von Dennis Wittrock, August 2010

Teil I

Was und wer ist die internationale integrale Bewegung? Gibt es sie überhaupt, oder ist sie vielmehr nur ein elitäres Unterfangen? Welchen Einfluss hat sie in der, bzw. auf die akademische Welt? Wie reif ist das Feld? Hat es sich von der Person Ken Wilber differenziert? Welche neuen Ansätze, Anwendungsbeispiele und Durchbrüche gibt es? Diese und andere Fragen hatte ich im Gepäck, als ich mich auf den langen Weg durch zahlreiche Zeitzonen  nach San Francisco machte. Zum zweiten Mal überhaupt fand dort vom 29.07.-01.08. die ITC an der JFK University in Pleasant Hill statt.
Der Titel der Konferenz lautete „Enacting an Integral Future“. „Enactment“, zu deutsch etwa „Inszenierung“ bedeutet im Kontext der integralen Theorie und Praxis, dass unsere Erfahrung der Wirklichkeit nicht in irgendeiner vorgegebenen Form herumliegt, sondern, dass wir sie durch unsere Erkenntnisbemühungen und Praktiken aktiv co-kreieren und mit hervorbringen. Mit über 100 Referenten, 77 Einzelpräsentationen, 15 Panels, 16 Workshops im Vorprogramm und 24 Poster-Präsentationen war eine beeindruckende Bühne vorbereitet worden, auf der die über 500 Teilnehmer aus der ganzen Welt nun gemeinsam den nächsten Schritt einer integralen Zukunft inszenieren konnten.
Ich war bereits am Montag in San Francisco eingetroffen, um meinem Körper genügend Zeit zu geben anzukommen, so dass ich das volle Programm am folgenden Wochenende bewältigen konnte. Über meinen alten Freund, John Dupuy, aktiv in der Integralen Suchtgenesung, war mir der Kontakt zu Adam Gorman, derzeit Doktorkandidat an der JFKU, vermittelt worden. Ganz im Geiste von ILP gingen wir direkt nach meiner Ankunft ins Fitnessstudio und praktizierten morgens gemeinsam Meditation, was meinen Jetlag offensichtlich minimierte.

Abend mit Steve McIntosh @ Bay Area Integral

Nach etwas Sightseeing am Dienstag wurde ich auf einen Event am Mittwoch Abend aufmerksam, den die lokale Bay Area Integral Gruppe mit dem integralen Philosophen Steve McIntosh veranstaltete, der anlässlich der ITC in der Gegend war. Terry Patten gab als Gastgeber eine kurze Einführung und danach präsentierte McIntosh unter dem Titel „Fortschritt und Ziel der Evolution“ eine Zusammenfassung der Kernthesen seines neuen Buches. Demnach ist Evolution im wesentlichen ein dialektischer Prozess, der von der Erzeugung und Verwirklichung immer höherer Werte angetrieben wird. McIntoshs Strategie besteht darin, mit seinem Buch vor allem Menschen anzusprechen, die der modernen Weltsicht anhängen und zu zeigen, welche Indizien sich alleine aus der Wissenschaft für eine Entwicklungssicht ableiten lassen, die beim Big Bang beginnt, sich im Bereich der Materie und des Lebens fortsetzt und schließlich auch das Feld des Geistes und der Kultur umfasst. Ihm zufolge ist z.b. eine emergente Qualität auf der Ebene des Lebens (Biosphäre) die Fähigkeit von Organismen - wie rudimentär auch immer - Intentionen zu folgen und evaluative Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit hat einen konkreten Überlebenswert. Dies gelangt zur Blüte in der menschlichen Kultur (Noosphäre), in der das Werte-Trio des Wahren, Schönen, Guten als evolutionärer Attraktor wirkt. McIntoshs Buch soll bald in den USA erscheinen.

„Wer sind wir?“ – von Pitirim A. Sorokin zu Integral 2.5

Die Konferenz begann am Donnerstag mit 14 Pre-Conference Workshops. Ich besuchte zunächst eine halbtägige Einführung in Holacracy mit Brian Robertson, weil ich neugierig war, welche Aspekte seiner integralen Praxis für Organisationen er diesem speziellen Publikum nahebringen würde. Außerdem schaute ich mir einen Workshop mit Marilyn Hamilton und Cherie Beck an, die die Linsen von integraler Städteplanung und Mustern wiederkehrender Generationszyklen auf die Gesundheit von Städten und Kommunen anwendeten.

Am Abend gab es dann die feierliche Eröffnung der Konferenz im Hilton-Hotel. Die Haupt-Organisatoren der Konferenz, Sean Esbjörn-Hargens und Mark Forman, sowie David Zeitler gaben eine Einführung in die Thematik. Sean eröffnete breit indem er die Frage aufwarf „Wer sind wir?“ und „Wie werden wir in tausend Jahren auf diese Konferenz zurückblicken?“ Er betonte, dass die konkrete Anwendung der Theorie in der Praxis der Litmus-Test sei und dass die ITC alle zwei Jahre als eine Art Check-In dienen könne, bei dem man sehen werde, was in der Zwischenzeit entstanden sei. So schilderte er, dass der notwendige Differenzierungsprozeß des Feldes von der Gallionsfigur Ken Wilber bereits auf der ersten Konferenz 2008 begonnen habe.

David Zeitler ging im folgenden näher auf die Frage „Wer sind wir?“ ein, indem er die Forschungsergebnisse einer Umfrage unter den Konferenzteilnehmern vor zwei Jahren präsentierte. Demnach hatten überdurchschnittlich viele Teilnehmer bereits schon mal mystische Erfahrungen gemacht und waren bewegt von den Themenkomplexen „kulturelle Fragmentierung & Zugehörigkeit“, „ökologische Verwüstung & Erneuerung“ sowie „psychologische Regression & Transformation“. Als wichtigstes Element der integralen Theorie empfanden 47% die Ebenen des Bewusstseins, als am schwierigsten in der Kommunikation mit Fachkollegen aus der eigenen Disziplin zu vermitteln wurde das Element Zustände des Bewusstseins genannt. Insgesamt wurde eine große Bandbreite unterschiedlicher Bewertungen festgestellt, die nahelegen, dass inhaltliche Spannungen im Feld fortbestehen werden. Dieser Sachverhalt wurde als Zeichen einer gesunden, diversen Gemeinschaft gedeutet.

Mark Forman betrachtete die Frage der Differenzierung von Ken Wilber genauer und machte deutlich das die Gleichung integral = Wilber nicht haltbar ist, in dem er sich auf die Suche nach den Fußspuren von Vorläufern machte und betonte, dass es gegenwärtige Alternativen zu AQAL gebe. Nichtsdestotrotz sagte Forman, dass AQAL ein raffiniertes Modell sei und verglich Wilber mit einem Mathematik-Genie, der uns zwar seine Lösung präsentiere, oftmals aber nicht den Weg, wie er dorthin gelangt sei.  Er bezeichnete als das Ziel der Konferenz eine wissenschaftlich robuste Sicht des Integralen. Da die akademische Welt Traditionen vertraut und singulären Figuren oftmals misstraut, war es ihm ein Anliegen eine historische Sichtweise aufzuzeigen, wenn auch nur eine vorläufige, schematische:

Geschichte des Integralen
Integral beta:                       frühe integrale Denker
Integral 1.0:                         AQAL (1995), Ken Wilber
Integral 2.0:                         Zusammenwachsen & Anwendung (ITC 2008)
Integral 2.5:                         Differenzierung, Diversität, Forschung (ITC 2010)
Integral 3.0:                         eine reife integrale akademische Richtung
Ferner zeigte er fünf Weisen auf, in der das Feld sich von Wilber beginnt zu differenzieren
1)   Evidenz
2)   Interpretation
3)   Anwendung & Betonung
4)   Methode
5)   Framework
Die ersten drei seien die leichtesten. Wenn man sich auf andere Daten bezieht (1), AQAL anders interpretiert (2), oder durch Anwendungserfahrung andere Aspekte betont (3)  ist das wesentlich leichter, als wenn man eigenständig die integrale Methode (4) oder das Framework (5) verändern will. Als drei Herausforderungen  hierbei nannte Forman den schieren Umfang des geschriebenen Materials (Sean Esbjörn-Hargens schätzt ihn auf ca. 10.000 Seiten - allein von Wilber - und 10.000 Seiten von anderen), die Schwierigkeit der Anwendung von AQAL und die Schwierigkeit der Schaffung einer Methode für Meta-Research. Eine solche Methode müsse rekonstruierbar machen, warum man welche Aspekte in seine Meta-Theorie aufnimmt, statt nur das Ergebnis des Prozesses zu präsentieren (wie Wilber).
Mark Forman bezeichnete es als große Wende unserer Sichtweise, das Integrale als historische Linie aufzufassen. Ganz in diesem Sinne präsentierte er dann auch einen weiteren – in integralen Kreise bis dato unbekannten – Vorläufer Ken Wilbers: den russisch/US-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin (1889-1968). Dieser begann ebenfalls den Begriff „integral“ zu benutzen und bezog sich unter anderem auf die „drei Kanäle“ von Körper,Geist und Intuition, die jedem Menschen zur Verfügung stehen. Neben diesen und anderen Parallelen zu Wilber hatte Forman auf köstliche Weise herausgearbeitet, wie Sorokin scheinbar ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu seinen Kritikern hatte. Aus zeitgenössischen Berichten seiner Kollegen ging anschaulich hervor wie Sorokin diese gnadenlos zerlegte – Wyatt Earp lässt grüßen. Das darauf folgende Gelächter im Publikum ließ auf eine gesunde Selbstironie im Feld schließen.
In Sean Esbjörn-Hargens Analyse des status quo rangiert die erste ITC 2008 rückblickend unter dem Motto „Liebesfest“,  während 2010 für ihn ganz unter dem Zeichen der Differenzierung steht – nicht nur gegenüber Wilber.  Er hob vor allem die Arbeiten vom Mark Edwards hervor, dessen Konzept der „Linsen“ er als wegweisend beschrieb. Die fünf Elemente von AQAL können demnach als theoretische Linsen aufgefasst werden, durch die die Welt erschlossen werden kann. Es seien aber noch andere Linsen denkbar, so z.B. die Linse „Macht“, die bei postmodernen Denkern wie Foucault eine zentrale Rolle spielt, jedoch in der integralen Theorie bisher nicht betont wurde (Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Postmoderne?).  Er fasste die Entkopplung von Ken Wilber und Integraler Theorie in folgendem Diagramm zusammen:

          

Als Faktoren, die diese Entkopplung begünstigt haben, zählte er Wilbers Krankheit und die damit einhergehende Funkstille seinerseits (lange kein Output mehr), neu hervortretende Stimmen, neue Publikationen, die beiden ITC Konferenzen, sowie Mark Edwards Metatheorie auf.
Als neue Alternative zu Wilber-zentrischen Ansätzen auf der einen und dem „Haufen“ der Wilber-neutralen „Integral studies“ auf der anderen Seite illustrierte Sean Esbjörn-Hargens die dritte Möglichkeit einer Wilber-basierten Position anhand der Metapher eines Baumes. Der Baum wurzelt in der Arbeit integraler Pioniere, wie Gebser, Baldwin, Aurobindo, sein Stamm(-vater) ist Wilber und von dort ausgehend verästelt er sich in die verschiedenen Anwendungen, Erweiterungen und Publikationen. Über ihm schweben Wolken der Kritiker, wie etwa Visser und Edwards, deren Regen nährend wirkt. Man merkt an diesem Bild, wie sehr Esbjörn-Hargens in der Ökologie beheimatet ist.  Er plädierte dafür, den integralen Ansatz als „theory for anything“ (statt „everything“) umzutitulieren – also nicht eine „Theorie von allem“, sondern eine Theorie, die auf jeglichen Aspekt der Realität angewendet werden kann.
Den Titel der Konferenz „Enactment“ bezeichnete er als fortwährendes Koan. Es bedeutet die aktive Teilhabe an der Realität, nicht nur deren Abbildung. Zentral dabei seien die Methodologien, das Wie der Inszenierung. Letztlich gehe es um die Praktiken. Und so forderte er die Anwesenden auf, in den folgenden Tagen u.a. folgende Eigenschaften zu praktizieren: Reflexivität, kritischen Dialog, Paradoxien halten, Meta-Sichten einnehmen, Perspektivwechsel, Dialektik...und Großzügigkeit untereinander – wobei letzteres im geläufigen akademischen Diskurs häufig genug ein Fremdwort sei.
Der Einführungsvortrag war der erste Paukenschlag für das, was ein großartiges Konzert werden sollte. Sean Esbjörn-Hargens hatte vorgerechnet, dass bei Berücksichtigung der Kombinationen der zahlreichen Angebote (der Taschenrechner  seines iPhones streikte zwischenzeitlich) mindestens 800 Millionen verschiedene Wege denkbar waren die Konferenz zu durchlaufen. Ich war gespannt, was meiner sein würde.

Zak Stein: „Über den Gebrauch des Begriffes Integral: Schau-Logik, Meta-Theorie und ‚Wachstum zum Guten’- Annahmen“

Erster Vortragsblock, 11 parallele Angebote, was tun? In meiner Magisterarbeit über Transdisziplinarität und IMP hatte ich 2008 ein Papier von Zak Stein zitiert und war gespannt den Harvard-Doktoranden und begabten Entwicklungsforscher mal persönlich zu begegnen. Also besuchte ich seinen Beitrag mit dem Titel „Über den Gebrauch des Begriffes Integral: Schau-Logik, Meta-Theorie und ‚Wachstum zum Guten’- Annahmen“. Vorne stand ein junger Mann mit einer ernsten Klarheit und einem Zahnstocher im Gesicht, auf dem er lässig herumkaute, dazu mit Ziegenbart und krausen Haaren auf der hohen Stirn.
Zunächst machte er eine Unterscheidung zwischen „Meta-Theorie“ und „Philosophie“. Mark Edwards etwa, dessen Beiträge im meta-theoretischen Feld liegen, bewegt sich eher auf akademisch-wissenschaftlichen Terrain. „Philosophie“ hingegen sucht immer die wieder die Rückbindung an die gewöhnliche Alltagssprache – eine Qualität, die der Meta-Theorie oftmals fehlt.
Als nächstes präsentierte er eine Reihe von historischen Zitaten, die eine umfassende, zeitgenössische Theorie skizzierten, die – nicht unähnlich der integralen Theorie – den Anspruch hatte, die wesentlichen Erkenntnisse aus Natur- und Geisteswissenschaften zusammenzuführen. Als Zak Stein schließlich das Rätsel löste, um welche Theorie es sich denn handelte, stockte wohl allen der Atem: es war die Eugenik aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, d.h. die rassistisch motivierte Kunde von den „guten“ Genen. OK, jetzt hatte er wohl jedermanns Aufmerksamkeit gewonnen.
Mit Habermas im Gepäck kritisierte er die Verantwortungslosigkeit von Hirnforschern, die allen ernstes die Freiheit des Willens öffentlich in Frage stellen und dadurch das moralische Fundament der Lebenswelt unterhöhlen. Danach schwenkte er über zu Ludwig Wittgensteins Analyse der verschiedenen „Sprachspiele“, die Menschen spielen. Als Metapher hatte Wittgenstein das Bild von Sprache als einer Stadt. Es gibt Begriffe, die eher in den Randbezirken zuhause sind, während einige zentrale Wörter allen bekannt sind.  In diesem Sinne ist innerhalb des Sprachspiels der integralen Community der Begriff „integral“ absolut „downtown“.  Eine Variante davon, die Zak relativ bedenklich findet ist „integralTM“. Die Vermarktung integraler Ansätze und der Versuch ein Deutungsmonopol zu errichten ist vielleicht der Sache nicht immer dienlich. Habermas zufolge kann man unterscheiden zwischen Sprachspielen über Fakten und über Normen – über das „Ist“ und über das „Soll“.  Werden diese beiden Varianten vermischt, dann spricht man von einem „thick concept“ – ein Begriff, der zugleich beschreibend als auch bewertend ist. „Integral“ ist in diesem Sinne ein „dickes Konzept“, das oftmals in der simplen Gleichung ausgedrückt wird: 
Integral = Schau-Logik (deskriptiv) = wertvoll (evaluativ)
Man kann „integral“ als einen Ort verstehen (weit oben auf der Entwicklungsskala, wo es „gut“ ist) oder als eine Trajektorie (wobei jede Ebene in sich mehr oder weniger „integral“ / integriert sein kann). Erstere Auslegung verstärkt das in integralen Kreisen weit verbreitete „Wachstum zum Guten“ Modell. Zak Stein hielt dagegen, dass selbst Aurobindo geschrieben hat, dass auch das Böse evolviert und dass auch Größen wie Piaget, Kohlberg, Loevinger, Habermas und Wilber dieser simplen Annahme widersprochen haben. Auch das Konzept des „Bewusstseinsschwerpunktes“ ist laut Stein eher ungünstig in dieser Hinsicht, besser sei es von einem „Selbstsystem“ auszugehen.
Anhand verschiedener grafischer Modelle veranschaulichte er anschließend, dass höhere entwicklungsmäßige Komplexität nicht notwendig linear mit moralischer Gutheit korreliert - geschweige denn mit anderen menschlichen Qualitäten, die wir hoch schätzen, wie Ehrlichkeit oder Treue. Diese Relativierung ist offensichtlich bereits in dem Wilberschen Konzept des Psychogramms mit verschiedenen Linien der Entwicklung angelegt, wobei kognitive und moralische Linien auf unterschiedlichen Ebenen sein können – dennoch schien Stein diesen Punkt unbedingt deutlich machen zu wollen aufgrund der ethischen Implikationen des achtlosen Umgangs mit populären Entwicklungsmodellen, wie etwa Spiral Dynamics, der in der integralen Szene grassiert.  (Zum Thema „Entwicklung und Ethik“ gab es sogar eigens ein Panel mit ihm,  Susanne Cook-Greuter, Roger Walsh und anderen)
Also ergänzte er mit dem Satz „The Darth Vader move is always possible“ und mit dem  bekannten Beispiel der intelligenten aber herzlosen Nazi-Ärzte. Umgekehrt brachte er das Beispiel von Rosa Parks, die durch ihre Weigerung ihren Platz im Bus einem Weißen zu räumen, die Bürgerbewegung zur Abschaffung der Rassendiskriminierung befeuert hat. Stein zufolge hatte sie in ihrem Akt des Widerstands keineswegs weitblickend die Implikationen ihrer Handlung für kommende Generationen bedacht, sondern war schlichtweg müde und unwillig aufzustehen.
Wenn wir „integral“ als einen beschreibenden Begriff benutzen, sollten wir ihn nicht in der Weise verwenden, dass wir darunter einen entwicklungsmäßigen Ort auf der Spirale verstehen, an dem man sein kann, oder auch nicht – das erzeugt Zak Steins Ansicht nach ledigliche ungünstige ingroup-/outgroup- Dynamiken. Wichtiger empfindet er vielmehr die Verwendung von „integral“ als einen normativen Begriff.  Darin sind folgende normativen Verpflichtungen enthalten:

„Integral“ ist demnach ein Vorgehen, dass sich den o.g. Werten (und Variationen davon) verpflichtet fühlt, wobei zentral besonders auf Umfassendheit Wert gelegt wird.
Mein Eindruck war sehr gut, die Präsentation war anregend, theoretisch fundiert, streckenweise komplex, aber gleichzeitig mit einer gewissen Schlichtheit und augenzwinkernden Lockerheit vorgetragen. Den Namen Zak Stein wird man in integralen Kreisen ganz gewiss nicht das letzte Mal gehört haben.

Clint Fuhs :„Perspektivische Semiosis: Vorläufige Bestätigung dass Perspektiven primordial sind“

Um mich kognitiv ein wenig herauszufordern, hatte ich mir als nächsten Programmpunkt die Präsentation von Clint Fuhs mit dem Titel „Perspektivische Semiosis: Vorläufige Bestätigung dass Perspektiven primordial sind“ angestrichen. Clint Fuhs ist einer der Veteranen im Aufbau der Integralen Bewegung in Amerika und hat kürzlich in Kooperation mit Ken Wilber eine mehrteilige multimediale Einführung in den integralen Ansatz unter dem Titel „Essential Integral“ (auf DVD) entwickelt. Grund genug, ihm mal einen Besuch abzustatten und um rauszufinden, was sich an der Leading Edge tut.
Wer die „Exzerpte“ – im Internet veröffentlichte Auszüge aus dem zweiten Teil der Kosmos-Trilogie von Ken Wilber – studiert hat, der mag über die Aussage gestolpert sein, dass der Kosmos entgegen früherer Behauptungen nun nicht mehr aus „Holons“, sondern aus „Perspektiven und fühlenden Wesen“ besteht. So ging es zumindest Clint. Nun könnte man es belassen bei der Begründung „Nun gut, immerhin hat Wilber das geschrieben - dann wird das schon so sein.“ Das war Clint aber nach eigener Aussage nicht genug und so machte er sich auf, um herauszufinden ob das auch stimmt. Die Stationen dieser Erkenntnisreise präsentierte er uns nun also vor Ort. Um herauszufinden,ob Perspektiven wirklich die fundamentalen Bausteine des Universums sind - in dem Sinne wie Wilber es behauptet, dass alle Dinge zuerst Perspektiven sind, bevor sie irgendetwas anderes sind -  fragte er sich in welcher Hinsicht sie ursprünglich, bzw. primordial sind.
Er begann ganz allgemein damit etwas über Perspektiven zu erzählen. So hat z.B. eine Person, die ein Objekt betrachtet, eine 1. Person-Perspektive. Beobachtet eine erste Person eine zweite Person, dann sprechen wir von einer 2. Person-Perspektive („Du“).  Wenn zwei Personen dasselbe Objekt betrachten ist das eine 3. Person-Perspektive. Kommt eine dritte Person hinzu, die beobachtet, wie die anderen beiden Personen sich gemeinsam auf ein Objekt beziehen, ist das eine 4.-Person Perspektive. Die Integrale Sichtweise ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit eine 5. Person-Perspektive einzunehmen, d.h., dass in diesem Fall noch eine Perspektive auf den zuvor geschilderten Vorgang eingenommen wird, usw. Es wird deutlich, dass Perspektiven beliebig kombinier- und verschachtelbar sind, bis hin zur n-ten Person-Perspektive.  Doch ist „höher“ und „komplexer“ gleichbedeutend mit „besser“?
Als Beispiel erwähnte er die „Meta-Praxis“ – eine Art „perspektivisches Gewichtheben“, das er und einige Freunde am Integral Institute entwickelt hatten. Es besteht darin, dass zwei Teilnehmer ein reales Problem diskutieren, wobei sie zeitweilig die Perspektiven des jeweils anderen einnehmen (müssen). Ein dritter Teilnehmer nimmt eine Perspektive darauf ein, wie sie aufeinander eine Perspektive einnehmen. Schließlich kommt noch ein Moderator hinzu, der eine Perspektive darauf einnimmt, wie die dritte und weitere Personen im Kreis Bezug auf die anderen beiden nehmen, sowie ein Facilitator, der ab und an Anweisungen gibt, wer wann welche Perspektive einnehmen soll, z.B. „ John, jetzt beschreib mal wie Lily Peters Sicht auf das Problem wahrnimmt.“ Klingt kompliziert? Ist es auch. Nach vielen anstrengenden Runden war das Ergebnis des Experiments, dass eine gute Kompetenz in der 1., 2. und 3. Person-Perspektive für Alltagszwecke in der Regel völlig ausreicht und viel wichtiger für die Problemlösung ist, als die Fähigkeit noch komplexere Perspektiven der 4. und 5. Person einnehmen zu können. Viel grundlegender ist es sich in die andere Person hineinzuversetzen (2. Person-Perspektive) – eine Fähigkeit, die die meisten von uns haben, aber oft nicht einsetzen, wenn sie emotional herausgefordert sind.
Es folgte ein gewagter Ritt durch verschiedene, relativ exotische wissenschaftliche Theorien, die den Weg nachzeichneten, den Clint gegangen ist, um Wilbers Behauptung auf den Grund zu gehen. Den Anfang machte er mit der Kybernetik, insbesondere mit Gregory Bateson: „Information ist der Unterschied, der einen Unterschied macht“ –  fragte sich nur noch für wen. Eine Antwort darauf bot die Autopoiesis-Theorie von Maturana und Varela, nämlich „für eine autopoietische Einheit“. Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme unterscheidet darüber hinaus zwischen drei Typen autopoietischer Systeme, dem vitalen, psychischen und sozialen Typ. Dieser holarchischen Schachtelung von Aussagen über Bedeutungsbildung fügte Clint dann noch einen Satz aus der trans-disziplinären „Cyber-Semiotik“ von Prir Sorin hinzu: „Wenn Unterschiede einen solchen Unterschied machen, dass ein Zeichen erschaffen wird, ist das Resultat Information“.
Klang alles irgendwie interessant und schillernd, doch spätestens hier hatte ich komplett den Faden verloren und stellte meine Mitschrift ein. Vielleicht ist mir der Unterschied entgangen, der einen Unterschied macht.  Auch die Exkurse über Semiotik bei Peirce, Habermas und Whitehead, sowie die Erläuterungen zu einer Integralen Semiotik, die Ken schon in den Fußnoten zu EKL angelegt hatte, ließen mich irgendwann mit kognitivem Overload aussteigen – trotz meiner philosophischen Ausbildung und jahrelangen Wilber-Studiums.
Entweder hatte ich in Clint Fuhs meinen Meister gefunden, oder mir begegnete hier die Kehrseite von Entwicklung und ein Schatten des Integralen: ein lebendiges Beispiel dafür, dass „komplexer“ nicht unbedingt „besser“ bedeutet. Ich achte die Komplexität und auch die tiefe Auseinandersetzung und Passion, die Clint hier an den Tag gelegt hat. Doch mir wurde deutlich wie viel mehr ich Wilbers Fähigkeit schätze, die Komplexität durch Einfachheit, Prägnanz und unprätentiöse Wortwahl zu bändigen. Darin besteht für mich wahre Meisterschaft im Denken.

Lakia Green: „Das Integrale Paradigma öffnen: die Inklusion von Zyklen im Rahmen der Integralen Theorie“.

Sean Esbjörn-Hargens hatte in seinem Einführungsvortrag darum gebeten, dass die Teilnehmer nicht nur den großen und bekannten Namen folgen sollten, sondern auch den bisher unbekannten Beitragenden, deren Abstracts aber interessant erschienen, eine Chance geben sollten. So besuchte ich als nächstes die Präsentation von Lakia Green mit dem Titel „Das Integrale Paradigma öffnen: die Inklusion von Zyklen im Rahmen der Integralen Theorie“. In einer gewissen Weise war die gesamte Präsentation Ausdruck eines gesunden postmodernen Leitthemas der Inklusion marginalisierter Aspekte. Es begann schon mal mit der schlichten Tatsache, dass die Vortragende eine unbekannte schwarze Frau war. Lakia hatte sich lange mit dem Feminismus beschäftigt, wodurch ihre Perspektive auf AQAL einen besonderen Blick für vernachlässigte Aspekte hatte.
So geht es in der integralen Theorie vielfach um hierarchische, lineare Entwicklung. Zyklische Vorgänge jedoch –  für die es massenhaft Beispiele gibt, von der Photosynthese bis hin zu Schlafmustern – finden in der integralen Theorie als eigenständige Kategorie neben Ebenen, Linien, Zuständen und Typen keine hinreichende Beachtung. Zyklen bestehen aus Subkomponenten, die in einer spezifischen Reihenfolge vorkommen. Diese Sequenzen wiederholen sich in einem bestimmten Zeitraum. Sie sind zu unterscheiden von Mustern („patterns“) oder Spiralen. Bei Spiralen wandert der Startpunkt der Sequenz mit derZeit, bei Zyklen ist das nicht der Fall.
Frauen sind zyklische Vorgänge natürlich alleine schon durch die monatliche Menstruationsblutung sehr viel vertrauter als Männern. Linearität, bzw. dass es eine Richtung gibt, könnte man als maskulinen Aspekt bezeichnen, Kreisförmigkeit, bzw. Muster, die nirgendwo hingehen, sondern zyklisch wiederkehren wie die Jahreszeiten, haben entsprechend eher eine feminine Qualität.
Wir wurden anhand von Arbeitsblättern ermuntert selber 1.Person-Erforschung zyklischer Muster für Persönlichkeitsentwicklung zu betreiben. Oftmals stecken wir fest in Zyklen, die uns nicht gut tun. Dann können wir uns die Elemente des Zyklus klarmachen, die Frequenz der Wiederholung des Zyklus, und die Schritte, die den Kreis in Richtung einer Aufwärtspirale verändern.

Panel-Diskussion: „Schlüssel-Kritiken an Wilbers Werk: was ist die Achillesferse integraler Theorie?“

Weiter ging es mit der ersten Runde von parallelen Panel-Diskussionen – wieder kam in mir der Wunsch auf mich mittels Bi-Lokation an verschiedene Orte gleichzeitig zu versetzen. Vielleicht hätte ich über diese Fähigkeiten bei dem Panel über „subtile Energien“ lernen können. Gerne hätte ich auch die Diskussionen über„integrale Elternschaft“, „integrale Maskulinität“ und „integrale Politik“ gehört. Ich vertröstete mich mit dem Gedanken daran, dass alle Beiträge im Audio-Format aufgezeichnet werden würden und setzte mich schließlich in das Panel mit dem Titel „Schlüssel-Kritiken an Wilbers Werk: was ist die Achillesferse integraler Theorie“. Zum einen war das eine Geste der persönlichen Schattenarbeit – hatte ich doch in der Vergangenheit kritische Stimmen, z.B. auf Frank Vissers Webseite überwiegend milde ignoriert – zum anderen klang das Aufgebot der Gesprächspartner vielversprechend: neben dem bereits erwähnten Zak Stein saßen dort immerhin Frank Visser und Jeff Meyerhoff, beides quasi „Erz-Kritiker“ von Wilber, sowie Markus Molz aus Luxemburg, den ich noch aus den Anfängen der integralen Bewegung in Deutschland kannte. Außerdem waren dort noch Bonnitta Roy, Sara Ross und Ray Greenleaf von der JFK University als Moderator vertreten. Letzterer begrüßte die Teilnehmer und bat sie nacheinander sich kurz vorzustellen und zum Thema des Panels Stellung zu beziehen.
Frank Visser ist der Betreiber von www.integralworld.net , einer Seite mit einer reichhaltigen Sammlung von Kritik an Wilber und alternativen Aufsätzen im Feld der integralen Theorie, und ist Autor von „Ken Wilber – Denker aus Passion“ einem Buch, das Wilbers Arbeit positiv hervorhebt. Er schrieb das Buch in seiner Phase der Bewunderung für Wilbers Arbeit. Später distanzierte sich Wilber von Vissers Webseite, die ursprünglich „worldofkenwilber.com“ betitelt war, weil er in den dortigen Beiträgen eine Misrepräsentation seiner Standpunkte sah. Visser betitelte die Seite daraufhin neu und ging zunehmend auf Distanz zu Wilber. 2006 gab es einen unschönen Schlagabtausch in Form mehrerer Essays zwischen Wilber und Visser, der als „Wyatt Earp-Episode“ in der integralen Szene für viele Wellen und böses Blut auf beiden Seiten sorgte.
Es war also eine bemerkenswerte Geste von Esbjörn-Hargens und Forman, dass sie mit der Einladung vor allem von Frank Visser demonstrativ eine Brücke zu Wilbers Kritikern gebaut haben und die Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen in der Szene suchen. Visser kommentiert seine Einladung auf seiner Webseite wie folgt: „Ich hieß diese Geste willkommen und den beiden persönlich zu begegnen bekräftigte lediglich meine Zuversicht, dass in der Zukunft vieles erreicht werden kann.“ Weiter schreibt er in Reflektion seines Panel-Beitrags: „Das Panel, das als das wichtigste der Konferenz angesehen wurde, war angesetzt um Schlüssel-Kritiken an Wilbers Werk: die Achillesferse integraler Theorie zu diskutieren. Dieses Thema auf die Agenda zu setzen ist sicher ein Zeichen des Mutes seitens der Organisatoren der Konferenz. Mehrere der Panel-Teilnehmer hatten ihre eigene Sicht auf diese Frage, die zwischen den Aussagen rangierten, dass integrale Theorie keine wirkliche Theorie sei, bis hin zu der Ansicht, dass Wilber seinen Punkt übertrieben dargestellt hat, indem er einen Konsens behauptet, wo in der Realität eine kontinuierliche Debatte herrscht. Meine Sicht auf diese Frage war, dass der Schatten der Integralen ihre übertriebene Bewertung ihrer selbst ist, einhergehend mit einer Missachtung (oder schlimmer) ihrer Kritiker, die von außerhalb der integralen Gemeinschaft kommen. Ich habe eine intensive Beschäftigung mit der Frage gesehen, wer sich als Kritiker qualifiziert, im Vergleich damit einfach zuzuhören, was sie zu sagen haben. Hoffentlich wird diese Haltung in der neuen Phase der integralen Theorie zurückgelassen werden, um das Feld für freie Untersuchung zu öffnen.“
Jeff Meyerhoff, Autor des kürzlich erschienenen Buches „Bald Ambition“, einer Kritik an Wilbers Theorie von allem, nannte als seine Kritikpunkte insbesondere die oben von Visser erwähnte Verwendung des Konzeptes der empirisch nicht haltbaren Orientierungsverallgemeinerungen als Konsens wissenschaftlicher Disziplinen, die Wilber in späteren Publikationen stillschweigend fallengelassen habe, sowie die Frage, wo in Wilbers evolutionärem Modell der kontinuierlichen Verbesserung Konzepte wie Tod, Verschlechterung und Verfall ihren Platz hätten?
Als nächstes sprach Sara Ross, deren Rundum-Kritik an Wilbers Modell eben so plakativ wie haltlos war, so dass ich mir die Mühe einer genauen Mitschrift an diesem Punkt ersparte. Das Modell sei voller kategorialer Fehler und da es mit dem Anspruch alles zu erklären auftrete, erkläre es gar nichts und dergleichen. Sara Ross war in der Darstellung ihrer ‚Kritik’ sehr nervös sowie offensichtlich schlecht vorbereitet und wurde auch umgehend von Clint Fuhs aus dem Publikum über den aktuellen Stand von Wilbers Theorie informiert, was die Luft aus dem Ganzen heraus ließ und in mir spontan einen Reflex des „Fremdschämens“ auslöste.
Bonnitta Roy hingegen, ihres Zeichens Prozess-Philosophin und Mitherausgeberin von Integral Review, begann mit folgendem Gedankenexperiment: Was wäre, wenn Wilbers Theorie tatsächlich kompletter Nonsens wäre? Quasi-apologetisch schloss sie, dass Integrale Theorie zumindest den Wert hat, dass sie als eine geteilte Sprache Kommunikation ermögliche. Die Verantwortung im Umgang mit ihr sei unsere, ebenso der Lackmustest ihrer Anwendung. Sie stellte kritisch in Frage, ob der Export einer Entwicklungstheorie aus dem individuell-innerlichen Bereich auf den gesamten Prozess der Evolution anwendbar ist.
Zak Stein appellierte (in Reaktion auf den Beitrag von Sara Ross) als erstes an die hermeneutische Sorgfalt der Kritiker, die seines Erachtens sehr oft fehle. Einem Denker wie Wilber solle man sich – wie jedem großen Denker – als erstes mit einer Hermeneutik des Respekts nähern und auch nicht vergessen vorher seine Hausaufgaben zu erledigen. Seine drei Kritikpunkte zielten auf die Beantwortung der Frage, warum Wilber und seine Theorie wohl in absehbarer Zeit nicht akademischer Mainstream werden:
1.) Die künstliche angelegte Popularisierung der Bewegung: die Selbstdarstellung und die Vermarktung integraler Theorie wie sie von „Integral Life“ betrieben werde ist in der akademischen Welt gelinde gesagt unüblich.
2.) Die unreflektierten ‚Wachstum zum Guten’- Annahmen: hier brauche es einfach einen differenzierteren Diskurs in der integralen Gemeinschaft.
3.) Das Interesse an Befreiung: Integrale Theorie beinhaltet als ein zentrales Element ein Interesse an der radikalen Befreiung und Transzendenz, Erwachen, bzw. Erleuchtung. Das ist eine Komponente, die in der akademischen Welt ebenfalls unüblich ist und Steins Meinung nach nicht offensiv verfolgt werden kann, wenn die integrale Theorie in der nächsten Zeit dort Fuß fassen will. Gleichwohl steht sie bei Wilber im Mittelpunkt des Interesses.
Markus Molz ist derzeit im Abschluss seiner Doktorarbeit und hat kürzlich an der Universität Luxemburg ein internationales Symposium zum Thema „Forschung über Grenzen hinweg“ organisiert. Außerdem ist er Mitgründer von IFIS, einem Institut für Integrale Studien. Auf der ITC hatte er eine weitere Präsentation über „Die vielen Gesichter des Integralen“, weshalb es nicht überraschte, dass einer seiner Haupt-Kritikpunkte an der Integralen Theorie ihre Blindheit / Ignoranz gegenüber anderen ähnlichen Strömungen von Meta-Theorien und umfassenden Ansätzen war. Dieser Vorwurf geht aber nicht nur an Wilber, sondern auch an die Vertreter alternativer integraler Ansätze, z.B. an Erwin Laszlo und anderer Richtungen, die ebenfalls wenig Interesse an Dialog und Austausch über alternative Meta-Konzeptionen zeigten – vermutlich aufgrund der damit einhergehenden Relativierung inhärenter Alleinherrschaftsansprüche. Ferner problematisierte er den Allumfassendheitsanspruch der integralen Theorie, die das Einnehmen eine kritischen Beobachterposition unterminiere. Kritik wird so automatisch systemimmanent umgedeutet („integriert“ und einverleibt), was die Aufrechterhaltung ebenjener kritischen Distanz zur Theorie erschwert.

Robert Kegan: „Gibt es ein Leben nach der ‚Selbst-Autorenschaft’?“

Am Freitag Abend wurde es festlich. Die Teilnehmer wurden mit Shuttle-Bussen von der JFK Universität ins nahegelegene Hilton Hotel gebracht, wo es ein gemeinsames Abendessen gab, welches der CEO von Integral Life und Integral Institute, Robb Smith, mit seinen Begrüßungsworten begleitete. Von der Rede kann ich leider nichts Näheres berichten (ich hatte den Notizblock gegen Gabel und Messer getauscht), aber das Essen und die allgemeine Stimmung waren gut als die Teilnehmer miteinander das Brot brachen.
Die große Keynote-Präsentation des Abends sollte Dr. Robert Kegan von der Harvard-Universität halten. Er hat unter anderem die Bücher The Evolving Self, sowie In Over Our Heads geschrieben und gilt als international anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Erwachsenenentwicklungsforschung. Er ist bei den Studenten beliebt für seine didaktischen Fähigkeiten und hat zahlreiche Ehrentitel und Preise für gute Lehre verliehen bekommen. Seine Präsentation begann mit erheblichen technischen Schwierigkeiten, die er und das Publikum mit Humor und Gelassenheit nahmen, während noch das Dessert gereicht wurde. Als es losging bat er alle, die ihm zuhörten als Antwort einmal in die Hände zu klatschen. Mit einem Schlag hatte er die Aufmerksamkeit des gesamten Plenums – ein Trick, den er nach eigenen Angaben von seiner Tochter abgeschaut hat, die Grundschullehrerin ist. 
Im Ankündigungstext hieß es: Robert Kegan hat sein Leben damit verbracht die Entwicklung der Bedeutungsbildung von Erwachsenen zu studieren. Seine Theorie einer evolvierenden Abfolge von zunehmend umfassenderen „persönlichen Epistemologien“ hat die Theorie und Praxis in zahlreichen Disziplinen auf jedem Kontinent beeinflusst. Die Menschen haben ihn oft gebeten, dass er einen Vortrag darüber halten möge, in welchem es einzig darum geht, was er über die höchste Stufe in seinem Modell, „Stufe 5“ oder „den selbst-transformierende Geist“ herausgefunden hat. In diesem Vortrag geht er zum ersten Mal auf diese Bitte ein.
Der Titel seiner Keynote: „Gibt es ein Leben nach der ‚Selbst-Autorenschaft’?“  (Stufe 4 in seinem Modell) war natürlich nur eine rethorische Frage. Kegan bezeichnet sich als genetischen Epistemologen, d.h. als jemanden, der das implizite Weltverständnis erwachsener Menschen in seiner Entwicklung verfolgt und beschreibt. Dass sich erwachsene Menschen entwickeln ist immer noch eine gesellschaftlich unterrepräsentierte Meinung. Dass Kinder wüchsen sei unbestritten, für Erwachsene hingegen gelte vielerorts die Ansicht, dass sie ab einem bestimmten Alter allenfalls noch an Gewicht zulegten. Das Publikum antwortete mit Gelächter. Doch zugegebenermaßen saß hier auch eine außergewöhnliche Konstellation von an Transformation interessierten Erwachsenen – ein Faktum, dem Robert Kegan alle gebührende Ehre erwies.
Dem Thema näherte er sich vorsichtig, indem er - in hermeneutischen Zirkeln kreisend – Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen in Form von anschaulichen Beschreibungen, Metaphern, Beispielen, Übungen und Geschichten zum Gesamtbild des „selbst-transformierenden Geistes“ (Stufe 5) offerierte. Er begann mit den hinlänglich bekannten Kippbildern aus der Psychologie: „Zeigt diese Bild eine junge oder eine alte Frau?“ Als Gegenbeispiel zeigte er das Bildnis „Begegnung“ von MC Escher. Die schwarzen und weißen Figuren aus dem Hintergrund begrenzen und definieren einander, lösen sich schließlich aus dem Hintergrund in die dritte Dimension und begegnen sich tanzenderweise im Bildvordergrund mit Handschlag. Während im Kippbild das „entweder-oder“ der Alternativen unausweichlich ist, wird bei Escher das „sowohl-als-auch“ und die freundliche Beziehung der Gegensätze betont.
Anschliessend bot Kegan einige Beschreibungen anderer Forscher zu dieser Stufe an: Die Integration von Animus und Anima im Individuationsprozess nach C.G. Jung, Koplowitz’ „postformales Denken / Wissen“, oder Basseches „dialektisches Denken“, welches Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen halten kann.
Das nächste Mosaiksteinchen bestand aus einer Partnerübung, bei der die Anwesenden gemeinsam Sätze konstruieren sollten – mit der Vorgabe, dass jeder immer nur ein Wort beisteuern darf, bevor der Partner wieder dran ist. Im Anschluss reflektierte Kegan darüber, wie man während der Übung leicht ärgerlich werden kann, wenn der Satz sich dann doch nicht in die Richtung entwickelt, die man intendiert hat – ein Effekt, den er durchaus oft bei sich und anderen beobachtet hat. Ein Bewusstsein der Stufe 5 hingegen kann sich leichter auf den Prozess der Co-Kreation einlassen und findet Gefallen daran, den dialogischen Tanz mit dem Partner zu tanzen.
Anhand der Disziplin der Anthropologie verdeutlichte Kegan, wie verschiedene persönliche Epistemologien bzw. Stufen der Bedeutungsbildung auch an der Wissenschaft nicht spurlos vorüberziehen. So war z.B. die Anthropologie des 18. Jahrhunderts geprägt von der Stufe 3, Traditionalismus. Die Fremden wurden als „primitive Wilde“ eingeordnet. Stufe 4, Modernismus sieht fremde Kulturen durch die Brille der eigenen Überlegenheits- und Fortschrittsideologie. Stufe 5, Postmodernismus („postmodern“ umfasst hier mehr als nur „grün“) nimmt Distanz und objektiviert ebenjene Ideologien und abstrakten Systeme erneut, was viele der Vorurteile der vorigen Stufe relativiert.
Aufschlussreich war auch seine Sichtweise auf Konflikte aus der Perspektive des selbsttransformierenden Geistes: Statt zu sagen „Zwei Parteien haben einen Konflikt“ sagt diese Stufe eher „Ein Konflikt hat zwei Parteien“. Es gibt bei letzterer Aussage offensichtlich einen größeren geistigen Rahmen, der beide Sichtweise umarmen und in Beziehung zueinander sehen kann: der Konflikt wird durch zwei einander bedingende Perspektiven co-kreiert. Sie haben etwas miteinander zu tun und sind nicht getrennt, wie die andere Wortwahl nahelegt. Analog könne man einen zylindrischen Körper charakterisieren als „eine Glasröhre, die zwei Öffnungen hat“, statt „zwei Öffnungen, die durch eine Glasröhre verbunden werden“. Im Feld der Partnerschaft: „Eine Beziehung hat zwei Partner“ statt „zwei Partner haben eine Beziehung“.
Aus dem Feld der Politik erwähnte Kegan die Gesundheitsreform von Präsident Obama, der, obwohl er selber natürlich der demokratischen Partei angehört und in diesem Kontext seine persönliche Lieblingsideologie verfolgt, den Dialog mit allen Vertretern suchte. Mit anderen Worten: er war in der Lage seine eigenen Überzeugungen zu objektivieren und sich nicht von ihnen zu Handlungen nötigen zu lassen, ohne andere Überzeugungen in den Entscheidungsprozess mit einfließen zu lassen.
Es gibt in Amerika eine erbitterte Debatte zwischen Abtreibungsbefürwortern („Pro Choice“) und –gegnern („Pro Life“), die vor allem aus der katholischen Richtung kommen. Kegan berichtete, dass die führenden Vertreterinnen beider Organisationen sich heimlich jahrelang regelmäßig monatlich getroffen haben, um die Standpunkt der jeweils anderen Partei zu verstehen. Als ein Pressevertreter darauf aufmerksam geworden war, fragte er, auf welche gemeinsame Schnittmenge man sich verständigt habe. Zu seiner Überraschung erhielt er die Antwort, dass es keine gemeinsame Position gebe, sondern dass beide immer weiterhin an ihren Position festhielten, weil sie ihrer Überzeugung entsprächen. Auf die Frage, wofür man dann weiterhin an monatlichen Treffen über Jahre hinweg festgehalten habe, gaben sie zu Protokoll, sie hätten in dem Austausch deutlich erkannt, dass es ein höheres Prinzip gebe, das beiden Positionen zugrunde liege: Liebe.
Durch diese Erkenntnis der führenden Vertreterinnen beider Position war es nicht länger nötig die Gegenposition zu dämonisieren, oder als das Böse schlechthin darzustellen. Das führte sogar soweit, dass sie einander warnten, wenn radikalere Vertreter aus ihren Gruppierungen Anschläge oder Gewalttaten gegen die andere Gruppe planten. Die Frauen waren in der Lage Ihre eigenen Lieblingsideologien einzuklammern und aus einem höheren Prinzip heraus zu agieren. Es waren nicht mehr zwei Parteien, die einen Konflikt hatten, sondern ein Konflikt, der zwei Parteien hatte mit Menschen, die einander respektvoll begegneten.
Das letzte Mosaik-Steinchen bestand auseinem Ausschnitt aus dem Film „Gandhi“. In der Szene wurde Gandhi, der in Antwort auf den Konflikt zwischen Moslems und Hindus in den Hungerstreik gegangen war, von Vertretern beider Parteien besucht, die ihre Friedensabsichten erklärten, um Gandhi dazu zu bewegen, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Ein Hindu warf ihm dann Essen vor die Füße und schrie ihn an, damit er endlich esse. Er schrie, dass seine Seele ohnehin für die Hölle verdammt sei. Gandhi fragte ihn was geschehen sei, worauf dieser ihm mit weit aufgerissenen Augen sagte, dass er bei den Unruhen ein Kind getötet habe. Als Gandhi fragte warum er das getan habe, sagte er mit tränenerfüllten Blick, dass die Moslems seinen Sohn getötet hätten und er anschließend Rache genommen habe. Darauf Gandhi: „Es gibt einen Ausweg aus der Hölle. Suche dir ein verwaistes Kind, so alt wie dein Sohn, und zieh ihn groß. Die einzige Bedingung ist, dass er Moslem ist und dass du ihn nach den Gebräuchen seiner Tradition großziehst.“ Daraufhin kniete der Mann nieder und berührte aus Dankbarkeit Gandhis Füße.
Kegan bemerkte, dass Gandhi nicht etwa gesagt hat: „Suche einen verwaisten muslimischen Jungen und ziehe ihn als einen Hindu groß.“ Noch hat er gesagt: „Werde Moslem und ziehe den Jungen muslimisch groß“.  Stattdessen gab er ihm eine Aufgabe und Injunktion zur Förderung eines Bewusstseins, dass beide Positionen aus einer höheren Warte halten kann.
Robert Kegan stellte fest, dass die Lebenserwartung der Menschheit in den letzten Jahrhunderten dramatisch gestiegen sei und er fragte nach dem Sinn dieser Tatsache. Könne es womöglich sein, dass die Spezies Mensch an einen kritischen evolutionären Punkt komme, in der es zweckmäßig sei, dass wir lange genug lebten –  so dass möglichst viele von uns eine Stufe der Komplexität des Bewusstseins entwickelten, die uns als Menschheit einen Weg aus der Hölle weise? Mit dieser Hypothese beendete Kegan seine Präsentation unter stehenden Ovationen.

Jordan Luftig: „Aufbau einer Bewegung durch Meta-Erzählung: Ein ideologischer Ansatz zur Inszenierung einer integralen Zukunft“

Jordan Luftig arbeitet an der JFKU und forscht für das Integral Research Center. Für das Journal of Integral Theory and Practice (JITP) hatte er einen gleichnamigen Artikel geschrieben, den er nun in leicht abgewandelter Form präsentierte. Ursprünglich hatte er im Kontext von Jim Garrisons globaler Leadership Kampagne („State of the World Forum“) daran geforscht, wie man Menschen für integrale Ideen im Umgang mit der Klimakrise begeistern kann. Das Ergebnis seiner Forschung hat aber darüber hinaus Implikationen für die Kommunikation integraler Ideen in der Öffentlichkeit im allgemeinen.
Da ich selber in großem Maße ähnliche Ziele teile und mit Freunden und Kollegen im deutschsprachigen Raum verfolge, interessierte mich diese Präsentation besonders. „Wie bringen wir ein integrales Zeitalter hervor?“ Diese Frage treibt auch Jordan Luftig um. Über die beiden Standardantworten, Entwicklung integraler Theorie und Entwicklung integraler Anwendungen in der Praxis, sagte er, dass er sie zwar für ungemein wichtig, aber dennoch für unzureichend halte. Seiner Ansicht braucht es eine soziale Bewegung, die aus einer integralen Ideologie gespeist wird. Wir müssen die Politisierung der integralen Theorie umarmen und voranbringen.
Wie bitte? Politisierung  der integralen Theorie und „integrale Ideologie?“ Mit Ideologie verbinden wir gemeinhin etwas Negatives, ein emotional aufgeladenes, mit Mythen unterfüttertes Glaubenssystem. Karl Mannheim unterschied 1936 zwischen zwei Formen von Ideologien: partikuläre und totale Ideologien. Erstere Definition bezieht sich auf die bestimmten Ansichten einer Partei oder Interessengruppe, z.B. Kommunismus. Letztere hingegen bezieht sich auf die charakteristische Denkweise einer ganzen Klasse oder einer historischen Epoche - Beispiele sind mittelalterliches Denken oder Modernismus.
In Luftigs Worten: „Wenn man es in integrale Begriffe übersetzt, dann besitzt eine partikuläre Ideologie die „wir-gegen-sie“ Mentalität, die das Denken innerhalb aller Weltsichten des ersten Ranges charakterisiert. Eine totale Ideologie dehnt das Konzept der Ideologie so weit, dass sie das Denken über eine Weltsicht bedeutet, egal ob erster Rang (z.B. bernstein-mythisch, orange-rational) oder zweiter Rang (z.B. petrol und türkis-integral) oder höher. In diesem letzteren Sinne ist die AQAL-Integrale Gemeinschaft von einer Ideologie angetrieben – Integralismus – und redet die ganze Zeit über Ideologien!“
Was leisten Ideologien? Sie destillieren die zentralen Aspekte einer Weltanschauung oder Theorie, brechen Sie in verständliche Einheiten herunter und motivieren Menschen zu konkreten Handlungen in der Welt. Wenn man mal über ihren schlechten Ruf hinwegsieht, der ihnen wegen ihrer partikulären Varianten anhängt, sind sie sehr kraftvoll und bewegen eine Menge in der Welt. Jordans Überzeugung ist, dass das Integrale ein um Vieles würdigerer Kandidat dafür ist, eine Ideologie zu sein, als jedes andere Gedankensystem. Ideologien sinddie Basis für kollektive Identität und kollektives Handeln.
Er charakterisierte die Injunktionen seines ideologischen Ansatzes wie folgt:
1.     Lasse dich in den Geist und das morphische Feld von Ideologie einsinken
2.     Benutze Ideologie als konzeptuelle Linse und heuristisches Mittel
3.     Grabe im Integralen – der Theorie und Gemeinschaft – nach Ideen, um der integralen Bewegung beim Wachsen zu helfen und die Gesellschaft zu transformieren.
Als nächstes führte er das Konzept der Meta-Erzählung ein. Das ist nicht identisch mit Meta-Theorie, wie man denken könnte. Auch bedeute es nicht, die Leute dort abzuholen, wo sie stehen. Das ist den meisten als integrale Kommunikationsstrategie schon in Fleisch und Blut übergegangen. Der Nachteil ist, dass wir als Integrale dabei mit unserer Position unsichtbar werden und unsere eigene einzigartige Stimme opfern. Eine weitere Art, wie wir unsere Stimme preisgeben, ist, wenn wir ausschließlich mit der Stimme des neutralen Modells sprechen, der „Stimme des wahlfreien Gewahrseins“.
 
Wilber sagt an mehreren Stellen, dass AQAL im Prinzip ein inhaltsleerer Rahmen ist, den wir selber mit Inhalt füllen können.  Jordan kontrastierte das mit Wilbers anderer Stimme, die ebenfalls oft bei ihm durchschlägt, so z.B. in Eros, Kosmos, Logos, wo er passioniert Partei gegen die vorherrschende Flachland-Weltsicht ergreift. Dies ist die andere Stimme, die narrative Stimme, bzw. die „Stimme der Wahl“.  Beide Stimmen sind wichtig, doch wenn wir die narrative Stimme vernachlässigen, was Jordan zufolge in der integralen Bewegung derzeit geschieht, werden wir niemals eine breitere Masse von Menschen erreichen und bewegen können.
Ein Mensch, der das in der jüngeren Vergangenheit getan hat, war Barack Obama. Entsprechend hat Jordan dessen Strategie genauer unter die Lupe genommen. Er fand heraus, dass die Menschen, die sich für seine Nominierung einsetzten, in „Camp Obama“ gelehrt wurden, drei verschiedene Geschichte zu erzählen:
1.     Die Geschichte des „Selbst“
2.     Die Geschichte von „uns“
3.     Die Geschichte des „jetzt“
Dieser Ansatz des public narrative geht auf Marshall Ganz zurück, der ihn als eine Leadership-Kunst bezeichnet. Integralisten erkennen darin unschwer die Großen Drei (Ich, Wir, Es) wieder. Es ist eine integrale Weise des Geschichten-Erzählens.
Doch wie sieht es in der integralen Gemeinschaft selbst aus? In Jordans Worten: „Basierend auf meinen Erfahrungen sind integrale Leader schnell bei der Hand damit die Geschichte des jetzt, über den Zustand der Welt zu erzählen, begleitet von der Geschichte davon, wie wir zusammenkommen müssen, um die planetaren Probleme zu lösen[...].Möge es so sein und mögen wir so sein. Was ist mir dir und „Ich“? Die Geschichte des Selbst wird oft vernachlässigt oder wird nicht erzählt.“
Warum auch immer das so ist - das entspricht auch meiner Erfahrung. Mit einem Zitat von Marshall Ganz machte er deutlich, warum das Auslassen der Geschichte des Selbst unsere Glaubwürdigkeit untergräbt: „In persönlichen Begriffen bedeutet das, dass die meisten Teilnehmer sowohl Geschichten haben über den Schmerz der Welt als auch die Hoffnung der Welt. Und wenn wir zuvor noch nicht gelernt haben, über unsere Geschichten des Schmerzes zu sprechen, kann es eine Weile dauern zu lernen damit umzugehen. Doch wenn andere versuchen zu verstehen warum wir tun, was wir tun – und wir dieses Stück auslassen – wird unser Bericht Authentizität vermissen lassen, was Fragen über den Rest der Geschichte aufkommen lässt.“
Die Kunst der Führung ist also eng mit der Fähigkeit verbunden andere Menschen durch das eigene Beispiel zu berühren und dadurch Glaubwürdigkeit auszustrahlen –  ein Mensch zu sein, mit dem man sich identifizieren kann.  Das ist die Kraft der Geschichte des Selbst und eine der zentralen Botschaften, die ich persönlich von der ITC mit nach Hause nehme. Ich muss meine /wir müssen unsere eigene integrale Stimme finden und ausdrücken. Das ist nicht die neutrale Stimme des wahlfreien Gewahrseins, die im öffentlichen Diskurs chamäleongleich verschwindet, sondern die passionierte Stimme der Wahl. Ich kann es mir buchstäblich nicht leisten, mich dabei ständig hinter großen Denkern, umfassenden Theorien und hehren weltzentrischen Idealen und dem „höheren Wir“ zu verstecken, sondern muss lernen mitzukommunizieren, was mich persönlich antreibt all diese Dinge zu tun -  die evolutionäre Verantwortung auf mich zu nehmen, die oftmals undankbare Pionierarbeit zu leisten, Karriereentscheidungen gegen den Strom der Gesellschaft zu treffen, meine Beziehungen aufs Spiel zu setzen, meine Familie zu irritieren, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Sonst können mich die Menschen nicht spüren und mir nicht vertrauen.
Was ist es, was ich am Integralen so unendlich kostbar finde und warum? Was ist es, wofür ich Ken Wilber und anderen so unendlich dankbar bin? Welche zarten Hoffnungen nähre ich in meinem Herzen? Worunter leide ich, wenn ich etwas als weniger als integral wahrnehme? Was sehe ich als das strahlende Versprechen und erstrebenswerte Ziel des integralen Bewusstseins? Wie kann ich meine eigene Erschütterung über den Grad der Fürsorge und Mitgefühls des integralen Bewusstseins wenigstens als Nachbeben spürbar machen? Wie kann ich mein brennendes Verlangen, die höhere Wahrheit, Schönheitund Güte der integralen Vision mit anderen Menschen zu teilen, kommunizieren, ohne dass es kitschig oder pathetisch klingt? Wie kann ich meiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen an diesem Wissen teilhaben zu dürfen und wie kann ich der damit einhergehenden Verantwortung gerecht werden?
Das sind Fragen, die mich persönlich umtreiben und die vielleicht ein guter Einstiegspunkt in eine kontinuierliche Praxis sind, um zu lernen die Geschichte des Selbst zu erzählen. Wer bist Du? Warum liest Du solche Berichte? Was hat das mit Dir, Deinem Schmerz und Deinen Hoffnungen zu tun? Tritt hervor und zeig Dich – wir und die Welt brauchen Dich!

TEIL II

Integrale Bildung / Massenbewegung / Spiritualität & „eine kausale Version von Kuckuck!“

Zak Stein, Katie Heikkinnen: „Entwicklungsunterschiede im Verständnis Integraler Theorie und Praxis – Vorläufige Ergebnisse des iTEACH Projekts“

Die beiden Protagonisten stellten in diesem Beitrag ihr Modell eines Lectical Integral Model Assessment (LIMA) vor, eines Test für Integrales Denken. Es stellt eine Anwendung des Lectical Assessment System (LAS) von Theo Dawson dar, welches auf den Arbeiten von James Mark Baldwin, Jean Piaget, und in jüngerer Zeit von Kurt Fischer und Michael Commons fußt. Das LAS ist ein generelles System zur Bewertung verbaler Performances. Weil seine Bewertungskriterien unabhängig von der inhaltlichen Domäne sind, sondern das Hauptaugenmerk des Forschers eher auf der logischen Struktur und der hierarchischen Ordnung der Abstraktionen liegt, bot es sich für diese Art von Forschung besonders an. In gewisser Weise durchschaut der Analyst den Inhalt jeglicher Performance, um die darunterliegende Struktur zu identifizieren.
LIMA ist eine Anwendung des LAS im Rahmen des Integralen Masterstudiengangs an der JFK University. Es wurde untersucht, welche Komplexitätsunterschiede im Verständnis grundlegender Kategorien der Integralen Theorie nach Ken Wilber, insbesondere im Verständnis von Quadranten und von Ebenen & Linien der Entwicklung, es unter den Studierende gibt. Neben demographischen Daten wurden sechs offene Essay Fragen und sechs Dilemmas zur Auswahl angeboten, auf die AQAL angewendet werden sollte. Aus diesen Daten (von 47 Teilnehmern) ließen sich entwicklungsgemäße Lernsequenzen für Quadranten und Ebenen & Linien rekonstruieren, was besonders interessant aus pädagogischer Sicht für die Veranstalter des Studiengangs ist. Mithilfe einer „Entwicklungs-Mäeutik“ (bzw. Hebammenkunst) können die Studenten auf diese Weise optimal auf Ihrem Lernweg begleitet werden.
Der Maßstab, anhand dessen die Komplexität beurteilt wurde, war in diesem Fall die sog. „Lectical Phase“ die in frühe, mittlere und späte Entwicklungstufen und deren Inhalte in Bezug auf die Konzepte über „Quadranten“ aufgeteilt ist. Die einzelnen Phasen werden in der „Dynamic Skill Theory“ von Fischer wie folgt bezeichnet: (0)reflexive Handlungen, (1) reflexive Mappings, (2) reflexive Systeme, (3) einzelne sensomotorische Handlungen, (4) sensomotorische Mappings, (5) sensomotorische Systeme, (6) einzelne Repräsentationen, (7) repräsentationale Mappings, (8) repräsentationale Systeme, (9) einzelne Abstraktionen, (10) abstrakte Mappings, (11) abstrakte Systeme, und (12) einzelne Prinzipien / Axiome. Die Elemente dieser Skala selbst wurden wiederum unterteilt in ein vier Unterphasen, von Übergang / Ankommen in der jeweiligen Phase (:1) bis hin zu sehr elaborierten Formen einer Phase (:4). Das Spektrum der vorkommenden Antworten bewegte sich im Bereich 10:4 am unteren Ende bis 12:3 am oberen Ende des Entwicklungsspektrums (o.g. Zifferncodes werden kombiniert).
Es folgen nun einige Beispiele für Sequenzen in der Komplexität des Verständnisses von Quadranten:
10:4 – 11:2: als Checkliste relevanter Dinge; als Perspektiven / Linsen
11:3- 11:4: hinsichtlich ihres Gebrauchs als Quadrivium / IMP Zonen; als Aspekte der Realität
12:1- 12:3: hinsichtlich ihrer Fähigkeit uns zu helfen verschiedene Faktoren zu organisieren; als Set von Methoden oder Injunktionen, die anzuwenden sind; als (impliziter) Hintergrund für ein ganzheitliches, sorgsames Urteil
Man muss dazu sagen, dass frühe Konzeptionen über Quadranten nicht einfach „falsch“ oder gar wertlos sind. Die Quadranten als eine Art „Checkliste relevanter Dinge“ zu betrachten, kann trotz allem sehr nützlich sein, weshalb dieses Konzept auch auf späteren Entwicklungsebenen innerhalb dieser Sequenz auftauchte – aber nicht umgekehrt. Die Quadranten beispielsweise als ein „Set von Methoden oder Injunktionen, die anzuwenden sind“ zu verstehen, schließt den Gebrauch als simple Checkliste nicht aus, erweitert ihn aber um bedeutsame Dimensionen und ist insgesamt elaborierter zu werten.
Bei Angaben zu Ebenen & Linien kam es zu folgender Verständnissequenz:
10:4 – 11:2: werden in den Begriffen von Farben verstanden; werden mit Wissenschaft, Gott und Business assoziiert; sind synonym mit Entwicklungshöhe
11:3 – 11:4: gehen von weniger abstrakt zu mehr abstrakt; sind Strukturen des Bewusstseins; sind qualitativ distinkt
12:1 – 12:3: beinhalten zunehmende Differenzierung und Integration; sind emergente Eigenschaft des Denkens
Ebenen & Linien erwiesen sich als problematische Konzepte. Auf den frühen Stufen des Verständnisses tauchen kaum Zweifel über die Verlässlichkeit dieses Konzeptes im Vorhersagen menschlichen Verhaltens oder Sorge um den Mangel an verfügbaren Daten auf. Erst auf späteren Stufen tritt dies vermehrt in den Vordergrund und es wird deutlich, dass Lösungsvorschläge, wie z.B., dass vor einer Handlung zuerst mal das Psychogramm aller Beteiligten erstellt werden sollte, reichlich naiv - weil ressourcenintensiv, unzuverlässig und unverhältnismäßig - sind.
Zudem wurde in den Daten deutlich, dass einzelne Ebenen-Konzepte, wie z.B. die Farben von Spiral Dynamics (rot, blau, orange, grün, usw. ) überdurchschnittlich häufig dazu verwendet wurden, um Menschen mit bestimmten Etiketten zu versehen („labeling“), was einem ziemlich undifferenzierten Gebrauch (manche würden sagen „Missbrauch“) von Entwicklungsmodellen entspricht. Interessanter- und gleichermaßen erschreckenderweise gab es diese Tendenz nicht nur bei denjenigen, die auch sonst eher ein einfaches Verständnis dieser Ebenen hatten, sondern auch bei denjenigen, deren sonstige Antworten eine spätere Entwicklungsphase nahelegten. Stein und Heikkinnen bezeichneten die Spiral Dynamics Farben als „stagniertes Konzept“. Während sich das Konzept der Quadranten über mehrere Abstufungen der Komplexität entfaltete und sogar das – den Ebenen quasi-analoge - Konzept „Weltsichten“ Gradationen aufwies, scheinen fast automatisch kognitive Scheuklappen und Stereotypen wirksam zu werden, wann immer die Rede von Farben als Synonyme für Entwicklungsebenen ist.
Über mögliche pädagogische Implikationen äußern sich Stein und Heikkinenwie folgt: Lehrer und Studenten sollten mehr Vorsicht walten lassen, wenn sie das Modell der „Farben“ im gemeinschaftlichen Diskurs verwenden. So könnte es z.B. lohnenswert sein, wann immer jemand eine Person oder Gruppe einfach als orange, bernstein oder grün charakterisiert, sie oder ihn zu bitten doch etwas auszuführen, welche Charakteristiken und Eigenschaften der Person oder Gruppe dieses Label rechtfertigen. Das würde der Annahme entgegenwirken, dass die Farben eine klare, unhinterfragte intersubjektive Bedeutung haben. Es wird auch einige der Muster brechen, die dazu führen, dass das Integrale in ein exklusives (manchmal insuläres) Sprachspiel gemacht wird. D.h. statt grün als einen einfachen Deskriptor kultureller Produkte zubenutzen, könnten wir detailliertere und spezifischere Wendungen wie anti-kapitalistische web-basierte Medien der Gegenkultur konstruieren. Eine solche Phrase – so dicht sie auch ist – ist spezifischer in Hinsicht darauf, was diskutiert wird und bedeutsamer für ein größeres Publikum als In-Group Jargon.
Die in Teil 1 dieses Berichts erwähnte Problematik der simplen „Wachstum-zum-Guten-Annahme“ wurde erneut thematisiert. Höhere (kognitive) Entwicklung korreliert nicht in jedem Fall mit dem moralisch Guten, bzw. wünschenswerten Eigenschaften. So kann man, wie Stein bereits an anderer Stelle hervorgehoben hat, Schaulogik auch dazu verwenden, um eine, sich auf viele wissenschaftliche Disziplinen stützende, Theorie des Rassismus zu untermauern: „Ein einfaches „Wachstum-zum-Guten“ Verständnis von Entwicklung war verbreitet bis hin zu Ebene 11[der vorliegenden Daten, D.W.]. Dieses wurde, in manchen Fällen, mit dem Verständnis assoziiert, dass entwickeltere Menschen die Welt führen sollten. Das ist ein verstörender Trend, der einiges aus der Sprache der Eugenik aus dem letzten Jahrhundert wiederertönen lässt.“
Mein Empfinden ist, dass gerade deutsche Integrale (wie auch ich), die sich mit Feuereifer und Leidenschaft darauf stürzen, die Welt mit einer neuen Version von Heil zu beglücken (die deutsche Integrale Szene ist interessanterweise im internationalen Vergleich verhältnismäßig groß und gut organisiert), sich diesbezüglich öfter mal kritisch prüfen und auch eigenes Nichtwissen und die damit verbundene Unsicherheit aushalten lernen sollten. Schon einmal haben wir uns in unserer Geschichte dazu hinreißen lassen, einem simplistischen Entwicklungsschema aufzusitzen und konsequent in den Abgrund zu marschieren. Wo aus unbewusster Angst heraus das Vage und Unbestimmte zugunsten von undifferenzierten Stereotypen über Bord geworfen wird, die im Gegenzug das trügerische Gefühl vermitteln „auf der sicheren Seite zu stehen“, bzw. „in die richtige Richtung zu gehen“, sollten wir innehalten und dreimal tief durchatmen. Gewiss tun wir unser Bestes und können auch nur aus unserem besten Verständnis heraus agieren – aber wie Ken Wilber es in Bezug auf alle diese Modelle einmal sagte: „Hold it lightly“ – lasst uns diese Ideen und Modelle leicht nehmen – und zwar als heuristische Ideen und Modelle, nicht als letztgültige Wirklichkeit. Sie sind wertvoll - solange sie nicht uns haben, sondern wir sie.

Bence Gánti: „Persönlichkeitstransformation durch Integrale Erwachsenenbildung - das Modell der Integralen Akademie“

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich erfahren, dass es neben DIA in Deutschland auch bei unseren Nachbarn in Ungarn schon länger eine Integrale Akademie gibt. Daher entschied ich mich als nächstes die Präsentation von Bence Gánti, seines Zeichens klinischer Psychologe, zu besuchen, denn ich wollte das Konzept näher kennenlernen und den innereuropäischen Kontakt und Austausch vertiefen.
Seit 2006 existiert das Angebot der Integralen Akademie in Budapest, das interessanterweise im selben Jahr ins Leben gerufen wurde, wie der integrale Studiengang an der JFK Universität. Jenseits der Einsichten, die man in gelegentlichen Wochenendworkshops und im Einzelstudium über die integrale Theorie und Praxis gewinnen kann, ging es Gánti von Anfang an darum, ein umfassendes Programm und eine kontinuierliche, unterstützende Lernumgebung zu schaffen, die darauf ausgelegt ist, tiefgreifende Transformation zu ermöglichen, so dass am Ende Menschen mit mindestens integralem Bewusstseinsschwerpunkt dabei herauskommen - kein geringer Anspruch. Das „Integrale Psychologie Programm“, das man in Budapest absolvieren kann, und das letztlich zum staatlich anerkannten Abschluss des „Integral Counseler“ führt, dauert drei Jahre und beginnt im ersten Jahr mit einer theoretischen Grundlegung der psychologischen und spirituellen Lehren der großen Weisheitstraditionen. Parallel beginnen dazu die erfahrungsorientierten Therapie-Gruppen.



Abb: Übersicht über die Blöcke des Studiums 

Ab dem zweiten Ausbildungsjahr kommt neben dem ausführlichen, theoretischem Studium aller einschlägigen Linien der Entwicklung, mitsamt ihrer ursprünglichen Modelle, das therapeutische Kommunikations-Training hinzu, bei dem die Teilnehmer Grundfertigkeiten erlernen, die sie später zum Integral Counselling befähigen sollen. Nachdem im ersten Jahr der Container der Integralen Sangha gefestigt wurde, erproben sie nun ihre Fertigkeiten miteinander und aneinander. Im dritten Jahr liegt der Hauptschwerpunkt auf der Erkundung von Bewusstseinszuständen und Typen. Konsequenterweise mündet das in einer intensiven Praxis-Erfahrung, die in Form eines mindestens 14-tägigen spirituellen Retreats als Teil der Ausbildung absolviert werden soll. Die jeweilige Form oder Tradition können die Teilnehmer frei auswählen. Die einzige Bedingung ist, dass es sich um eine lebendige Tradition oder Linie der Lehre handeln muss. Am Ende schreiben die Teilnehmer eine Abschlussarbeit. Besonders viel Wert wird auf den Aufbau einer Integralen Gemeinschaft bzw. „Seelen-Familie“ gelegt, der ein großes transformatives Potential zugeschrieben wird.
Nach dem Überblick über das Konzept der Integralen Akademie führt Bence uns in einen Erfahrungsteil mit einer Übung zur Begegnung, die auch in den erfahrungsorientierten Therapiegruppen zum Einsatz kommt. Wir versammelten uns stehend im Kreis. Er bat uns daraufhin uns umzudrehen, bis ganz zur Wand zu laufen, die Augen zu schließen und uns von dort aus langsam wieder rückwärts in die Raummitte zu bewegen, bis wir auf jemanden stoßen. Tastend sollten wir dann über die Hände Kontakt mit dem Fremden aufnehmen, bis wir uns schließlich umdrehen und einander in ruhigem Augenkontakt schweigend gegenüber stehen sollten. Bence leitete die Übung sehr respektvoll und behutsam und eröffnete den Teilnehmern mit ihrer bislang überwiegend sehr mentalen Konferenzerfahrung einen intimen Raum der menschlichen Kontaktaufnahme, der – trotz gewisser Vorbehalte gegenüber postmoderner Kuschelei – im Großen und Ganzen sehr positiv von den Teilnehmern aufgenommen wurde. Hier wurde mir wieder deutlich, dass eine reife integrale Haltung auch entspannt und ohne (Differenzierungs-)Allergie mit solchen Übungen umgehen kann – jedoch ohne in die „wir-haben-uns-alle-sooo-lieb“ Naivität abrutschen zu müssen. Mein Gesamt-Fazit: von der Akademie in Ungarn können wir das integrale walk-the-talk lernen.

Paneldiskussion: „Ist das Integrale eine Massenbewegung oder ein elitäres Unterfangen?“ mit Mark Forman, Jeff Salzmann, Steve McIntosh, Frank Visser, Marc Gafni und Charles Flores

Die Leitfrage der nächsten Panel-Diskussion, die ich im Anschluss besuchte, brennt wohl den meisten Freunden von Ken Wilbers Arbeit auf der Seele – spätestens seitdem letzterer mit vollmundigen Ankündigungen der nächsten revolutionären Bewusstseinstransformation der Menschheitsgeschichte innerhalb der nächsten zwei Dekaden aufgewartet hat. Jedenfalls ging und geht es mir so. Was ist dran an dieser wilden Hypothese? Auf welche Daten können wir diesen evolutionären Optimismus stützen? Wann werden die zahlreichen integralen Schuldscheine durch konkrete integrale Projekte und Anwendungen eingelöst? Machen wir uns innerhalb eines elitären Sprachspiels etwas vor, das einer soliden Grundlage entbehrt? Wer ist in der Position darüber zu befinden? Und: sind wir überhaupt eine Gemeinschaft und/oder wen meinen wir mit diesemPronomen „wir“?
Von Genpo Roshi habe ich gelernt, den Wert der inneren Stimme des Skeptikers innerhalb des Konzert des Selbstes zu würdigen. Dass diese „unbequemen“ Fragen den Raum bekamen, um von eminenten Vertretern des integralen Feldes kontrovers diskutiert zu werden, versicherte mir einmal mehr, dass ich es auf dieser Konferenz mit einer soliden wissenschaftlichen Haltung zu tun hatte.
Das Panel begann damit, dass der Diskussionsleiter Mark Forman von allen Teilnehmern Stellungnahmen zum Titelthema erbat. Es begann Jeff Salzmann, der Leiter des Boulder Center for Integral Living und zentrale Persönlichkeit beim Aufbau des Integral Institute. Er sagte, dass es eine kleine Gruppe von Wilber-Freunden gebe, aber daneben de facto auch viele Menschen, die sich selber nicht als „integral“ identifizieren würden, aber nichtsdestotrotz auf diesem Entwicklungsniveau operieren. Wichtig sei es seiner Ansicht nach zu beobachten, was bereits in vielen Bereichen geschieht.
Rabbi Marc Gafni, spiritueller Lehrer und zusammen mit Diane Hamilton u.a. Mitbegründer von iEvolve, sowie spiritus rector des Integral Life Spiritual Center sprach zunächst über die Definition des Integralen in Begriffen eines rekonstruktiven Projektes. Es selber sei eine Ebene, die dieses Projekt erfüllt und die Kern-Ebenen von Bedeutung rekonstruieren kann. Die integrale Gemeinschaft ist für Gafni selber ein Teil dieses Projektes und Empfänger einer gemeinsamen Überlieferung aus der Vergangenheit. Gleichzeitig gehe es darum selber wiederum eine reichere Matrix von Bedeutung zu kreieren, in die zukünftigen Generationen hineingeboren werden können.
Steve McIntosh, Unternehmer, Philosoph und Autor des Buches „Integrales Bewusstsein“ nahm den Faden der historischen Rekonstruktion von Gafni auf und sieht in den Werten des Wahren, Schönen und Guten einen Attraktor, der letztlich zur Emergenz der Moderne und auch der Postmoderne geführt hat. Der Erfolg der Postmoderne selbst ermöglicht erst das Erblühen des Integralen auf dialektische Weise. Das Reizwort Elitismus kommentierte er mit Verweis auf den Zusammenhang von Tiefe und Spanne, den Wilber schon in „Eros, Kosmos, Logos“ (EKL) dargestellt hat. Jede der großen Epochen bringe ihre maßgeblichen Meisterwerke hervor und EKL falle seiner Ansicht nach in diese Kategorie.
Frank Visser, Wilber-Kritiker und Betreiber von www.integralworld.net, vertrat hingegen die Ansicht, dass EKL seiner Wahrnehmung nach nicht besonders viel Wellen gemacht und nicht die Aufmerksamkeit erfahren hat, die einem epochalen Meisterwerk vergleichsweise zukommt. EKL sei zwar ein originelles Werk, aber es sei schwierig, die Wirkung zu beurteilen. Ferner verglich er Wilbers Bestreben nach Umfassendheit mit Ansätzen aus der Richtung der Theosophie, der Visser sich lange gewidmet hat.
Charles Flores, Psychotherapeut, Yoga-Lehrer und Aurobindo-Experte, vertrat die Auffassung, dass es noch zu früh für ein abschließendes Urteil in dieser Sache sei und verwies auf jahrhundertealte erfahrungsbasierte Traditionen, wie den tibetischen Buddhismus. Man könne leicht auf große Ideen aufspringen, nur um nicht allzu lange später feststellen zu müssen, dass das doch nicht das Gelbe vom Ei sei. AQAL sei eine großartiges Konzept, aber wir bräuchten Zeit, damit die Tiefe darin sich zeigen könne. Für ihn habe das Integrale eine einseitig maskuline, penetrierende Qualität. Auch die Art und Weise, wie Integral Life Werbung macht stieß ihm negativ auf. Mit der Aurobindo-Brille betrachtet komme AQAL sehr kognitiv daher, die anderen Linien der Entwicklung sollten seiner Ansicht aber auch nachziehen. Zwar hätten wir viele überzeugende Antworten, doch trotzdem bewegten wir uns innerhalb eines großen Mysteriums, weshalb Aufrichtigkeit und Demut zentrale Eigenschaften seien.

„An welchen Punkt sollte die Integrale Bewegung ansetzen?“

Mark Forman leitete über zur nächsten Frage, die auf die strategische Intervention mit integralem Wissen abzielte: „Welcher Gruppe sollten wir bevorzugt integrales Material geben?“ Was ist der archimedische Punkt, bzw. der soziale Akupunkturpunkt, an wir ansetzen sollten, um die beste Wirkung zu entfalten?
Marc Gafni unterbrach mit einigen differenzierende Bemerkungen über das Verhältnis von Liebe versus Kritik und Tiefe versus Begeisterung. Dies seien falsche Dichotomien und Phänomene, die einander keinesfalls ausschließen. Kritik könne eine Form von Liebe sein und das Stadium der Begeisterung für etwas sei notwendig, wenn man in die Tiefe gehen wolle, was aber nicht zwangsläufig heiße, dass man das Objekt der Begeisterung vergöttere. Stattdessen sollten wir uns unserer Begeisterung nicht schämen, sondern ihr Raum zur Entfaltung geben. Hier drängte sich mir wieder Genpos Voice Dialogue Idee auf, in der auch die Stimme der Begeisterung im Konzert des Selbst einen guten Platz finden kann.
Steve McIntosh nahm den Ball von Mark Forman auf und sagte, dass er den Versuch der Beeinflussung der akademischen Welt (wie z.B. durch die ITC) für sinnvoll halte. Ferner sei das Integrale auch ein soziales Ereignis und eine Menge „juice“ sei entsprechend auch außerhalb der akademischen Welt zu finden. Seiner Ansicht nach sollte der Versuch unternommen werden, die Gruppe der progressiven Spirituellen („New Age“) zu beeinflussen. Das integrale Wissen könne diesen Menschen eine hilfreiche Orientierung bieten.
Jeff Salzmann stellte die in seiner persönlichen Erfahrung erfolgreichsten drei „Killer-Apps“ – neudeutsch für „extrem erfolgsversprechende Anwendungsbeispiele“ – vor:

1.     Integraler Sonntags-Gottesdienst

2.     Politik: Anwendung des integralen Ansatzes zur Lösung aktueller Probleme

3.     Karriere-Entwicklung: Coaching-bezogene Anwendung des Ansatzes im Kontext eines Projektes / einer Vision, an deren Umsetzung Menschen konkret arbeiten (vgl. das Veranstaltungs-Format des „Integral Incubator“ [Brutstation]).

Charles Flores sah ein großes Potential des Integralen Ansatze in seiner Fähigkeit verschiedene Traditionen zusammenzubringen. Am besten werde er verstanden als ein Werkzeug, um mit dem zu arbeiten, was bereits vorhanden ist, um graduelle Evolution von Grund auf zu ermöglichen.
Frank Visser berichtete von den politischen Ereignissen in den Niederlanden und dem Rechtsruck, der durch Populisten wie Wilders befeuert wird. In diesem Zusammenhang vermisste er eine integrale Analyse des politischen Geschehens und vertrat die Ansicht, dass dies ein sehr kraftvoller Weg sein könnte, um Aufmerksamkeit zu gewinnen und einen Punkt zu machen.

„Welchen Aspekt der Theorie wollen wir opfern?“

„Heuchelei ist der erste Schritt zu guten Taten.“ Mit diesem Zitat von Hunter Lovins leitete Mark Forman die nächste Frage ein: „Sind wir bereit den transzendenten Anteil der integralen Theorie um der breiteren Anwendung willen zu opfern? Sind wir bereit, uns in dieser Weise selbst zu begrenzen?“
Marc Gafni sprach in dieser Hinsicht von der „Second Simplicity“, einer Einfachheit zweiter Ordnung, die nötig sein. Die Entwicklungssequenz verlaufe über „Einfachheit 1“ zu „Komplexität“ bis hin zu „Einfachheit 2“, wobei letztere die Einfachheit ist, die die Komplexität transzendiert und integriert. Sie bleibt nicht in Komplexität stecken, sondern ist in der Lage AQAL für Laien verständlich aufzubereiten und nutzbar zu machen. Dieses Projekt verfolge er zur Zeit zusammen mit Zak Stein, Nicole Fegley, Clint Fuhs und Ken Wilber. (Nachtrag: Es ist mittlerweile als Online-Kurs erschienen und abrufbar unter www.secondsimplicity.com.) Sein Bestreben sei es, die neuartigen Konzepte des „Einzigartigen Selbst“, der „Zukunft der Liebe“ und ähnlicher Themen im Umfeld der Integral Spiritual Experience Veranstaltungsreihe breiter zugänglich zu machen. Er berichtete von seiner Vision einer neuartigen Welt-Spiritualität, die auf integralen Prinzipien basiert, die von rund hundert spirituellen Lehrern aus der ganzen Welt verbreitet werden könnte, was einen enorme Fernwirkung in andere Bereiche haben könnte. Er sagte, es sei ein chaotischer und aufregender Prozess und man mache auch Fehler.
Für Steve McIntosh war es wichtig, dass vor allem die zentrale Botschaft übermittelt wird, dass sich Bewusstsein entwickelt. Das Integrale werde derzeit noch vielfach als eine Art „grüne Mode-Erscheinung“ gesehen, verhalte sich jedoch subversiv gegenüber den postmodernen Werten. Er äußerte die Hoffnung, dass integrale Werte letztlich auf die gesamte Spirale abfärben werden [kein Wortspiel des Autors intendiert, DW] und zeigte sich zuversichtlich, dass sich aufgrund des dialektischen Evolutionsprozesses nach und nach der Bewusstseinsschwerpunkt anheben werde.
Jeff Salzmann konnte sich gut damit anfreunden, das Thema Spiritualität in expliziter Hinsicht zu opfern. Es sei ohnehin überzeugender, wenn man nicht so viel Worte darum mache, sondern lebendige Beispiele reifer, integraler Menschen (ab türkis) vor sich habe, die es implizit auf natürliche Weise spürbar ausstrahlen. In quasi-selbstkritischer Weise kommentierte er das Bedürfnis des Integral Institute die Integrale Bewegung mit der Betonung auf die „AQAL koschere Qualität“ zu disziplinieren. Dahinter sehe er zwar eine gute Absicht, es sei jedoch besser, wenn man anerkenne, dass auf dieser Wiese eine Vielzahl von Blumen blühen wollen.
Mark Forman schlug ebenfalls selbstkritische Töne an, indem er monierte, dass ein differenzierte Verständnis von Ebenen der Entwicklung selbst in der Integralen Bewegung schwach sei (vgl. die Ergebnisse des iTeach Projects, s.o.). Die meisten durchschnittlichen Erwachsenen hätten erhebliche Schwierigkeiten mit den Anforderungen dialektischen Denkens, insbesondere, wenn auch noch Emotionen im Spiel seien.
Marc Gafni erwiderte darauf, dass seiner Einschätzung zufolge diese Denkart von den 50-60 Millionen kulturell Kreativen Menschen auf der postmodernen Ebene durchaus (zumindest potentiell) verstanden werden könne. Die Menschen seien viel smarter, es sei nur vielfach viel zu viel Jargon im Spiel, weshalb man die Ideen einfacher fassen und kommunizieren müsse.
Frank Visser offerierte den (unter Didaktikern der integralen Theorie schon hinlänglich bekannten) Ratschlag, die Quadranten vor den Ebenen einzuführen. Sie seien wesentlich einfacher und konfliktfreier zu erklären als letztere und könnten einen großen Nutzen für Menschen auf jeder Ebene der Entwicklung entfalten. Im Anschluss könne man sich daran versuchen die Ebenen zu vermitteln.
Charles Flores fragte, wie viel Komplexität am Ende verloren ginge. Einfache Menschen verstünden durchaus gewisse Konzepte des Integralen Ansatzes. Es komme vor allem darauf an das Integrale selber authentisch zu verkörpern, um in der Lage zu sein, es anderen Menschen zu übersetzen. Ferner berichtete er, dass er die Quadranten oftmals als „Fenster der Realität“ einführe, womit er gute Erfahrungen gesammelt habe. Sicherlich bestehe die Gefahr, dass tiefe Aspekte übermäßig vereinfacht würden, aber das sei nun mal ein Teil des Prozesses.
Steve McIntosh betonte, dass es wichtig sei, den Leuten den Aha-Moment zu vermitteln, der sich einstellen kann, wenn man bereit ist, die Welt durch die Brille von Vertikalität und Entwicklungsebenen zu betrachten. Der individuelle Nutzen dieser Perspektive müsse vermittelt werden. Als Gleichnis des dialektischen Entwicklungsprozesses der Ebenen verwendete er das Bild des Segelschiffes, welches im Zick-Zack-Kurs gegen den Wind kreuzt, bestehend aus These, Antithese und Synthese. Anbei mein Versuch einer Illustration:



Abb.: „Dialektisches Segeln“
Da die Rede gerade von den Ebenen war, nutze Mark Forman die Gelegenheit für ein energisches Plädoyer gegen den Gebrauch von Farben: „Verwendet keine Farb-Label, verwendet bitte Worte, um zu beschreiben, was ihr meint!“ Ansonsten erzeuge man lediglich Barrieren des Verständnisses.
In geradezu dialektischer Weise forderte dieses Plädoyer Marc Gafni in oben beschriebener Weise zur dialogischen Antithese heraus. Die Farben seien für viele Menschen ungeheuer hilfreich für das Verständnis gewesen, ein unglaublich wertvolles Werkzeug. Spiral Dynamics habe seinen Wert und Platz im integralen Diskurs. Man könne sogar argumentieren, dass SD einen größeren Beitrag für die Verbreitung und allgemeine Zugänglichkeit integraler Ideen geleistet habe als so manche andere theoretische Errungenschaft im integralen Feld.
Steve McIntosh ließ die Frage offen, ob die Farben eher bejaht oder verneint werden sollten, fand aber, dass „grün“ eine gute und treffende Farbe sei, die man auf jeden Fall zur Bezeichnung der postmodernen Ebene behalten solle. Ferner sei die Schaffung weiterer exemplarischer Meisterwerke nötig. Seiner Auffassung nach sind es in verschiedenen Ebenen der Entwicklung verschiedene Aspekte der Werte-Triade des Wahren, Schönen und Guten, die besonders im Vordergrund stünden. So sei beim Eintritt in die Moderne das Wahre (Wissenschaft) in der Führungsrolle gewesen, in der Postmoderne hingegen sei das Schöne (Kunst/Ästhetik) hervorgetreten. Für die kommende integrale Bewusstseinswelle äußerte er die Vermutung, dass auch hier wieder das Wahre (in Form von Philosophie) in den Vordergrund treten werde.

Die Gretchenfrage: „Wie hält es die integrale Bewegung mit der Liebe?“

Auf die Publikumsfrage „Are we missing the love-part?“ (Etwa: Übersehen wir die Liebe [bei all der Theorie]?) erwiderte Marc Gafni (in Anspielung auf Ken Wilbers Vergangenheit), dass er Tellerwäscher „absolut heiß“ finde, was das Publikum mit allgemeinem Gelächter beantwortete. Seiner Auffassung zufolge spiele Liebe, sei es nun zu Ken oder zu seinen Ideen, eine enorme Rolle als Zugang zum Integralen.
Jeff Salzmann kam die Begrifflichkeit scheinbar etwas überladen vor, weshalb er statt „Liebe“ eher den Begriff „Freundlichkeit“ für das Integrale favorisierte. Der integrale Ansatz helfe enorm dabei, diverse Perspektiven zu umarmen, mehr anzunehmen und dadurch die Welt ein Stück weit freundlicher zu machen, beginnend bei einem selbst. Oftmals reiche es schon einen „Scheibenwischer-Geist“ zu kultivieren, d.h. eine Haltung in der man die eigenen aufkommenden, ärgerlichen Gedanken wahrnimmt und freundlich wieder zur Seite wischt.
Mark Forman antwortete, dass rückblickend die schmalzig triefenden[„lovey-dovey“] Erwartungen der transpersonalen Bewegung von vor 40 Jahren letztlich enttäuscht worden sind und dass wir nach dem Liebes-Märchen und all den Projektionen die Sache heute etwas nüchterner angehen.
Marc Gafni ergänzte, dass es auf jeden Fall dringend der Unterscheidung zwischen „Prä-Liebe“ (süßlich) und „Post-Liebe“ (nüchterner) bedürfe und dass der Begriff „Liebe“ mit all seinen Nuancen heute neu mit Bedeutung gefüllt werden müsse. Dafür bedürfe es einer Gemeinschaft im Geiste kollektiver Erforschung dieser Fragen.
Mein persönliches Fazit: Ich bin erfreut über die nuancierte und durchaus selbstkritische Diskussion in diesem Panel. Die Integrale Bewegung ist real, sie ist spürbar und gewinnt an Kraft und Einfluss in der Welt. Daneben gibt es viele dieser Menschen, die noch keinen integralen Fachjargon sprechen und sich auch noch nicht in der kollektiven Identifikation als Mitglieder einer Gruppe eines bestimmten Entwicklungsschwerpunktes wiederfinden. Wenn dieses neue „Wir“ im größeren Maßstab als bisher zu einer integralen Identität erwacht, setzt womöglich ein rapider Kristallisationsprozess ein, vergleichbar mit früheren evolutionären Sprüngen. Wie dem auch sei - das ist viel Spekulation, die von nur wenigen Fakten gestützt wird. Entsprechend vorsichtig sollte man sein, wenn gewisse Leute mit Prozentzahlen und Schätzungen um sich werfen.
Ob die Integrale Bewegung ein Massenphänomen ist, bzw. wird, sollte meiner Ansicht nach auch nicht der Punkt sein, von dem man es individuell abhängig macht, ob man der Welt ein Stückchen mehr integrale Ganzheit und Gesundheit schenken möchte, oder nicht. Ein jeder ist aufgerufen, bei sich zu beginnen, in seinem Selbst, seiner Kultur und seinem Umfeld. Wir kommen nicht umhin dabei Fehler zu machen, selbst wenn wir nach unserem besten Wissen und Gewissen handeln. Aber auch das kann keine Ausrede sein. Man muss sich klar machen, dass selbsterfüllende Prophezeiungen letztlich in alle Richtungen funktionieren und man daher seine Gedanken weise ausrichten sollte. Das Integrale ist in der Welt, weil Du hier bist und Du bist hier, weil das Integrale noch mehr in die Welt kommen möchte.

Terri O’ Fallon: „Das Zusammenfallen der Wilber-Combs-Matrix: Die Durchdringung der Zustands- und Strukturstufen“

Nach dem eben beschriebenen Curriculum am Samstag, begann der Sonntag mit einem Leckerbissen für Theorie-Freaks. Von mehreren Seite war mir das Papier von Terri O’Fallon empfohlen worden, welches einen interessanten Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von Zuständen zu Strukturen des Bewusstseins leistet.
Erinnern wir uns: eine größere theoretische Wendung in Wilbers Werk bestand in der Re-Interpretation höherer Ebenen des Bewusstseins im Übergang von Wilber-4 („EKL“) zu Wilber-5 („Integrale Spiritualität“) in Verbindung mit dem Raster, das er gemeinsam mit dem Bewusstseinsforscher Allan Combs aufgestellt hat. In der Wilber-Combs-Matrix sind die Bewusstseinsebenen als vertikale Skala der Entwicklung aufgetragen, während die großen Zustände des Bewusstseins und ihre Meisterung mit ihren Energien (grobstofflich, subtil, kausal, nondual ) als horizontale Skala aufgetragen werden. Aus der Kombination ergibt sich eine Matrix möglicher spiritueller Erfahrungen, wobei bestimmte Zuständserfahrungen (z.B. subtil) aus den spezifischen Begrenzungen der jeweiligen Bewusstseinsstruktur (z.B. mythisch) heraus interpretiert werden. Wilber führte den Begriff „Zustandsstufen“ in Abgrenzung zu „Strukturstufen“ ein, um zu verdeutlichen, dass es nun in seinem Modell einen ‚Weg des Aufwachens’ (Zustände) neben dem ‚Weg des Aufwachsens’(Ebenen) gibt, die unabhängig voneinander beschritten werden können. Er re-interpretierte damit die Stufen, die er zuvor „psychisch, subtil, kausal und nondual“ bezeichnet hatte, als horizontale Zustandsstufen (statt vertikale Strukturstufen, beginnend oberhalb der integralen Stufe), wodurch sie in diesem Bild gewissermaßen um 90 Grad nach rechts geklappt sind. Dadurch eröffnete sich gleichzeitig besagte Matrix möglicher Kombinationen von Strukturen und Zuständen, bzw. von Strukturstufen und Zustandsstufen.
Wer an dieser Stelle bereits Schwierigkeiten hat zu folgen, dem sei gesagt, dass dies nur das Vorspiel und die Basis ist, von der aus Terri O’ Fallon ausgegangen ist, um eine noch viel komplexere Landkarte des Bewusstseins darzulegen. Ihr Papier ist dermaßen dicht undherausfordernd, dass man es mindestens dreimal aufmerksam lesen sollte, um die wesentlichen Punkte zu begreifen. Sie hat einen Ph.D. Titel, ist Direktorin des Developmental Research Institute und Pacific Integral, zertifizierte Testerin des SCTi MAP Tests (von Susanne Cook-Greuter) und beforscht systematisch die späten Ebenen der Erwachsenenentwicklung, sowie Entwicklungstransformationen in Gruppen.
Da ich die erste halbe Stunde Ihres Vortrags verpasst habe und (ohne zuvor ihr Papier studiert zu haben) unbedarft in ihre Präsentation gestolpert bin, nutze ich die Gelegenheit, an dieser Stelle mir und dem Leser / der Leserin ihre zentralen Ideen anhand ihres Papiers „The Collapse of the Wilber Combs Matrix: The Interpenetration of the State und Structure Stages“ zu vergegenwärtigen. Mit Bezugnahme auf Aurobindo und Wilber beginnt sie mit einer Rekapitulation der Schöpfungsgeschichte und stellt sukzessive das Reich der Materie, das Reich der Pflanzen, das Reich der Tiere und das Reich des Geistes („mind“) vor, um nach dem nächsten Schritt zu fragen. „Aurobindo scheint zu denken, dass der Sprung von dem Reich des Geistes zu dem nächsten Reich ähnlich sein wird dem Sprung zwischen den Reichen der Materie und der Pflanzen, zwischen Pflanzen und Tieren, oder zwischen Tieren und dem Geist.“ Sie erkundet in ihrem Papier hauptsächlich das Reich des Geistes in Richtung der Zustände, die das Göttliche repräsentieren und wie diese möglicherweise den Alltag durchdringen.
Anschließend beschreibt sie die Genese ihres Modells und wie sie mehrere Jahre lang versucht hat, jede Zelle der Wilber-Combs-Matrix mit Beispielen auszufüllen. 2007 entwickelte sie eine (ebenfalls interessante) V-förmige Visualisierung des Rasters, das es ermöglicht, den Bewusstseinsspielraum eines Menschen, sowie – bei Überlappung – den gemeinsam geteilten Bewusstseinsspielraum zwischen zwei Menschen mit ihren Struktur- und Zustandsstufen abzubilden. Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Testerin von Entwicklungsstufen und Begleiterin von Entwicklungsprozessen gelang es ihr schließlich, verschiedenste, wiederkehrende Muster zu identifizieren, die sich zwischen Strukturen und Zuständen abspielen.

Rangübergreifende Strukturmuster

Eines der zahlreichen iterierenden Muster, um die es in ihrem Papier geht, betrifft die Anzahl der Person-Perspektiven, die von der 1. bis zur 6. Person-Perspektive beschrieben werden. Ich greife mal vor: „Die sechste Person-Perspektive, alle n-ten Perspektiven sehend, beginnt außerhalb dieser n-ten Perspektiven zu treten und fängt an, eine Perspektive einzunehmen, die Beobachtungsmuster und Perspektiven-Einnahme über mehrere Ränge („tiers“) hinweg beinhaltet.“ Wenn es Ihnen bei diesem Satz geht wie mir, und Sie erst mal innerlich sagen, „Hä? Wat?“, dann wähnen Sie sich in guter Gesellschaft. Bei der dritten Lektüre ihres Papiers stach der Satz für mich heraus, weil er mir verdeutlichte, worin genau meine Schwierigkeit bestand, zu kapieren, was die Autorin eigentlich sagen will. Es beschreibt nämlich genau das, was sie in diesem Papier tut: eine Perspektive auf Muster einzunehmen,die sich über mehrere Ebenen und Ränge des Bewusstseins hinweg abspielen.
Von der integralen Ebene sagt man gemeinhin, dass sie in der Lage sei, eine Perspektive der 5. Person einzunehmen. Ich möchte mit Fug und Recht behaupten, dass ich von diesem Ort aus die Welt betrachte (zumindest an guten Tagen). Sie aber schreibt (mindestens) aus einer Perspektive der 6. Person heraus, was „over my head“ ist, bzw. einen kognitiven Stretch für mich bedeutet. Ein spannender Nebeneffekt: spontan kann ich Mitgefühl für Menschen empfinden, die ich in jüngerer Vergangenheit mit meinem integralen Gerede aus der 5. Person-Perspektive heraus überfordert habe. Aber ich nehme trotzdem die sportliche Herausforderung an und hoffe, dass vielleicht einige Leser mir darin folgen möchten. Also weiter im Text.
Ein weiteres stufenübergreifendes Muster, das sie beschreibt, ist dasjenige von Zeit und Raum, wobei sich auf jeder folgenden Stufe das Raumempfinden sukzessive erweitert (von der Begrenztheit auf den eigenen Körper bis zur Unendlichkeit), ebenso wie das Zeitempfinden (von naiver Gegenwart über immer größeres historisches Bewusstsein bis hin zur Ewigkeit).
Ebenfalls interessant ist das „Muster horizontal iterierender Spiegelkabinette“:
Auf der Stufe der 3.Pers. Perspektive: formale Operationen von formalen Operationen von formalen Operationen („analysis paralysis“ - Lähmung durch Analyse)
Auf der Stufe der 4.Pers. Perspektive: Kontexte innerhalb von Kontexten, innerhalb von Kontexten, bzw. Systeme innerhalb von Systemen, innerhalb von Systemen
Auf der Stufe der 5.Pers. Perspektive: Konstrukte innerhalb von Konstrukten innerhalb von Konstrukten (z.B. innerlich: Projektionen von Projektionen, oder äußerlich: Landkarten von Landkarten)
Auf der Stufe der 6.Pers. Perspektive: Vereinigung polarer Muster; exemplifiziert z.B. als Gewahrsein iterierender, rangübergreifender Muster von Mustern, innerlich wie äußerlich.
Sehr zentral ist das folgende „Muster iterierender polarer Gegensätze über mehrere Ränge hinweg“ . Es beschreibt ein übergreifendes Muster, das man über first tier, second tier und third tier hinweg beobachten kann und das sich folgendermaßen abspielt:
(a)  nur eine Seite sehen
(b)  mehr als eine Seite sehen und die Fähigkeit der Wahl haben (entweder/oder)
(c)   zwei oder mehr Seiten sehen und wählen (sowohl als auch)
(d)  Integration der zwei Seiten des übergreifenden polaren Paars in eines, welches dann die eine Seite eines späteren, übergreifenden polaren Paars wird.
Die drei großen Themen, die dann im Reich des Geistes jeweils mit diesen vier Schritten durchexerziert werden, identifiziert O’Fallon in den einzelnen Rängen („tiers“) wie folgt:
first tier: individuell / kollektiv („Selbst“ / „Andere“)
second tier: innerlich / äußerlich („subtil“ / „konkret“)
third tier: Immanenz / Transzendenz
Das ergibt bei ihr ein Spektrum von mindestens vierzehn Stufen, von denen die ersten zehn durch das Modell von Susanne Cook-Greuter abgedeckt werden, letztere vier finden vor allem bei Aurobindo Erwähnung. Bei der Präsentation bot Terri O’ Fallon die Entfaltung eines zweifach gefalteten Zettels mit einem Quadranten-Diagramm darauf als visuellen Anker für diesen Prozess an. Zunächst entfaltet sich im first tier das polare Paar mit dem übergreifenden Thema „individuell und kollektiv“, was darin mündet, dass auf der Ebene des „Diplomaten“ („bernstein“ bei Wilber) Selbst und Andere integriert sind. Die Konvergenzen mehrerer Arten dieser iterierender Muster ( es gibt 1111er, 1212er, 1234er Muster - ich habe einige andere hier ausgelassen) markieren in ihrem Modell jeweils einen Übergang zu einem neuen Rang [„floor“]. Die ersten vier Stufen (Impulsiv, Opportunist, Delta, Diplomat) fasst sie als die „konkreten Stufen“ zusammen, den „concrete floor“.
Das große übergreifende Thema des second tier, welcher bis hin zu einer reifen integralen Stufe führt, dreht sich um die Vermittelung der Pole „innerlich und äußerlich“, bzw. „subtil und konkret“. Sie nennt die vier damit assoziierten Stufen (Experte, Leistungsmensch, Pluralist, Synthetiker) den „subtilen Rang“ oder „subtle floor“. Es entfalten sich hier quasi die linke und die rechte Seite des Quadranten-Modells. Bei erfolgreicher Integration von „innerlich“ und „äußerlich“, bzw. subtil und konkret landen wir bei dem „Synthetiker“, bzw. bei Wilbers „Zentaur“, der ein gutes Sinnbild für die Integrationvon Geist und Körper ist, was nur eine weitere Variation dieser übergreifenden Polarität repräsentiert. Dieser vollkommen immanente, integrierte Körpergeist ist selber nun der Ausgangspol der nächsten Polarität.
Das Thema der folgenden Polarität, „Immanenz und Transzendenz“ ist der bestimmende Unterton des third tier, welches schließlich in der Integration und Vereinigung mündet, die Aurobindo „illuminierter Geist“ nennt. Darauf folgt der nonduale „floor“, wo Aurobindos „Meta-, Over- und Supermind“ angesiedelt sind, für die allesamt noch wenige Beschreibungen existieren und die von O’Fallon nur angedeutet werden. Das entspricht dann dem Papier, auf dem die gesamten bis dato entfalteten Dimensionen (das Quadrantenmodell), bzw. die Polaritäten abgebildet sind.

Rangübergreifende Zustandsmuster

Da einem aus dieser 6. Person-Perspektive heraus offenbar übergreifende Muster besser ins Auge springen, wendet O’Fallon diese Kapazität im Folgenden auch auf Zustände an. Das erste, über mehrere „floors“ (in meiner Übersetzung „Ränge“) iterierende Zustands-Muster, das sie nennt, ist „Abstufungen des Gewahrseins von Zuständen“. Es verläuft stets folgendermaßen:
1.     Erstens: Kein Gewahrsein eines Objektes oder Zustands, obwohl es/er existiert (z.B. traumloser Tiefschlaf)
2.     Zweitens: nachträgliches reflektives Gewahrsein von einer Erfahrung eines Objekts oder Zustands
3.     Drittens: willentlich zugängliches Gewahrsein im selben Augenblick von einem Objekt oder Zustand
4.     Viertens: Ein Zustand ist ein gewöhnlicher Teil des Lebens geworden, untrennbar davon und wird nicht mehr als ein Zustand erfahren.
Ein weiteres Zustandsmuster ist das „Objekt des Gewahrseins Muster“. Terri O’ Fallon differenziert zwischen dem Gewahrsein und der Ebene des Objektes, das es in der Lage ist zu sehen. Es gibt konkrete (bzw. grobstoffliche), subtile und kausale Objekte, die man erst dann wahrnehmen kann, wenn man die Perspektiven des zugehörigen Rangs gemeistert hat. Im Text heißt es als Beispiel: „So könnte man sich auch in einem subtilen Zustand, wie einem Tagtraum oder Phantasie, befinden, ein subtiles Objekt haben (wie eine Hypothese, einen Plan, eine Strategie, oder eine subtile Erfahrung des Göttlichen). Das wäre ein subtiler Zustand mit einem subtilen Objekt und wäre nicht zugänglich, es sei denn man hätte die Fähigkeit, die Perspektiven des Subtilen Rangs (tier) einzunehmen. Oder jemand empfängt vielleicht einen Download einer Landkarte des Bewusstseins, der durch sie hindurchströmt, wobei das Selbst nicht im Zentrum ist, und das könnte beschrieben werden als ein subtiler Zustand mit einem kausalen Objekt (Download von außerhalb des Selbst), der zugänglich wird, wenn man die Perspektiven des Kausalen Rangs [floor] einnehmen kann.“ Dieses Muster iteriert mit konkreten, subtilen und kausalen Objekten. Andere rangübergreifende Zustandsmuster, die ich hier nicht weiter ausführe, nennt sie das „Dunkle Nacht Muster“ und das „Maya Muster“.
Anbei ihr Versuch, die wesentlichen Elemente ihres Modells grafisch dazustellen:



Abb: „Das Reich des Geistes“, nach Terri O’ Fallon, 2010
In ihrem Text schließt sie nach der Zusammenfassung einiger Definitionen zentraler Begrifflichkeiten mit einer Beschreibung des konkreten, subtilen, kausalen und nondualen Rangs an. Hier nun im Folgenden einige interessante Auszüge daraus, die die zuvor entfalteten Unterscheidungen noch mal anschaulicher machen.

Der Konkrete Rang

Auf dem Konkreten Rang lernt das Kind zunächst den konkreten Zustand zu meistern, so dass konkrete Objekte gewöhnlich werden und kein zusätzliches Gewahrsein mehr benötigt wird, damit sie auftreten. O’ Fallon: „Das Kind lernt zudem über die konkrete Welt mit subtilen Zuständen durch Spiele wie Kuckuck, wodurch sie lernen auf subtil mit ihrem inneren konkreten Auge zu sehen und wissen, dass die Mama hinter der Decke ist: das Kind ist erst seiner Mama nicht gewahr, dann im Nachhinein gewahr (wenn die Mama die Decke fallenlässt und „Kuckuck!“ sagt), und schließlich sieht es die Mutter in seiner Vorstellung hinter der Decke (konkreter Rang mit subtilem Gewahrsein eines konkreten Objektes [Mama]).“ Die subtilen Zustände auf dem Konkreten Rang werden dann zunehmend konsolidiert, bis sie gewöhnlich und permanent zugänglich werden. Sie merkt an, dass die Objekte schamanistischer Ausflüge in subtile Bereiche oftmals Tiere, die Sonne, usw. sind, was auf den Konkreten Rang (Strukturstufe) schließen lässt.

Der Subtile Rang

„Der Eintritt in den Subtilen Rang beginnt mit der frühen 3. Person-Perspektive, wenn die Menschen den Konkreten Rang zum ‚Objekt’ machen, sich eines innerlichen (subtilen) Selbst bewusst werden, und beginnen die Begrenzungen des Konkreten als eine illusionäre Beschreibung ihres wahren Selbst zu sehen, eine Art niedrige Form von Maya.“ Weiter heißt es: „Sie sind sich bereits ihrer subtilen Vorstellungen gewahr, die konkrete Objekte beinhalten, und nun beginnen sie sich der subtilen Objekte innerhalb ihrer subtilen oder innerlichen Welt bewusst zu werden (d.h., sie wird sich ihrer Gefühle und Ideen bewusst), einschließlich subtiler körperlicher Zustände wie Bauchgefühl und ein weiches Herz (das innerliche Korrelat der externen Sinne). [...] An irgendeinem Punkt, gewöhnlich während der 4. Person-Perspektiven der Individualistischen/grünen und Synthetiker/ petrol Ebenen, jedoch nicht auf diese Ebenen begrenzt, werden sie bewusster im Augenblick, so dass eine Menge der subtilen Welt im Gewöhnlichen eingebettet ist (Denken, Planen, Gewahrsein von Zeit und Raum, Eckdaten, Gewahrsein innerlicher und äußerlicher Kontexte und psychologische Einsichten, etc.)“ Der Subtile Rang, der bei O’Fallon synonym ist mit dem zweiten Rang (second tier) wird also anders abgegrenzt als bei Wilber und beginnt wesentlich früher (ab dem Auftreten subtiler Phänomene, „Experte“) umfasst wieder vier Stufen und endet bei der frühen Schau-Logik, petrol bei Wilber (bzw. in der SD-Wertelinie bei „gelb“). Das ist natürlich keine Frage von richtig oder falsch, sondern schlicht eine Frage der Definition.

Der Kausale Rang

Den Kausalen Rang beschreibt sie wie folgt: „Dies beginnt mit der frühen Konstruktbewussten Stufe der frühen 5. Person-Perspektive. Auf dieser Stufe fangen die Individuen an, sowohl den Subtilen als auch den Konkreten Rang zum Objekt zu machen, und sie sehen das subtile Ego (z.B. spiritueller Materialismus, egoische Projektionen, etc.), sowie die illusionären Konstruktionen des Verstandes [mind] des subtilen Selbst, und alles, was das Ego sieht, weiß, tut, konstruiert und definiert, indem es die konkreten und subtilen Welten benutzt, die sie zuvor bewohnt haben. Das könnte definiert werden als das lebendige Gewahrsein einer späteren Maya-Illusion. Keinerlei konkrete oder subtile Formen mit subtilen Objekten, die sie jemals erfahren haben, verbleiben als Boden, auf dem man stehen kann (Cook Greuter, 2002). Nichts, oder die Formlosigkeit, wird der lebendige Grund dieser neuen Welt, sogar während ihre groben und subtilen Ränge sich fortwährend entwickeln und durch diesen kausalen Rang hindurch aufkommen.“ O’Fallon betont, dass der Eintritt in den kausalen Rang offenbar eine „mühelose, gut balancierte, gelebte Erfahrung“ sowohl von Zustands- als auch von Strukturstufen erfordert. Fehlt die eine oder die andere Seite, so kommt es zu Schwierigkeiten. Kausale oder nonduale Zustandspraxis allein scheint sich nicht ohne weiteres in die Erfahrung der konstruktbewussten Stufe übersetzenzu lassen und eine konstruktbewusste Stufe ohne diese Zustandspraktiken kann leicht in die Erfahrung der „Dunklen Nacht der (subtilen) Seele“ führen. Ferner sei diese Ebene so weit von der konventionellen Ebene entfernt, dass es noch nicht genügend Gemeinschaften gebe, die „instinktiv eine kausale Version von Kuckuck“ lehrten. Auch hier ist bei Eintritt in diesen Rang wieder das Muster zu beobachten, dass das Gewahrsein des Kausalen zunächst erst im Nachhinein zugänglich ist, im Verlauf der vier Stufen (Konstruktbewusstsein, spätes Konstruktbewusstsein, Unitiv und Illuminiert) dann im gegenwärtigen Augenblick verfügbar ist, und schließlich als veränderter Zustand gänzlich in den Hintergrund des Gewöhnlichen hinein verwischt.

Der Nonduale Rang

O’Fallon schreibt: „Der Eintritt in den Nondualen Rang ist ein weiterer Riesensprung, doch die meisten Menschen scheinen weit entfernt davon zu sein, diese Welt des Nondualen als eine alltägliche, gewöhnliche Erfahrung zu realisieren. Nichtsdestotrotz beginnt der Übergang in diesen Rang stattzufinden, sobald man die Fähigkeit entwickelt, Unterscheidungen und Muster zu konstruieren, die grobe, subtile und kausale Ränge umfassen können, zusätzlich zu gewöhnlichen, mühelosen Eruptionen, die aus dem formlosen Äther im illuminierten Geist stattfinden.“ Dann geschieht die Realisation dessen, was Wilber einmal beschrieben hat als die „letzte Bastion des Ego“. Das kausale Zeugenselbst wird selber als Ursache der Abtrennung vom Bezeugten erkannt, was das Individuum in die „Dunkle Nacht des kausalen Selbst“ stürzt. O’Fallon beschreibt die Natur dieser kausalen Maya-Illusion wie folgt: „Es gibt ein Aufblitzen der Operationen dieses Geistes, der solange federführend war, völlig unbewusst darüber, dass er überhaupt gar nicht führt. Es ist eher so, dass er unablässig Unterscheidungen zwischen seinen eigenen Konstrukten getroffen hat, ganz gleich wie ätherisch sie auch sein mögen, und ist nicht in der Lage ist zu sehen, dass er selbst grobe, subtile und kausale Ränge konstruiert.[...] Doch was ist dieses „Etwas“, das dieses Geist[mind]-Selbst beobachtet? Das ist die Frage, die den Blick auf sich zieht, während man in angemessener Weise den Geist [mind] an das nonduale Göttliche hingibt, welches beginnt, das Reich des Geistes, der Unterscheidungen trifft, zu transzendieren. Wenige, falls überhaupt welche, kennen die gesamte Trajektorie des Intuitiven Meta-Mind, des Overmind, des Supermind-Raumes, und an diesem Punkt kann der Geist, mit dem wir arbeiten, sich lediglich beugen im Dienst an den Ruf des Göttlichen (Aurobindo, 1992, 2000).“
Im Nachhinein hat sich mein Gefühl der Wichtigkeit von Terri O’Fallons Beitrag noch einmal intensiviert. Nicht umsonst hat sie wohl auf der ITC 2010 den Preis für das beste Papier im Bereich „Theorie“ zugesprochen bekommen. Ihrem Beitrag, der eigentlich eine eigenständige Übersetzung ins Deutsche verdient, bin ich hier nur annähernd gerecht geworden, indem ich mich auf die Vermittlung der für mich interessantesten Einsichten konzentriert habe. Es steckt so viel mehr darin, und womöglich noch einiges mehr, das meinen eigenen geistigen Filtern schlichtweg entgangen ist. Auf alle Fälle hat die Auseinandersetzung damit „kognitive Schwangerschaftsstreifen auf meinem Geist“ hinterlassen, wie Wilber es einmal so eloquent formuliert hat. Hoffentlich auch auf Ihrem.
Ich möchte noch zu ihrer Person anmerken, dass sie – bei aller atemberaubenden Brillanz, die aus ihrer Arbeit spricht – auf der Konferenz eine sehr berührende, auf demütige Weise offene, bescheidene und dankbare Präsenz verkörpert hat. Es scheint, als ob die intensive Beschäftigung mit derart subtilen Mustern und Landkarten der menschlichen Psyche ab einem gewissen Grad nur dann möglich ist, wenn das Subjekt sich in das beschriebene Terrain transformiert und zur Seite tritt für die Inspiration, die durch es in die Welt kommen will.

Panel: „Integrale Spiritualität: Was ist die Rolle des ‚integralen’ spirituellen Lehrers?“ Mit David McCallum, Craig Hamilton, Terry Patten, Diane Hamilton, Tom Thresher, Mariana Caplan, Marc Gafni

Die Panel-Diskussion über die Rolle des „integralen“ spirituellen Lehrers wurde moderiert von Father David McCallum. Er bat die anwesenden Lehrer nacheinander zunächst drei Fragen zu beantworten, bevor dann die Diskussion geöffnet wurde.
1)    Was ist integrale Spiritualität?
2)    Was ist die Rolle des integralen spirituellen Lehrers?
3)    Wo liegen die Herausforderungen und wo die Gnade darin?
Es begann Mariana Caplan, Ph.D., vom California Institute für Integral Studies und Autorin des Buches „Augen auf!: Der Weg der spirituellen Unterscheidungskraft“, zu diesem Zeitpunkt schwanger, neben ihrem Mann, Marc Gafni sitzend. Als Yoga-Lehrerin betonte sie die Funktion des Körpers. Es sei wichtig Ideen und Konzepte auf der körperlichen Ebene zu integrieren und zu verkörpern. Sie fühle sich wie eine Schülerin auf einer endlosen Reise. Dies sei auch gleichzeitig ihre Definition eines guten Lehrers – dieser müsse ebenso kontinuierlich Schüler sein, was aber nicht zwangsläufig ein Kleinreden der Lehrer-Funktion bedeuten müsse. Trotzdem sei von Lehrern und Schülern endlose Unterscheidungsgabe gefordert, da die Funktion des Egos unendlich subtil sei.
Die Zen-Lehrerin Diane Musho Hamilton reihte sich ein und antwortete in Bezug auf die Frage nach der Definition integraler Spiritualität (in klassischer Zen-Manier) als erstes, dass dies eine Frage sei, auf die es keine einfache Antwort gebe, sondern dass dies eine Frage sei, die man halten müsse wie ein Koan. Ein Bestandteil müsse aber eine Sichtweise sein, die sowohl Strukturen, als auch Zuständen des Bewusstseins gerecht werde. Sie selber fühle sich in zwei Linien der Lehre und Überlieferung beheimat: in der Tradition des Zen-Buddhismus, aber auch in der Linie integraler Theorie und Praxis - eine Kombination, die durchaus nicht immer konfliktfrei sei. Es gebe eine berechtigtes Zögern in einer spirituellen Tradition herumzufuhrwerken, die funktioniere. Die Antwort sei eher in der ersten Person als in der dritten Person zu finden. Es mache zwar durchaus Sinn mit mehreren Lehrern zu arbeiten, doch gleichzeitig bringe dies das Problem von Tiefe und Spanne mit sich. 
Die Rolle des integralen spirituellen Lehrers bestehe ihrer Ansicht nach zum großen Teil daraus zu empfangen, so z.B. die spirituelle Sehnsucht der Menschen zu empfangen, aber auch die Tradition. Man müsse lernen der Tradition zu vertrauen um den Raum halten zu können. Sie schilderte wie beeindruckt sie von einem Aspekt aus der Sado-Maso-Szene (SM) sei – ein Aspekt, der auch für den integralen spirituellen Lehrer zentral sei. Dies betreffe die explizite Kommunikation über den Austausch von Machtverhältnissen. Die Verantwortung eines Lehrers aus ihrer Sicht sei es, dem Schüler deutlich zu machen, was nicht seine Rolle sei. Für sie sei wichtig, dass die Trennung von einer Tradition oder einem Lehrer durchsichtig ist. Es müsse einen klaren Weg geben, wie man auch wieder aus einer spirituellen Gemeinschaft ausscheiden könne - in Würde. Als größte Herausforderung empfinde sie es, sich selbst und der Tradition zu vertrauen.
Craig Hamilton, ehemaliger langjähriger Schüler von Andrew Cohen und vielen vielleicht durch seine Teleserie „The Great Integral Awakening“ als eigenständiger spiritueller Lehrer bekannt, sprach als nächstes ins Mikro. Zur ersten Frage sagte er, dass es für integrale Spiritualität zentral sei, alle Grundlagen in Form der ersten, zweiten und dritten Person Sicht auf das Göttliche abzudecken. Er verstehe Integrale Spiritualität als post-postmoderne Spiritualität, in der es – im Gegensatz zu postmoderner Spiritualität – darum gehe, eine angemessene Beziehung zum Absoluten als höherem Kontext zu gewinnen. Das sei eben gerade nicht der Kontext des persönlichen Selbst, wie in der postmodernen Spiritualität, in welcher der Schüler nichts kenne, vor dem sie sich (ver-)beuge.
Die Rolle des integralen Lehrers bestehe darin, uns zu dem Absoluten zu erwecken. Dieses sei das Orientierungsprinzip, das alles an seinen Platz fallen lasse. Damit verband er auch den Begriff des „Evolutionären Selbst“, welches er als synonym mit dem „Einzigartigen Selbst“ interpretierte. Er betonte die Wichtigkeit moralischer Entwicklung, gleichzeitig forderte er, dass ein Lehrer auch extreme Dinge tun dürfen müsse. Extremität habe einen schlechten Ruf, aber letztlich seien alle großen Verwirklichten extrem gewesen. Ein integraler spiritueller Lehrer bemühe sich um ein intersubjektives Erwachen und die Evolution des „Wirs“. Die größte Herausforderung bestehe seiner Ansicht darin, die Einsichten, die man aus den Petri-Schalen spiritueller Communities generieren kann, dem Rest der Welt nahezubringen.
Rabbi Marc Gafni merkte allgemein zur Rolle des spirituellen Lehrers an, dass es sich so anfühlen müsse, als ob es die erste und einzige Sache sei, weswegen man hier sei, durchaus im karmischen Sinne. Ein integraler spiritueller Lehrer im besonderen, sollte durch Praxis vertraut sein mit den hinweisenden Instruktionen der ersten, zweiten und dritten Person Ansätze („1-2-3 of God“). Ferner solle er in der Lage sein die dialektische Spannung halten zu können zwischen der Beziehung zu den Weisheitstraditionen auf der einen Seite und der Beziehung seiner eigenen Tradition auf der anderen Seite. Seine Rolle bestehe darin, zwei Verpflichtungen zu erfüllen: Erstens, einen Kontext umfassenden Sinns zu vermitteln (im Kontrast zu postmoderner Sinnlosigkeit / Flachland), und zweitens, dem Schüler zur helfen zu seinem Einzigartigen Selbst zu erwachen. Seine persönliche Herausforderung zur Zeit skizzierte er mit folgenden Worten „Durch den Schmerz hindurch in die Offenheit zu lieben“.
Reverend Tom Thresher hat eine integrale Kirchengemeinde gegründet, wobei das Integrale eher informierend im Hintergrund fungiert. Nach eigenen Angaben hatte er lange Zeit seines Lebens nichts mit dem Christentum zu tun – bis zu dem Tag an dem er eine subtile Vision hatte, in der ihm Jesus den klaren Auftrag gegeben hat, diese Gemeinde ins Leben zu rufen. Er berichtete, dass er seine Rolle als die eines Geschichtenerzählers empfinde, mit dem Ziel eine integrale Kultur in der Kirche zu etablieren. Als persönliche Herausforderungen nannte er, sich von anderen spirituelle Verdienste anrechnen zu lassen ohne irgendwann selber daran zu glauben, sowie die Praxis des Lauschens: still zu sein und warten zu können.
Terry Patten, Integraler Trainer, Coach und Co-Autor von „Integrale Lebenspraxis“ sagte auf die erste Frage, dass man sich klar machen müsse, dass man es –trotz der Zugänge über die erste, zweite oder dritte Person –letztlich mit etwas zu tun habe, was jegliche Form übersteigt. Ein integraler spiritueller Lehrer müsse in der Lage sein, das zärtliche Sehnen der Schüler zu empfangen, aber gleichzeitig auch wirklich wilde und überraschende Dinge zu tun. Den Kontext in dem ein solcher Lehrer heute arbeite, sei einer, in welchem die Klostermauern zerbrochen seien und es, angesichts der Vielfalt wertvoller Angebote, gewissermaßen einer neuen ‚Ökologie der Helfer-Rollen’ bedürfe, bei der das Konzept der Integralen Lebenspraxis überaus hilfreich sei. Die Frage, die sich Schüler und Lehrer stellen müssen, sei, ob sie für ihr Handeln selber Verantwortung übernehmen können, auch in evolutionärer Hinsicht.
Für den integral-evolutionären Erwachensprozess und die Dringlichkeit des Erwachsenwerdens der Menschheit verwendete er folgendes Bild: „Stellen Sie sich vor sie wachen auf und finden sich wieder in einem Raum, in dem viele Kinder herumlaufen. Viele von ihnen tragen Schußwaffen und die Atmosphäre ist angespannt. Sie blicken umher und treffen auf einmal auf ein Augenpaar, das sieht, was Sie sehen und auch sieht, dass Sie sehen, was dieser Mensch sieht. Aus diesem gegenseitigen Erkennen der Situation entspringt das Gefühl einer Verpflichtung zum Handeln, eine evolutionäre Verpflichtung, Verantwortung für die Situation zu übernehmen und wie Erwachsene zu handeln.“
Entsprechend formulierte er es als seine gegenwärtig größte Herausforderung nichts an guten Impulsen zurück zu halten (z.B. gutes Material, das er produziere). Es sei zentral sich selber immer weiter zu strecken und auch andere Menschen dazu aufzufordern. Als ebenso nötig wie herausfordernd beschrieb er es darin Zugang zu einer gewissen „Wildheit“ zu bekommen – vielleicht vergleichbar mit den grimmigen Gottheiten in der tibetischen Weisheitstradition.

Sind Gurus noch immer unfehlbar?

In der anschließenden Fragerunde trat John Dupuy, integraler Suchttherapeut, aus dem Publikum ans Mikrofon und bat die anwesenden Lehrer Position zu beziehen zu der selbstüberschätzenden Behauptung vieler Gurus, dass sie in jeglicher Hinsicht perfekte Wesen seien –  eine Behauptung, die er – bei aller Gefährlichkeit – geradezu lächerlich finde.
Craig Hamilton kontrastierte in seiner Antwort zwei Haltungen: diejenige der postmodernen Unvollständigkeit in der letztlich niemand erleuchtet, ergo „besser“ oder „schlechter“ als jemand anderes sei, gegenüber der Haltung einer absoluten Klarheit, die durchaus wieder Ansprüche auf Vollkommenheit erheben könne.
Marc Gafni wies zunächst darauf hin, dass ein Schüler ebenfalls eine Verantwortung gegenüber dem Lehrer habe. Die Funktion eines guten Lehrers brachte er auf die Formel „to comfort the afflicted  and to afflict the comfortable“, also die Geplagten zu trösten und die Bequemen zu plagen. Er gehe davon aus, dass (vor dem Hintergrund der Unique Self Lehre) eine neue Form von Lehrer-Schüler-Beziehung emergiere, in der sowohl in hierarchischer Weise eine Transmission erfolgen könne, als auch eine spirituelle Freundschaft auf Augenhöhe möglich sei.
Mariana Caplan ging auf zwei Varianten von Desillusionierung ein, die sich in Bezug auf den spirituellen Lehrer ergeben können. Die eine Möglichkeit sei, dass Desillusionierung mit Bitterkeit einhergehe, die andere sei eine Desillusionierung, die mit Expansion einhergehe (und im Deutschen wohl dem nahe kommt, was man „Ent-Täuschung“, also Aufhebung falscher Erwartungen, bezeichnen könnte). Oftmals gebe es darin eine gegenseitige Komplizenschaft zwischen Lehrer und Schüler. Außerdem thematisierte sie das „spiritual bypassing“, also die Vermeidung der Lösung psychischer Probleme unter dem Deckmäntelchen spiritueller Konzepte (vgl. die Arbeit von Robert Augustus Masters). Häufige Stolpersteine seien die Bereiche Sex, Geld und Macht.
Diane Hamilton hob den kollektiv-äußerlichen (U.R.) Aspekt hervor: Oftmals gebe es für die spirituellen Lehrer Probleme, die Business, Leadership und Regulierung ihrer Organisation beträfen, mit der sie schlichtweg überfordert seien. Auch die Lehrer bräuchten aus ihrer Sicht Unterstützung und durchaus auch hin und wieder mal etwas Lobpreisung und Würdigung.
Terry Patten reflektierte die Beziehung zu seinem damaligen Guru Adi Da, bei dem er lange Jahre verbracht hatte, am Ende jedoch hart kämpfen musste, um auszusteigen und seinem eigenen Weg zu folgen. Er beschrieb sein Verhältnis zu ihm als eines der „trotzigen Hingabe“ und bot dem Ratschlag an stets lebendig zu bleiben gegenüber demjenigen, was man noch nicht wisse.
Tom Thresher wies Absolutheitsansprüche zurück und sagte, dass es ihm in seiner Kirche lediglich darum gehe „ein guter Mensch“ zu sein.

Integrale Spiritualität als neue Linie der Überlieferung?

Die nächste Frage aus dem Publikum kam von Lynne Feldmann. „Ist das Integrale eine Linie der spirituellen Lehre?“, wollte sie wissen. Dian Hamilton hielt es für möglich, das sie Wurzeln schlägt, das müsse aber letztlich die Zeit zeigen. Terry Pattens Ansicht nach ermergiere sie erst gerade, bedürfe aber der Praxis. Craig Hamilton sagte er sehe gerade eine ganze Menge verschiedener Schulen entstehen. Marc Gafni sprach die „doppelte Staatsbürgerschaft“ integraler Praktizierender an, die einerseits von diesem Trans-Ort jenseits aller Traditionen her kämen, andererseits aber auch innerhalb einer bestimmten Tradition praktizierten. Er plädierte in diesem Zusammenhang für eine Ethik der Großzügigkeit. Heilige Kriege zu führen könnten wir uns heute nicht mehr leisten.
Alles in allem hätte ich mir gewünscht, dass sich vielleicht Terry Patten oder Marc Gafni auf das Positionspapier des Integralen Forums bezogen hätten, das ihnen bis dato bereits vorlag und anhand dessen man insbesondere die Rolle des spirituellen Lehrers noch eingehender hätte erörtern können. (Natürlich hätte ich auch selber die Stimme erheben können, doch ich sah mich eher in der Position des Berichterstatters.) Trotz allem empfand ich die Diskussion als eine interessante und anregende Momentaufnahme des emergierenden Phänomens „Integrale Spiritualität“. Im Anschluss an das Panel besuchte ich am Ende ein Satsang mit dem spirituellen Lehrer Mokshananda (Joe Sousa), das ein wohltuendes Gegengewicht zu dem überwiegend kognitivem Angebot der Konferenz darstellte. Danach war Schluss.  
Es war eine überragende Veranstaltung, straff durchorganisiert, mit professionell akademischem Anspruch, teilweise brillanten Referenten und einer schier unerschöpflichen Fülle von Angeboten, inklusive Raum für Begegnung, Praxis (Pre/Post-Conference Workshops) und Tanz-Party. Das einzige, was ich im Konferenz-Design etwas vermisst habe, war eine Art gemeinsamerAusklang im Plenum. Nach der letzten Veranstaltung verstreuten sich die Teilnehmer wieder in alle Himmelsrichtungen, ohne dass noch mal ein gemeinsamer Raum eröffnet wurde, um ein vorläufiges Fazit zu ziehen und einen Abschluss zu finden. Das hatte vermutlich logistische Gründe, aber schade war es irgendwie schon. Vielleicht weist es aber auch darauf hin, dass das Integrale Projekt insgesamt noch der Vollendung harrt. Diese zweite ITC war immer noch ein Teil des Beginns und in keiner Weise das Ende dieser spannenden Reise. Die nächste Konferenz findet 2012 wieder in Kalifornien statt. 

 

(aus: Online Journal 25 + 27)