um die individuelle ästhetische Erfahrung auch in eine lebendige soziale Beziehung zu verwandeln. So ist es möglich, sich als einzelner in der Gemeinschaft zu entwickeln.

 

Über den Autur

Penzel Joachim

Dr. phil. Joachim Penzel: Kunstpädagoge, Kunstwissenschaftler und Ausstellungskurator; Bereichsleiter für das Fach Kunst/Gestalten an Grund- und Förderschulen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Referent am Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt [Lisa] in den berufsbegleitenden Studiengängen Kunst und den Wahlpflichtkurs „Kultur und Künste“ für Sekundarschulen

Joachim Penzel beschreitet einen labyrinthischen Lebensweg, der sich erst in der Rückschau zur Einheit schließt. Nach dem Studium in den gestalterischen Bereichen Industriedesign und Malerei/Grafik schlossen sich theoretische Fächer wie Kunstwissenschaft, Geschichte und Soziologie an. Nach einer Arbeitsphase als freier Kurator für Kunstmuseen folgte eine Zeit der kulturwissenschaftlichen Forschung mit Promotion. Die künstlerische Projektarbeit in verschiedenen Schulen eröffnete den Einstieg in die Ausbildung von Lehrenden der Fächer Kunst und Gestalten zunächst an der Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein, danach an der Bauhaus Universität Weimar und aktuell an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Während einer Ausbildung in der Geomantie bei Dr. Gregor Arzt auf dem Undinenhof in Barnewitz Märkisch Luch wurde eine fundamentale Identitätskrise ausgelöst. Die in der schamanistischen Meditation erlebte Verbindung mit der Vielfalt der geistigen Welt war mit dem rationalen Weltbild eines Kunstwissenschaftlers und Kunstpädagogen nicht vereinbar. Als dadurch wieder einmal die Frage einer beruflichen Neuorientierung anstand, schenkte ihm ein Kunststudent Ken Wilbers „Eros. Kosmos. Logos“ mit dem Hinweis, dass sich damit jede Krise lösen lässt. Mit der Lektüre stellte sich zum ersten Mal das Gefühl ein, ein ganzer Mensch zu sein, der die Möglichkeiten seines irdischen Daseins erkennt.

Dieser integrale Impuls änderte die berufliche Arbeitsweise. Ab dem Jahr 2014 begann der Aufbau der Internetseite www.integrale-kunstpaedagogik.de, in der das ganzheitliche Denken die Grundlage bildet, die Fachlandschaft der Kunstpädagogik zu ordnen. Nach vielen äußeren Widerständen hat sich diese Webseite, an der mittlerweile ca. 100 Lehrende, Kunstschaffende und Studierende mitwirken, zur meistgenutzten kunstpädagogischen Fachplattform im deutschsprachigen Raum entwickelt. Hier erhalten Studierende eine Orientierung in den theoretischen Grundlagen, Lehrende in den Schulen praktische Unterrichtsanregungen und alle Kunstbegeisterten Impulse für die eigene ästhetische Entwicklung.

 

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