- eine Spurensuche

Michael Habecker

Einer der ganz großen Durchbrüche im Verstehen dessen, was Bewusstseinsentwicklung ausmacht, ist Wilbers Unterscheidung zwischen Zustandsstufenentwicklung (ein Erwachen in den Hauptzuständen des Seins – grobstofflich, subtil und kausal und nichtdual) und Strukturstufenentwicklung (durch die Strukturen des Bewusstseins wie archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch) usw. Was das genau bedeutet, beschreibt er erstmals ausführlich in Integrale Spiritualität, und eine noch genauere Beschreibung ist mit der angekündigten Veröffentlichung der Bücher Overview und Superview versprochen. Es gibt allerdings schon frühere Spuren dieser Einsicht in seinem Werk, und eine dieser Spuren findet sich in dem 1999 erschienenen Buch One Taste (Einfach DAS). Auf S. 361 stellt Wilber darin im Zusammenhang mit dem Übergang von seiner Schaffensphase II zur Schaffensphase III, als einer Unterscheidung unterschiedlicher Entwicklungslinien, die nebeneinander verlaufen, die Strukturstufenentwicklung anhand eines einfachen „Integralen Psychogramms“ in einer Abbildung (Nr. 5) wie folgt dar:


Abb. Integrales Psychogramm
Wilber schreibt dazu
Diese beiden Diagramme [er stellt das Psychogramm auch noch als Kreisform dar], die ich „integrale Psychogramme“ nennen möchte, zeigen den Verlauf der verschiedenen Entwicklungslinien (oder -ströme) durch die verschiedenen Ebenen (oder Wellen) der Großen Verschachtelung. Wie man sieht, kann man auf manchen Ebenen eine höhere, transpersonale oder „spirituelle“ Ebene erreicht haben und auf anderen nur eine personale oder „psychologische“ Ebene ... Das Selbst oder Selbst-System dirigiert alle diese Strömungen und Wellen und muss versuchen, zwischen ihnen einen Ausgleich und eine gewisse Harmonie herzustellen. (S. 361)
Ein paar Seiten später, auf S. 356, zeigt Wilber dann folgende Darstellung (Abbildung 7):

 

Die Entwicklung durch die Seinsbereiche

Er schreibt dazu:
Das frontale[1] Wesen ist die am Grobstofflichen ausgerichtete Persönlichkeit, im weitesten Sinne dasjenige, was wir mit dem „Ich“ meinen, oder die Persönlichkeit, die sich nach außen auf die sensomotorische Welt orientiert ... Die frontale Entwicklung steht für die Evolution des Selbst ... Den Traditionen zufolge ist die frontale Persönlichkeit dasjenige, was sich in diesem Leben entwickelt, und das tiefere Psychische dasjenige, was sich zwischen den Leben entwickelt. Es ist im allerweitesten Sinne das, was wir mit dem Wort „Seele“ bezeichnen ... Das tiefere Psychische ist von der Geburt (oder von der Mitte der pränatalen Zeit) an vorhanden und spielt so lange nur eine bescheidene Rolle, bis die notwendige frontale Entwicklung ihre Aufgabe erfüllt hat, das Bewusstsein auf das grobstoffliche Reich hin zu orientieren und es an diesesanzupassen. Wenn die frontale Persönlichkeit zu verlöschen beginnt, kommt das tiefere psychische Wesen immer mehr zum Vorschein. Wie die frontale Persönlichkeit das Bewusstsein auf das grobstoffliche Reich hin orientiert, so orientiert das tiefere psychische Wesen das Bewusstsein auf das subtile Reich hin ...
Das Selbst oder der transpersonale Zeuge ist zwar im Gegensatz zum Ich oder zur Seele insofern keine „Persönlichkeit“, als es keine spezifischen Merkmale besitzt (es ist reine Leerheit und das große Ungeborene), aber es ist immer noch eine von der Form getrennte Leerheit, ein Zeuge, der immer noch vom Bezeugen getrennt ist ... Wie das Ich das Bewusstsein auf das Grobstoffliche und die Seele das Bewusstsein auf das Subtile hin orientiert, so orientiert das Selbst das Bewusstsein auf das Kausale. (S. 364f.)
Ersetzt man in der ersten Grafik die Ebenenbegriffe durch die Strukturstufenbezeichnungen von Jean Gebser (archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch, integral), und reduziert man in der zweiten Grafik die Bereichsbeschreibungen auf die Begriffe grobstofflich, subtil, kausal und nichtdual, und macht man daraus eine horizontale Achse, dann führt die  Verbindung beider Grafiken unmittelbar zur Wilber-Combs Matrix 



Abb. Die Wilber-Combs Matrix
Das integrale Psychogramm beschreibt dabei die Strukturstufenentwicklung, wohingegen die Entwicklung durch die Zustandsbereiche (Wachen, Träumen, traumloser Tiefschlaf, nichtdual) durch die zweite Abbildung beschrieben wird. Beide Entwicklungen geschehen relativ unabhängig voneinander, beeinflussen sich jedoch wechselseitig, und führen zu unterschiedlichen Bewusstseinsschwerpunkten mit einer doppelten Komponente, von denen sich ein Teil auf die Strukturentwicklung und der andere auf die Zustandsorientierung bezieht.

[1] [Anmerkung: „Frontal“ (im Englischen frontal) meint in diesem Fall vordere oder nach außen gerichtete Entwicklung. 

(aus: Online Journal 18)