mit seiner Schaffensphase Wilber-V, ”Kosmic Karma and Creativity” betritt Ken Wilber Neuland und prägt dafür auch neue Begriffe, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Zusammenstellung von Dennis Wittrock.

Integrale Post-Metaphysik

Metaphysische Philosophien und Systeme (z.B. Platon, die philosophia perennis, die große Kette des Seins) postulieren vorgegebene ontologische Entitäten ("Substanzen", "Level des Seins", "ewige Ideen" etc.) , die aus moderner und postmoderner Sicht fraglich erscheinen. Da diese metaphysischen Systeme philosophisch diskreditiert sind (”der Mythos des Gegebenen”, “Metaphysik = Denken ohne Beweise”), sind auch die damit assoziierten spirituellen und religiösen Erfahrungen aus post-/moderner Sicht anrüchig und verdächtig geworden: Spiritualität passt nicht mehr durch das Nadelöhr der Post-/Moderne. 

Integrale Post-Metaphysik ist Wilbers Reformulierung der Erkenntnisse der spirituellen Traditionen, die den Anforderungen der heutigen Zeit entspricht: derselbe GEIST, doch in zeitgemäßer Form. Spirituelle Erkenntnis wird mit Praxis und Injunktionen verknüpft.

Setzt man in die AQAL-Matrix die Parameter der mythischen Ära ein, so kann man daraus klassische metaphysische Systeme rekonstruieren (ähnlich der Relativitätstheorie, die in die alte Newtonsche Physik kollabiert, sobald man bestimmte Masse-Parameter einsetzt). Zudem werden die vorgegebenen ontologischen Entitäten durch ”kosmische Gewohnheiten” ersetzt – eine evolutionäre Sichtweise.

Perspektiven

Perspektiven spielen bei Wilber-V eine entscheidende Rolle. Was auch immer geschieht, alles ist immer schon eingebettet in Perspektiven der 1., 2. und 3. Person. Philosophien, die mit der reinen Perzeption (Wahrnehmung) beginnen, sind Wilber zufolge bereits einenSchritt zuviel gegangen, denn ”Wahrnehmung” selbst erfordert, dass zuvor eine 1. Person (ein ”Ich”) eine 2. Person (ein ”Du”) , bzw. eine 3. Person (ein ”Es”) wahrnimmt.
Somit ist auch der Satz ”ein Subjekt nimmt ein Objekt wahr” bereits eine Abstraktion, die die entscheidende Tatsache überspringt, dass eine 1. Person in Relation zu einer 2. Person (bzw. 3. Person) steht. Wahrnehmungensind nur innerhalb von Perspektiven möglich, weshalb Wilbers radikaler Schritt zu einer Post-Metaphysik in einer Ersetzung von Wahrnehmungen durch Perspektiven besteht.

Integraler Methodologischer Pluralismus (IMP)

IMP ist eine zeitgemäße Erkenntnistheorie, die dem Pluralismus der verschiedenen Methoden der Wissensgewinnung einen kohärenten Referenzrahmen bietet. Die wohlwollende Grundannahme lautet ”Everybody is right” (”Jeder hat Recht”- zumindest ein wenig) und ein breites Spektrum von Methoden wie z.B. Strukturalismus UND Hermeneutik UND Naturwissenschaft UND Autopoesis sind alle richtig und legitim und produzieren valide Ergebnisse. Damit das funktioniert, gibt Wilber drei Leitlinien oder Prinzipien für einen jeglichen IMP

  1. Nonexclusion – ”Nicht-Ausschließung”
  2. Unfoldment – ”Einfaltung”, ”Aufhebung”
  3. Enactment – ”Inszenierung”
Nichtausschließung bedeutet, dass wir den Wahrheitsanspruch einer jeglichen Methode innerhalb der Grenzen ihres Paradigmas anerkennen, jedoch nicht wenn sie Aussagen über Phänomene macht, die mit anderen Methoden hervorgebracht (”inszeniert”) werden. Man “befreit Paradigmen, indem man sie begrenzt”. 

Einfaltung/Aufhebung bedeutet, dass alle Methoden und Paradigmen (innerhalb einer disziplinären Linie) ”true but partial” sind - wahr, aber nur Teil einer größeren Wahrheit. Nachfolgende Paradigmen heben sie im mehrfachen Sinne des Wortes auf und sind dann relativ wahrer und angemessener als ihre Vorläufer. 

Inszenierung bedeutet, dass Subjekte die Welt nicht einfach wahrnehmen (“der Mythos des Gegebenen”), sondern mit ihrem Bewusstsein mit-inszenieren. Level und Zustände des Bewusstseins des Subjekts (und andere intersubjektive Faktoren) sind somit sehr wesentlich an der Inszenierung von Welt beteiligt, strukturiert Wirklichkeit mit ("Kon-struktion"). Faktoren aus allen Quadranten fließen ein, damit ein Erkenntnisobjekt sich zeigt. Diese variieren folglich stark und können nicht universell für alle Menschen und Situationen als gleichbleibend angenommen werden, wie es beim "Mythos des Gegebenen" geschieht. Erfahrung ist nicht gegeben, sie wird inszeniert. Wirklichkeit wird nicht einfach "abgespiegelt" sondern mit erzeugt. (Diese Wendung vom Erkenntnis-Objekt auf das Subjekt ist bereits in der "Kopernikanischen Wende" der Kantischen Erkenntnistheorie angelegt.)

Die acht ursprünglichen Perspektiven

IMP arbeitet mit den sogenannten ”acht ursprünglichen Perspektiven” (”eight native perspectives”), die sich aus einer weiteren Differenzierung der vier Quadranten in ”Innen /Außen” (zusätzlich zu ”innerlich” /äußerlich” und ”individuell”/ ”kollektiv”) von individuellen und sozialen Holons ergeben.

Diese 8 natürlichen Perspektiven sind eng verbunden mit bereits existierenden 8 großen Methodologien der Wissensgewinnung in allen Quadranten Phänomenologie z.B., ist ein Zugang der 1.Person (1P: teilnehmend, unmittelbar, interpretativ) zu individuellen Innerlichkeiten (1P x 1P), während Strukturalismus ein Zugang der 3.Person (3P: objektivierend, betrachtend, distanzierend) zu den selben innerlichen Vorgängen ist (3P x 1P). Dies ist gewissermassen das “Innere des Innerlichen” (Phänomenologie, Zugang durch Introspektion, Meditation) und das “Äußere des Innerlichen” (Strukturalismus, Zugang durch Entwicklungspsychologie, z.B. Piaget, Spiral Dynamics, etc.)

Zudem fasst Wilber das Innere des Innerlichen (#1 und #3), das Äußere des Innerlichen (#2 und #4), das Innere des Äußerlichen (#5 und #7) und das Äußere des Äußerlichen (#6 und #8) in den Zonen zusammen:



Abb.: Acht große Methodologien/ Paradigmen

Integral Operating System (IOS)

Das ”Integrale Betriebssystem” ist in Anlehnung an Computer-Fachchinesisch eine Art übergeordnete ”Bewusstseinssoftware”, die auf die Hardware (das Hirn) gespielt wird und ähnlich wie Windows oder Linux eine vereinigende Bedienungs-Oberfläche für unzählige andere Programme bietet. Das Betriebssystem besteht lediglich aus einer Reihe von (3.Person-) Zeichen, doch sie erinnern das System daran mit den Realitäten der 1., 2. und 3. Person (Ich, Du/Wir und Es) in Kontakt zu bleiben. Hierzu sagt Wilber:

”Das Ergebnis ist, dass jedes Hirn-Hardware-System, das mit IOS läuft, automatisch alle Phänomene scannt – innerlich wie äußerlich – nach jeglichen Quadranten, Leveln, Linien oder Zuständen, die nicht mit im Gewahrsein eingeschlossen sind.”
IOS ist eine alltagspraktische Version des IMP. Innerhalb seiner Tätigkeit ist man dann “integral informiert” und hat die Existenz aller Quadranten, aller Level, aller Linien, aller Zustände im Hinterkopf, so dass IOS in gegebener Situation einen Korrekturvorschlag anbieten kann. Dies verändert die Qualität der jeweiligen Tätigkeit dramatisch, da eine sehr viel angemessenere und umfassendere Karte der Wirklichkeit herangezogen wird.

Kosmisches Karma und Kreativität

Jeder Moment ist zugleich eine Mischung aus alten Elementen und neuen Elementen, aus Vergangenem und Aktuellen, aus Karma und Kreativität. Jeder neue Moment schließt den vorhergehenden Moment ein und transzendiert ihn.

Dies gilt in Wilbers Sicht in allen Quadranten: U.L. gibt es die kollektiven Strukturen des Bewußtseins, die vererbt werden und gleichzeitig weiter evolvieren, (z.B. die vMemes nach SD), für O.L. eine individuelle Geschichte des Bewußtseins, für die beiden rechten Quadranten (äußerlich) dasjenige, was Rupert Sheldrake Felder ”morphischer Resonanz”  (gestaltbildende Felder) nennt – jeweils individuell oder kollektiv eine Geschichte der evolvierenden äußerlichen Formen.

Neue Formen in der AQAL Matrix werden als kosmische Gewohnheitsmuster weitergegeben und bilden (je nach Grad der Wiederholung) einen mehr oder weniger starken Wahrscheinlichkeitsraum für zukünftige Phänomene. So entstehen ‚kosmische Trampelpfade’ von denen zwar abgewichen werden kann, dies jedoch mit der Zeit immer unwahrscheinlicher. Auf diese Weise können auch die physikalischen Gesetzmäßigkeiten als uralter kosmischer Habitus re-interpretiert werden, der selber kurz nach dem Big Bang evolviert ist. Hier geht die Kreativitätskomponente zwar mittlerweile gegen Null – ist aber nicht gleich Null (d.h. physikalische Gesetze geben Auskunft über sehr große Wahrscheinlichkeiten bezogen auf das Verhalten fundamentaler Holons wie Atome und Moleküle, jedoch sind das keine vollständig determinierten Aussagen, wie man bisher häufig annahm).

Neue Differenzierungen in der Terminologie

Explizit hinzugekommen ist die terminologische Differenzierung des "Inneren" und "Äußeren" von Holons, sowie eine genaue Erläuterung von des Begriffspaares "intern" / "extern. Zur besseren Übersicht hier eine Tabelle mit den Termini:

Englisch

Deutsch

Begriffserklärung:

interior / exterior

innerlich / äußerlich

 

  • steht für linke / rechte Seite des Quadrantenmodells , vgl.:
  • unsichtbar / sichtbar
  • nicht lokalisiert / einfacher Ort

 

inside / outside

innerhalb / außerhalb

 

oder auch:

 

innen / außen

 

  • bezieht sich auf die Grenzen von Holons
  • innen und außen von innerlichen und äußerlichen Holons, z.B.:
  • OL : ein Gedanke innerhalb meines Geistes (innerlich, innerhalb)
  • UL: ein Mitglied unserer Gruppe (“insider”) (innerlich, innerhalb)
  • OR: ein Stein in meinem Magen (äußerlich, innen)
  • UR: innerhalb eines physischen Systems (z.B. "im" Flugzeug)

 

internal / external

intern / extern

 

  • intern: folgt dem Regime, Code oder Muster eines übergeordneten Holons, bzw. folgt ihm nicht: in diesem Fall ist das Holon extern
  • alle Subholons, Komponenten, Teile, sind  einem höheren Holon intern, folgen seinem Muster
  • Atome sind Molekülen intern, Moleküle sind Zellen intern, Zellen sind Organismen intern..., usw.