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Liebe Leserinnen und Leser der Integralen Perspektiven,

wir freuen uns das Neue Jahr mit dieser Sonderausgabe über den Kulturphilosophen Jean Gebser in Zusammenarbeit mit der Gebser Gesellschaft Bern vorzustellen.

Jean Gebser war ein deutsch-schweizerischer Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer. Er gilt als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforscher, die ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert haben. Geboren am 20. August 1905 in Posen als Hans Karl Rudolf Hermann Gebser starb er am 14. Mai 1973 im Alter von 68 Jahren in Bern.

«Ursprung und Gegenwart»

Jean Gebser hat in seinem Hauptwerk einen wesentlichen Beitrag zur Bewusstseinsphänomenologie geleistet. Er hat bereits in den 50er Jahren des 20. Jh. darauf hingewiesen, dass unsere Epoche eine Übergangsepoche ist, vergleichbar etwa mit der Übergangszeit um 600 v.Chr., als in Griechenland (parallel dazu in Indien und China) der Mensch den Schritt vom Mythos zum Logos zu leisten hatte.

Damals fand der Wechsel statt vom bildhaften zum begrifflichen Denken. Der Mensch erwachte aus der Schicksalsabhängigkeit, der Abhängigkeit von den Göttern, der Abhängigkeit von einer Mythengemeinschaft zur möglichen individuellen Freiheit, zum Willen, das Leben selber bestimmen und verantworten zu können. Es waren zunächst nur einige Pioniere des neuen, des mentalen Bewusstseins: Heraklit, Parmenides, Sokrates, Platon, die den Schritt in die mentale Klarheit geleistet haben. In Wellen hat dieses mentale Bewusstsein sich Bahn gebrochen: Die Renaissance um 1500, die Reformation, die Aufklärung des 18. Jh. sind wesentliche Einschnitte, besser Wellenberge in diesem nicht-linearen Prozess.

Wo stehen wir heute?

Heute ist das damals neue mental-rationale Bewusstsein – in Europa wenigstens und in Europas Nachfolgekulturen – das wirklichkeitsbestimmende Bewusstsein geworden, es hat sich in 2500 Jahren konsolidiert, es ist etabliert und stellt nun eine Möglichkeit dar, über die Menschen verfügen können (nicht notwendigerweise verfügen). Heute geht es um einen neuen Wandlungsprozess: Das mentale Bewusstsein wird durchbrochen und ergänzt von dem, was Gebser das integrale, aperspektivische oder akategoriale Bewusstsein nennt.

Dies sind bei Gebser zentrale, z.T. eigens von ihm geprägte Begriffe, Neologismen, die Gebser einsetzt, um eine neue Bewusstseinsmöglichkeit zu beschreiben und die er klar abgrenzt gegen das Nicht-Kategoriale, das Unperspektivische, das Irrationale. Die Vorsilbe a- im Unterschied zu den anderen negierenden Vorsilben soll darauf hinweisen, dass ein Freisein von einem eingeschränkten Wirklichkeits- und Wahrnehmungsbereich gemeint ist, eine Erweiterung des Spektrums und nicht die Verneinung einer erworbenen Möglichkeit des Bewusstseins.

Damit ist eine wichtige Unterscheidung Gebsers eingeführt: Er unterscheidet «prae und post», eine Welt des Bewusstseins vor dem Entstehen des mental-rationalen Bewusstseins und eine Welt, die über das Rationale hinausführt.

Am Wendepunkt 

Wir befinden uns nach Gebser kulturgeschichtlich an einem Wendepunkt, an einem Übergang, ähnlich dem Übergang um 600 v. Chr. Jaspers hat im Anschluss an Gebser diesen Umbruch, der um 600 v.Chr. in den bekannten Hochkulturen fast zeitgleich einsetzt, «Achsenzeit» genannt. Heute geht es um den Übergang vom rationalen Bewusstsein ins integrale Bewusstsein. Wir leben also wieder in einer Achsenzeit. Dabei kann und soll der Ausschliesslichkeitsanspruch des Rationalen aufgegeben werden. Dieser Prozess beginnt mit der einfachen Erkenntnis, dass unser Bewusstsein nicht mit dem Verstand gleichgesetzt werden kann, sondern weit mehr umfasst. Es ist, wie Gebser in seinem Werk zeigt, mehrfach strukturiert.

Die Jean Gebser Gesellschaft in Bern

Die Jean Gebser Gesellschaft in Bern (JGG) wurde 1984 mit der Absicht gegründet, eine integrale Weltsicht in den Wissenschaften, in Kunst und Kultur im Sinne des Lebenswerkes von Jean Gebser zu fördern. Insbesondere will die JGG das literarisch überlieferte Werk Jean Gebers verbreiten, wissenschaftlich vertiefen und in seinen praktischen Möglichkeiten und Auswirkungen in Bezug auf die Entfaltung eines integralen Bewusstseins erforschen und fruchtbar machen. Die Gesellschaft versteht sich als offenes Forum für geistige Fragen der Zeit und ist nicht allein auf die Gedanken Jean Gebers ausgerichtet. Der Sitz der JGG ist in Bern in der Schweiz.

Die aktuelle Tätigkeit zur Neuauflegung des Werkes von Jean Gebser entsteht aus drei Gründen: Erstens sind die vorangegangenen Herausgaben im Novalis Verlag Schaffhausen vergriffen. Zweitens ist die Qualität der neuen Herausgabe der Werke im Chronos Verlag Zürich in Bezug auf den Druck, Papier und die Einfassung wesentlich verbessert und drittens wurde die neueste Ausgabe vollständig überarbeitet, zusätzlich illustriert, mit nicht publizierten Inhalten erweitert sowie durch eine ausführliche Einleitung der Herausgeber Elmar Schübl und Rudolf Hämmerli kommentiert.

Die Jean Gebser Gesellschaft und das Integrale Forum Deutschland

Die Jean Gebser Gesellschaft und das Integrale Forum Deutschland, beide mit Wirkungskreis im deutschsprachigen Raum, sind dieses Jahr eine Partnerschaft eingegangen. Dies ist der Anlass, für die nun vorliegende Ausgabe der Integralen Perspektiven im Januar 2021 mit dem Fokus auf Jean und Jo Gebser sowie auf die aktuellen Publikationen der Gesellschaft im Chronos Verlag Zürich.

Diese Partnerschaft soll es zwei Strömungen innerhalb der Integralen Gemeinschaft ermöglichen, sich näher zu kommen. Wir freuen uns darüber, dass Menschen, die sich bisher eher an Ken Wilber oder aber an Jean Gebser orientiert haben, durch sich ergänzende kulturphilosophische Perspektiven neue Lernräume eröffnen können.

Lesen und hören Sie in dieser Ausgabe Beiträge aus der Jean Gebser Gesellschaft Bern, der Gebser Society USA und lernen Sie Autoren/innen und Freunde des Integralen Bewusstseins in unserem Live-Zoom persönlich kennen. 

 

Unsere Leserinnen und Leser laden wir hiermit ganz herzlich zu zwei Veranstaltungen mit Jeremy Johnson, dem derzeitigen Präsident der International Gebser Society ein

Was ist der Ursprung für Gebser? Das deutsche Wort ‚Ursprung‘, wie der verstorbene Yogalehrer und Gebser-Biograph Georg Feuerstein feststellte, bedeutet wörtlich ‚der erste Sprung‘: Gebser ist hier manchmal schwer fassbar und versucht, sowohl symbolisch mythische als auch präzise, rationale Sprache zu vermeiden (es ist weder das mythische Bild eines ‚Ur-Funkens‘ noch das mentale, hegelsche ‚Sein‘). Ursprung ist weder zeitgebunden noch raumgebunden, sondern der Urheber oder die Quelle von allem, was an Zeit und Raum gebunden ist. „Wir könnten sagen, es ist reine Präsenz“, schreibt Feuerstein. Gebser hat den Ursprung auch als das ‚an sich‘ oder ‚das, was alles durchdringt oder durchleuchtet‘, bezeichnet. Feuerstein findet seine Entsprechung im ‚Überbewusstsein‘ des Hinduismus. „Für die erleuchteten Wesen des Hinduismus ist Atman, das richtig als das ‚an sich‘ wiedergegeben werden kann, ein makelloses Bewusstsein oder der ‚Zeuge‘, nach ihrem Zeugnis ist dieser Zeuge völlig unspezifisch, transpersonell, absolut.“ Das Integral ist also eine Aktualisierung dieser ursprünglichen Präsenz im menschlichen Bewusstsein – ein Gewahrwerden – und die Integration aller bisherigen Strukturen. Wir könnten auch feststellen, dass Bewusstsein für Gebser die Fähigkeit des Menschen ist, diese Strukturen zu integrieren, die letztlich nicht auf die Synthesefähigkeiten des Mentalen, sondern auf die ursprüngliche spirituelle Präsenz zurückzuführen ist – daher die Notwendigkeit einer Intensivierung der Präsenz als Vorläufer ihrer Integration und Verwirklichung.

Jeremy Johnson

  

1. Online zoom-Talk: Jean Gebser – Ursprung und Gegenwart

(in englischer Sprache)
19. Februar 2020, 20 Uhr MEZ (kostenloser zoom-Vortrag, Fragen und Antworten, Diskussion)
Moderation Cordula Frei
mehr … (Infos und Anmeldung)

 

 

Seeing through the world2. Online-Seminar (6 Sitzungen à 90 Minuten): Jean Gebser – Ursprung und Gegenwart

(in englischer Sprache)
12. März bis 25. Juni 2021
in Zusammenarbeit mit dem Integralen Forum Deutschland und der Gebser Gesellschaft Bern
mehr … (Infos und Anmeldung)

 

 

 

Mit herzlichen Grüssen

für die IP Cordula Frei und Martin Heil
und für die Jean Gebser Gesellschaft Bern Michael Högger 


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