Armin Sieber ist der formale Schulleiter der Integralen Tagesschule Winterthur (ITW). Dort ist er nicht nur für ein Team von Mitarbeitenden verantwortlich, sondern auch für Schülerinnen und Schüler (SuS), die in vielen Fällen ihr Potenzial in der öffentlichen Schule nicht entfalten konnten. Er persönlich sieht sich jedoch nicht mehr als Schulleiter. Weshalb das so ist, erklärt er uns in diesem Interview. Zudem erfahren wir, wie er mit dem Lehrer/innen-Team und den SuS integrale Führung im Alltag umsetzt und welche Strukturen sich dafür als nützlich erwiesen haben.
Weil er als junger Mann unbedingt seinen eigenen Weg gehen und finanziell unabhängig sein wollte, fand Armin Sieber – vermeintlich nur als Übergangslösung – zum Lehrerberuf. Seine Begeisterung für Musik hat den Ausschlag gegeben, dass er sich an der musisch-kreativen Oberstufenschule in Winterthur beworben hat. Er war massgeblich an der Entstehung der integralen und soziokratischen Strukturen an der ITW beteiligt. Noch heute fungiert er „zumindest auf dem Papier“ als Schulleiter. Bevorzugt benutzt er den Begriff: Mitglied des Führungskreises. Auch ausserhalb der Schule engagiert er sich laufend dafür, sich selber und andere in integralen Themen weiterzubilden und Menschen sowie Projekte zu vernetzen.
Tanja Sieger: Lieber Armin, du arbeitest an einer aussergewöhnlichen Schule. Was ist deiner Meinung nach das Essenzielle an eurer Bildungsinstitution?
Armin Sieber: Die ITW ist eine Oberstufenschule, die keine Jahrgangsklassen, sondern kleine durchmischte Lernteams kennt. Sie ist soziokratisch organisiert und verzichtet auf Führungshierarchien. An deren Stelle treten unterschiedliche Kreise, wobei jeder eine unterschiedliche Funktion im Betrieb der Schule einnimmt. Es gibt unter anderem einen Führungskreis, eine «Solution League» der SuS und einen Lehrer/innen-Team-Kreis, aber auch Kreise, in welchen SuS, Lehrpersonen und Eltern gemeinsam vertreten sind. Alle diese Kreise sind gut untereinander vernetzt, um einen konstanten Informationsfluss und Handlungswirksamkeit zu gewährleisten. Alle Beteiligten haben so die Möglichkeit ihre Schule aktiv mitzugestalten und sind motiviert, konkret zum Gelingen beizutragen.
Wir nutzen neben dem integralen Ansatz (insbesondere Spiraldynamics) verschiedene andere strukturelle, psychologische und soziale Methoden und pflegen eine aktive Dialogkultur. Zudem suchen wir kontinuierlich nach Wegen, wie wir unser Wirken noch konkreter an den Bedürfnissen der involvierten Personen orientieren können. Die damit verbundene Dynamik macht die ITW für Mitarbeitende, wie auch für SuS, zu einem speziellen Ort: zu einem ganzheitlichen Lern- und Entwicklungsort. Persönliches Coaching ist bei uns ein fester Bestandteil, sowohl für SuS wie auch für die Erwachsenen. Dadurch gelingt es, selbst bei belasteten Schulbiografien junge Menschen kraftvoll zu unterstützen und gleichzeitig den Ressourcen der Erwachsenen Sorge zu tragen. Eine wichtige Grundlage dazu haben wir in der systemisch-lösungsorientierten Haltung gefunden.
Tanja Sieger: Ihr nutzt einen recht breiten und ungewöhnlichen Mix an Prozessen und Methoden. Wie kompatibel sind sie?
Armin Sieber: Wir erleben sie als wechselseitig ergänzend und kompatibel, wenn man eine gewisse Offenheit und Flexibilität mitbringt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nicht allen gleich leicht fällt in dieser Vielfalt Identität und Orientierung zu finden. Die Menge an Methoden bringt es auch mit sich, dass eine eindeutige Zuordnung schwerfällt. Das kann Irritationen auslösen. Die Verbindung von Lösungsorientierung und gewaltfreier Kommunikation (GfK) war in gutem Mass resonanzfähig. Bei einem Workshop, der eine Kombination von Spiraldynamics und GfK abdeckt, kann es jedoch vorkommen, dass ein Teil der Teilnehmenden kraftvoll Widerstand äussert. Einige denken beispielsweise, dass durch Spiraldynamics Menschen bewertet und in farbige Schubladen gesteckt werden sollen. Dabei versuchen wir lediglich beim Verständnis zu helfen, was es braucht, damit die Bedürfnisse, die uns verbinden, wirksam adressiert werden können. Wir werden daher weiterhin verständnis- und verbindungstärkende Ansätze suchen und ausprobieren, um unser Portfolio mit dem, was in unserem Kontext hilfreich ist, zu ergänzen.
Tanja Sieger: Kannst du deinen Führungsstil in wenigen Worten beschreiben?
Armin Sieber: Ich würde wohl «adaptiv autonomisierend» wählen. Das heisst, aus der Grundhaltung der «Gleichwürdigkeit» aller Menschen versuche ich Ansätze, Werkzeuge und Prozesse zu finden, die zunehmend alle Beteiligten in eine zukunftsorientierte Handlungsfreiheit führen. Dabei haben sich Elemente zur verstärkten Selbstreflektion als bedeutsam und hilfreich erwiesen. Ein Instrument, welches wir dazu nutzen, ist der Selbstkompetenzraster. Er hilft aktuelle Entwicklungen sichtbar zu machen. Zudem können anstehende Schritte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und zieldienliche Ressourcenfragen geklärt werden.
Tanja Sieger: Kannst du mehr über die Kompetenzraster erzählen?
Armin Sieber: Kompetenzraster sind Einschätzungsraster, die Lernenden und Lehrpersonen Klarheit und Orientierung geben, was SuS bereits können und was sie noch alles lernen könnten.
Das vielleicht bekannteste Beispiel dazu ist das Europäische Sprachenportfolio (ESP). Das ESP bietet einen Referenzrahmen für den Erwerb einer Fremdsprache durch gestufte, spezifische Kompetenzbeschreibungen (A1-C2). Diesen Zugang wenden wir in der ITW seit 20 Jahren in allen Fachbereichen an. Diese Raster geben einen klaren Lernhorizont und ermöglichen Orientierung und Sicherheit. Das ist gerade bei den sehr individuellen Lernwegen unserer SuS und der gleichzeitigen Ausrichtung auf den offiziellen Lehrplan21 von zentraler Bedeutung.
Der Selbstkompetenzraster ist im Coachingprozess der ITW ein wichtiges Instrument und zeigt soziale und organisatorische Kompetenzen eines SuS auf. Dabei ist jede Kompetenzstufe an gewisse Privilegien gekoppelt. Konkret bedeutet das, dass z.B. ein limitierter Zugang zu Handy und Internet verordnet wird. Wenn auf der anderen Seite die Selbstverantwortung sichtbar gelingt, kann ein SuS durchaus auch ganze Tage von zu Hause aus lernen. Zu dieser Massnahme sind wir gekommen, weil wir gesehen haben, dass viele Ablenkungsmöglichkeiten oft die Wirksamkeit, Verlässlichkeit und Eigenverantwortung hindern. Dann ist eine Reduktion der Optionen zwar nicht angenehm, aber vielfach auch aus Sicht der SuS unterstützend. Die entsprechenden Privilegien spiegeln daher die aus unserer Sicht hilfreichen Rahmenaspekte, welche aktuell eine wirksame Entwicklung fördern.
So erleben wir das Selbstkompetenzraster als Hilfsmittel, um die intrinsische Entwicklungskraft zu stärken. Zudem fällt es den SuS damit leichter, transparente und nachvollziehbare Konsequenzen als demütigungsfreien Lernanlass zu verstehen. Dadurch, dass sich die SuS regelmässig selber evaluieren und ihre Einschätzung mit den Perspektiven von Coach, Lehrpersonen und Mitschüler/innen abgleichen, wird das Selbstbild verfeinert und gestärkt. Dieser Prozess ist im Altersbereich unserer SuS anspruchsvoll und bedeutsam zugleich.
Den Kompetenzraster mit Privilegien zu verbinden, ist uns – oder vor allem mir – nicht leichtgefallen. Aber die Erfahrung zeigt, dass wir unseren SuS mit ihren Bedürfnissen so besser gerecht werden.
Tanja Sieger: Hat es ein Erlebnis gegeben, das dich in der Überzeugung, dass es Selbstkompetenzraster braucht, geprägt hat?
Armin Sieber: Als wir die ITW umgebaut haben, hat ein Zusammenspiel einiger SuS fast dazu geführt, dass der frisch geölte Holzboden und damit schlussendlich das Haus in Flammen aufgegangen wäre. Wir hatten riesiges Glück und konnten rechtzeitig intervenieren. Doch das war ein massiver Tiefpunkt, an dem ich mir ausgemalt habe, was noch alles hätte passieren können. Das war ein Moment, der nachhaltig deutlich gemacht hat, dass wir in der Arbeit mit Pubertierenden neben den Freiheiten auch den sicheren Rahmen beachten müssen.
Die Erschütterung war damals bei uns allen so gross, dass wir die Schule für drei Tage geschlossen haben. Alle mussten zu Hause bleiben. Zum Wiedereinstieg haben wir mit einer erfahrenen, lösungsorientierten Mediatorin alle Eltern, SuS und Mitarbeitenden zu einem Klärungsprozess einberufen. Zusammen haben wir uns gefragt, was wir tun können, damit wir die Sicherheit haben, die wir brauchen. Dabei wurde sichtbar, welche Verantwortung jede und jeder Einzelne dabei zu tragen hat. Nach diesem intensiven Prozess zeichnete sich eine neue Realität ab und es wurde eine tiefere Verbindlichkeit spürbar.
Tanja Sieger: Was ist das Grundlegende, was du daraus gelernt hast?
Armin Sieber: Mir wurde bewusst: Junge Menschen, die in ihrer Entwicklung in einer Phase von mutigem und bedenkenlosem Ausprobieren sind, brauchen einen klar definierten und verlässlichen Rahmen. Zudem benötigen sie Erwachsene, die bereit sind, diesen auch kraftvoll einzufordern. Nicht, weil es um Macht geht – sondern, weil es ihnen Halt gibt. Wir Lehrpersonen sind dafür da, diesen Rahmen zu definieren und zu halten, damit sich junge Menschen bestmöglich entwickeln können und irreversible Schädigungen sicher vermieden werden.
Wir haben daher angefangen mehr verbindliche Strukturen zu implementieren und führen regelmässig Team-Weiterbildungen zu diesem Thema durch. Das ist gerade deshalb so elementar, weil das kraftvoll Konsequenzen einfordernde Verhalten vielen Lehrpersonen nicht leicht fällt – gerade in einer Schule wie der ITW.
Beim Umsetzen dieser Strukturen und Massnahmen achten wir bestmöglich darauf, dass sie bezogen auf spezifische Entscheidungen und Handlungen erfolgen und nicht den Menschen als Ganzes betreffen oder gar abwerten. Der Selbstkompetenzraster hilft uns beim Sichtbarmachen und Kommunizieren des besagten Rahmens.
Tanja Sieger: Die SuS lernen also sukzessive sich selber zu organisieren, zu motivieren und zu evaluieren?
Armin Sieber: Genau. An der ITW gehen wir davon aus, dass Menschen grundsätzlich neugierige Wesen und dementsprechend intrinsisch motiviert sind. Wir alle haben einen kraftvollen, inneren Antrieb, unser Verständnis der Welt und unsere Fähigkeiten zu erweitern. Damit SuS diese Kraft schulisch oder in anderen Bereichen effizient umsetzen können, brauchen sie Zugang zu einer inneren Wachstumsstufe, die mindestens von selbständigem Erfolgsdenken (oranges wMeme) angetrieben wird. Ansonsten sind sie auf Handlungsanweisungen und Orientierung von aussen angewiesen, da sie mit den vielen Wahlmöglichkeiten und Freiheiten überfordert sind. Diese Form der Anleitung – und je nach Situation auch der gemeinsam vereinbarten Konsequenzen – halten wir jedoch nur so lange aufrecht, bis sich die innere Lern- und Entwicklungskraft stark genug manifestiert. Unterstützend sind dabei auch die bereits erwähnten Privilegien im Selbstkompetenzraster.
Tanja Sieger: Gibt es ein Beispiel, woran du siehst, dass eure Methoden Wirkung erzielen?
Armin Sieber: Das kann man zum Beispiel im Bereich der wirksamen Kommunikation sehen. Wir führen z.B. Wochen durch, in welchen die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) im Fokus steht. Wenn dann Eltern zu uns kommen und sagen: „Unser Sohn spricht zuhause ganz anders. Können wir das auch lernen?“, dann scheint uns das eine wunderbare Ausstrahlung und eine ideale Gelegenheit, das gemeinsame Lernen mit den Eltern in die Tat umzusetzen. In einem Beispiel wollte der Sohn abends ausgehen. Auf das Verbot der Eltern meinte er: „Was genau braucht ihr, damit ihr mir genug vertraut, um mich weggehen zu lassen, und es für uns alle stimmt?“
Tanja Sieger: Ein Zusammenwirken, wie du es beschreibst, setzt auch viel Flexibilität und Vertrauen voraus. Wie lebst du diese Qualitäten?
Armin Sieber: Das hat mit meiner Entdeckungslust und der Freude am gemeinsamen Gestalten von Wachstums- und Entwicklungsräumen zu tun. Wichtig ist mir hierbei, welche Bedeutung wir Fehlern geben. Mir hilft die Einstellung, dass es keine Fehler gibt, sondern nur Erfahrungen, die einem bestätigen, dass man das nächste Mal genau gleich entscheiden kann oder etwas Neues ausprobiert. Diese erfahrungsförderliche Grundhaltung tut mir selbst gut, und ich glaube daran, dass sie anderen Menschen auch guttut.
Und was das Vertrauen angeht: Als Führungsperson hatte ich in den vielen Jahren eine einzige Situation, in der meine grundlegend offene und vertrauensvolle Art der Begegnung missbraucht wurde. Das war ein schwieriger Moment, der mich viel Energie gekostet und eine Weile lang Furchen hinterlassen hat. Gleichzeitig weiss ich seither, dass all meine intakten Vertrauensverhältnisse zu selbstverständlich für mich wären, wenn ich das nicht erlebt hätte. Ich habe realisiert, wie wichtig es mir ist, mit Menschen zusammenarbeiten zu können, mit denen dieses gegenseitige Vertrauen funktioniert. Das erlebe ich als ausserordentliches Privileg!
Tanja Sieger: Hatte das Konsequenzen auf die Art, wie du die Organisation dann strukturiert hast?
Armin Sieber: Nein. Ich sehe keinen Grund, die Fundamente unserer Schule wegen eines derartigen Ausnahmeerlebnisses in Frage zu stellen. Vielleicht bin ich einfach sensibler geworden beim Erkennen, welche persönlichen Notsituationen dazu führen können, dass Vertrauen missbraucht wird.
Tanja Sieger: Wie gehst du damit um, wenn ein SuS oder eine Mitarbeiter/in starke Emotionen wie z.B. Ohnmacht, Wut oder Traurigkeit zeigt und deshalb weder klar denkend noch handlungsfähig ist?
Armin Sieber: Vielfach geht es als Erstes darum, sich mit diesem Menschen empathisch zu verbinden und wertungsfrei anzuerkennen, was gerade da ist: Eine wirklich schwierige, schmerzvolle Situation für diese Person. Oft ist diese Form der einfühlsamen Präsenz auch ohne Worte hilfreich genug. Da zu sein reicht.
Wenn der überwältigende Gefühlsanteil etwas in den Hintergrund treten konnte, fokussieren wir auf die Frage, welches unerfüllte Bedürfnis sich so intensiv manifestiert, dass Traurigkeit, Ohnmachtsempfinden oder Wut die Oberhand bekommen. Dann schauen wir uns dieses unerfüllte Bedürfnis und die damit verbundene Kraft an. Denn es ist eine Kraft. Sie ist einfach im Moment (noch) nicht in wünschenswerter Art wirksam. Nur schon das Anerkennen des ursprünglichen Bedürfnisses ist elementar. Anschliessend suchen wir gemeinsam nach Alternativen: Welche anderen Möglichkeiten ausser traurig oder wütend werden, könnten dem Anliegen auf hilfreiche(re) Weise Rechnung tragen? Auf solch schwierige Fragen kommt bei Jugendlichen oftmals ein wortloses Achselzucken. Dies lässt sich oft mit folgender lösungsorientierten Einladung beheben: „Angenommen, du tust einfach so, als ob du eine Antwort geben könntest – was würdest du dann sagen?“. Das Wichtigste ist es auf alle Fälle, erlebbar zu machen, dass wir da sind und nicht aufgeben.
Tanja Sieger: Muss das integrale Weltbild in einem Menschen, der an der ITW arbeiten möchte, schon vorhanden sein?
Armin Sieber: Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass das, was mit dem integralen Weltbild beschrieben wird, in uns allen angelegt ist. Es ist eine mehr oder weniger bewusste Sehnsucht, die in uns steckt. Dazu muss man keine integralen Theorien kennen. Wenn wir mit Menschen von ausserhalb arbeiten, geben wir nicht integrales Wissen als solches weiter, sondern nehmen diese Sehnsucht ernst. Und wir stellen dieser Sehnsucht eine Kraft gegenüber, die zeigt: Du kannst wirksam sein mit dem, was in dir steckt, und Wege finden, wie du zur ersehnten Entwicklung beitragen kannst.
Die wichtigste Grundvoraussetzung für Menschen, die an der ITW arbeiten möchten, sehen wir darin, dass sie gwundrig[1] sind auf die eigene Entwicklung. Das ist der Schlüssel. Und zudem braucht es ein Minimum an freiem Horizont, der aufgehen kann.
Tanja Sieger: Wie führt ihr euch im Team in Bezug auf eine gesunde Balance zwischen Individual- und Kollektivbedürfnissen?
Armin Sieber: Wir arbeiten in unserem Team aussergewöhnlich nahe zusammen und haben oft Gespräche, in denen wir sehr transparent teilen, wo wir gerade stehen und wie es uns wirklich geht. Wenn man einen solch aktiven Austausch pflegt und jede Woche auf authentische Art wahrnimmt, wie jede und jeder Einzelne von uns und wir als ganzes Team unterwegs sind, dann tritt die Frage in den Hintergrund, was die individuellen und was die kollektiven Bedürfnisse sind. Genauso verhält es sich auch mit der Frage, wer jetzt wen führt.
Ein Beispiel für ein Hilfsmittel in diesem Bereich ist der Ressourcenbarometer. Wenn ein Teammitglied aus irgendwelchen Gründen – seien dies nun persönliche, gesundheitliche oder berufliche – tiefe Ressourcenkapazität hat, dann kann er/sie das über den Barometer dem Team mitteilen. Wer immer wahrnimmt, dass ein Unterstützungsbedarf da ist, ist eingeladen, die Initiative für Supportangebot aktiv zu übernehmen. Somit wird Druck von demjenigen Menschen genommen, der vielleicht im Moment nicht die erforderliche Kraft spürt, und die Verantwortung wird in die Gemeinschaft gegeben. Dazu braucht es weder Erklärungen noch Rechtfertigungen. Wir haben alle unsere Hochs und Tiefs und dürfen darin gesehen und gehalten werden. So leben wir, was wir mit den SuS umsetzen wollen und gleichzeitig stärkt dies die Resilienz unseres Teams.
Generell sind wir aufmerksam darauf, was es in einer entsprechenden Situation gerade braucht. Wir pflegen also eine kollektive Achtsamkeit.
Tanja Sieger: Macht ihr euer Wissen auch über die ITW hinaus zugänglich?
Armin Sieber: Ja – in all diesen Jahren war es nie unser Ziel, eine Insel zu bauen. Vielmehr wollen wir Erfahrungen sammeln und diese mit anderen teilen. So möchten wir es anderen Menschen ermöglichen, auf ihre Art und in ihrem Kontext Varianten zu entwickeln, die für sie Sinn machen und hilfreich sind.
Wir bieten Weiterbildungen, Kommunikationstrainings oder Organisationsberatungen an, was von Teams öffentlicher Schulen und anderen interessierten Organisationen wie zum Beispiel der Klimastreik-Bewegung oder der Integralen Politik Schweiz genutzt wird. Eine ganz besondere Aufgabe ist es für uns, seit mehreren Jahren bei integralen Schulentwicklungsprojekten in der Ukraine mitzuwirken. Es ist eindrücklich, dass die kleine Schule ITW Strahlkraft genug hat, auch aus grosser Distanz wahrgenommen zu werden. Das mag auch daran liegen, dass wir verschiedene Artikel zu unserem Wirken schreiben durften. Die Vernetzung, die heute weltweit auf einfache Art möglich ist, hat sicher dazu beigetragen. Eine weitere Art, wie wir unser Wissen teilen, ist durch unsere ehemaligen Mitarbeiter/innen. Diese bringen an Regelschulen, an pädagogischen Hochschulen oder als selbstständige Trainer/innen das an der ITW Erworbene in ihrem neuen Wirkungsfeld ein.
Grundsätzlich stellen wir unsere Instrumente und Prozessbeschreibungen als Open Source öffentlich zur Verfügung. Wir hoffen so auch einen Beitrag leisten zu können, damit andere Schulen der wachsenden Komplexität besser begegnen können.
Tanja Sieger: Wie führst du dich selber?
Armin Sieber: Ich habe gelernt auf meine Bedürfnisse zu achten und meinen Wunsch nach Entwicklung immer wieder ernst zu nehmen. Zudem habe ich eine Grundhaltung von «Gwundrig-Sein» aufs Leben, auf mich selber und auf das, was mit anderen entstehen kann. Und auch der Mut zum Improvisieren tut mir immer wieder gut.
Zudem habe ich einfach entschieden, dass ich dort beitrage, wo die Resonanzräume so sind, dass ich nicht irgendwo gegen etwas antreten muss – dort, wo es bestärkend in die Offenheit und in die Befähigung geht. Das erlebe ich als ressourcenschonend.
So führe ich mich immer mehr in Felder, in denen ich beitragen kann, was mir gut liegt und was mich gleichzeitig bereichert, wie z.B. an der ITW. Das ist ein höchst privilegierter Ort. Hier bekommt man alle 15 Minuten eine «Trainings-Einladung», um etwas auszuprobieren oder zu festigen, in einem ganz relevant menschlichen Bereich. Ich bin sehr dankbar dafür, Teil einer solchen Organisation zu sein und dabei mitwirken zu können, dass sie das ist, was sie heute ist. Das auch immer wieder anzuerkennen ist wohltuend. Denn hier liegt ja mein Herzensanliegen: Voraussetzungen zu schaffen, dass junge Menschen ihre Entwicklung bewusst in die Hand nehmen und über sich selbst hinauswachsen können. Und mir auch immer wieder selber einzugestehen, dass das auch in etwas fortgeschrittenem Alter noch möglich ist!
Als Ausgleich zur Schule brauche ich meine persönlichen Räume, wo ich weiss: Hier kann ich mein Ressourcenreservoir füllen. Das erlebe ich z.B. in der Partnerschaft, im wunderbaren Kontakt mit unseren Enkelkindern, mit meinen Mitmusiker/innen, alleine mit meinem Cello, wenn ich Bücher lese, Neues entdecke und ausprobiere oder an Konferenzen gehe.
Ferner schätze ich es ausserordentlich, wenn es gelingt, Flow-Momenten im Alltag Raum zu geben. Dieser Flow entsteht dort, wo die Herausforderungen und die Verbundenheit mit meinen eigenen Ressourcen in einer Balance sind. Das ist für mich eine Quelle für Regeneration und Kreativität.
Tanja Sieger: Was ist das Wichtigste, das du an der ITW bezüglich dem Thema Bildung gelernt hast?
Armin Sieber: Vielleicht ist es die Einsicht und der Glaube daran, dass Bildung einer der bedeutsamsten Orte ist, wo wir die für die Zukunft relevanten Veränderungen vorbereiten und ko-kreieren können. Das erscheint mir wichtig, weil es ein gesellschaftlicher Bereich ist, wo der individuelle und kollektive Leidensdruck enorm hoch ist.
Tanja Sieger: Welche deiner Qualitäten sind der integralen Führung der ITW besonders förderlich?
Armin Sieber: Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch Experte für sein eigenes Leben sein kann. Als Lehrer und Führungskreismitglied sehe ich mich dafür verantwortlich, Prozesse der Selbstentwicklung bestmöglich und nur wo nötig zu unterstützen. Wir wählen dazu intern den Begriff der «adaptiv intelligenten Führungskompetenz». Das passt auch zu meinem Motto: Der beste Lehrer oder Schulleiter ist der, welcher sich selbst überflüssig macht.
Tanja Sieger: Wie siehst du die Zukunft von integralen Führungsmodellen in unserer Gesellschaft?
Armin Sieber: Ich bin gespannt, was kommt! Vor 15 Jahren, als ich mit den Konzepten von Spiraldynamics und einer integralen Weltsicht nach aussen getreten bin, habe ich teilweise Reaktionen erlebt, die gut zu einer Begegnung mit Ausserirdischen passen würden. Heute sind das Bewusstsein und die Dringlichkeit gewachsen, dass wir neue Denkansätze brauchen. Zudem leben wir in einer sich beschleunigenden Zeit, und die Geschwindigkeit, mit der sich Werte wandeln, scheint fast physisch greifbar. All das führt dazu, dass wir aktuell deutlich mehr Resonanz beim Teilen unserer Ansätze erleben. Innerhalb einer halben Generation hat sich also bereits Fundamentales zu verändern begonnen. Und das auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens. Ich bin zuversichtlich.
Armin strahlt selbst nach vier Stunden intensivem Gespräch noch dieselbe natürliche Ausgeglichenheit aus wie zu Beginn. Sein wohlwollender Blick und seine humorvolle, offene und teilweise angenehm selbstironische Art kreiert eine wohltuend entspannte Atmosphäre. Er wirkt glücklich. Selber würde er wohl sagen: im Flow.
Endnote
[1] schweizerisch für positiv neugierig [Wortherkunft: Wunder sehen]
Hintergründe zur ITW
Die Integrale Tagesschule Winterthur ist eine staatlich anerkannte, privat getragene Oberstufenschule und arbeitet nach dem Lehrplan21. Sie bietet rund 32 SuS in drei alters- und leistungsdurchmischten Teams einen Lern- und Entwicklungsort. Zwei Lehrpersonen tragen gemeinsam die Hauptverantwortung für ein Lernteam und decken auch den Hauptteil der Einzelcoachings der SuS ab. Insgesamt 20 Mitarbeitende sind hier beschäftigt, von welchen niemand mehr als 80 Stellenprozente arbeiten darf. Ob Lehrkraft, Reinigungspersonal oder Mitglied des Führungskreises – an der ITW verdienen alle gleich viel: den Basisfunktionslohn. Auf Anfrage des Führungskreises, ob sich die Mitarbeitenden von diesem Lohnmodell lösen wollen, kam ein klares Nein.
Zurzeit werden an der ITW folgende Methoden für die Schulgestaltung genutzt:
- Soziokratie S3.0
- Gewaltfreie Kommunikation (GfK) – Marshall B. Rosenberg
- Restorative Justice Circles – Dominic Barter
- Spiraldynamics – Don Beck & Chris Cowan
- Integraler Ansatz – Ken Wilber
- Systemisch-lösungsorientierter Ansatz – Steve de Shazer und Insoo Kim Berg
- Growth Mindset – Carol Dweck
- Flowteam Methode – Martin Gerber
- Neue Autorität – Haim Omer
Doch vielleicht ist das schon wieder anders, wenn Du diese Zeilen liest. Denn eins ist sicher: An der ITW ist nichts statisch und in Stein gemeisselt. Dieses Schulmodell lebt davon, dass es dynamisch mit den Menschen und dem Leben fliesst.
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