eine Besprechung von Michael Habecker
 
[Informationen zum Kurs unter: https://www.coreintegral.com/programs/courses]
Ich bin nicht sicher, ob diese Rückmeldung hilft, doch dieser Kurs ist wirklich anspruchsvoll. Ich habe 20 Jahre gebraucht um das meiste davon zu lernen.

Ken Wilber, bezogen auf den Kurs Advanced Integral

Endlich ist er da, der Kurs Advanced Integral. Es ist der zweite Kurs einer dreiteiligen Reihe. Der erste Kurs, Essential Integral, veröffentlicht 2009 als eine DVD Reihe, ist eine ausführliche Einführung in die Integrale Theorie und Praxis. Der dritte Kurs, dessen Veröffentlichung für Ende 2011 angekündigt wird, wird sich mit Anwendungen beschäftigen. Der zweite, nun vorliegende Kurs ist ein Aufbaukurs, der, so die Versprechung,
„unveröffentlichte Arbeiten, Entwürfe und neue, bisher noch nicht diskutierte Themen“ zum Inhalt hat. Dieser Kurs ist als Download und als DVD Reihe erhältlich. Nachdem in den letzten Jahren die integrale Theorie und Praxis eine enorme Verbreiterung (und Verbreitung) erlebt hat, und vor dem Hintergrund der Ankündung mehrerer Buchprojekte „in Arbeit“ durch Ken Wilber, verspricht Advanced Integral eine Darstellung des aktuellsten Standes der integralen Theorie.
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Kursinhalte im Überblick wiederzugeben, um einen Eindruck zu vermitteln, worum es dabei geht.

Lektion 1: Einführung

Am Beginn des Kurses steht das Versprechen einer „second simplicity“. Diese bedeutet einen Lernweg, der von einem einfachen Erstverständnis über die Erschließung der vollen Komplexität einer Thematik zu einer neuen Einfachheit führt. Diese neue Einfachheit hat jedoch im Unterschied zur ersten Einfachheit die Komplexität integriert und geht über sie hinaus. Man muss durch die Komplexität hindurch, um zur erneuten Einfachheit zu gelangen. Aus Wissen wird so Weisheit.
Sowohl Kurs 01 als auch Kurs 02 dienen als Basis für die Anwendungen in Kurs 03. Das Verständnis der Inhalte von Kurs 01 ist wiederum eine Voraussetzung für das Verstehen von Kurs 02. Der Kursteilnehmer wird gleich zu Beginn in Form einer introspektiven Selbstreflektion dazu eingeladen, sich seiner eigenen Motive und Erwartungen bezüglich des Kurses bewusst zu werden und sich zu fragen, was er oder sie mit dem Kurs machen möchte, und ob er oder sie das Gelernte in den Dienst des eigenen Lebens und den Dienst für andere stellen möchte.

Nach dieser Einführung bietet die Einführungslektion die Möglichkeit zwischen Themenbereichen zu wählen, die hintereinander besprochen werden: ein Theoriepfad, ein Kursüberblick und eine Untersuchung der eigenen Lernziele.

Theoriepfad

Schon in dieser Einführungslektion geht es gleich zur (theoretischen) Sache. Die Erörterung des Theoriepfades beginnt mit einer Beschreibung der Phasen Wilber I bis Wilber V, als ein Blick auf die Historie der Entstehung der integralen Theorie und Praxis, wie sie von Wilber formuliert wurde und wird. Besonders hervorgehoben wird dabei der zentrale Begriff einer „kosmischen Adresse“ sowohl hinsichtlich desjenigen oder derjenigen, der/die eine Beobachtung/Wahrnehmung macht, wie auch hinsichtlich dessen, was beobachtet/wahrgenommen wird. Das Verständnis der Entstehungsgeschichte der AQAL Theorie ist nicht nur von historischem Interesse. Es unterstützt einen auch persönlich dabei nicht nur AQAL zu verstehen, sondern auch den eigenen Bezug auf sich selbst und die eigene Rolle in der Welt. Für viele bedeutet AQAL ein Nach-Hause-Kommen, bei dem die eigenen Lebenserfahrungen in ihrer Gesamtheit und in ihrem Gesamtzusammenhang erkannt werden. Dies ist auch der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen Landkarte und Territorium, zwischen der eigenen Erfahrung und der Beschreibung dieser Erfahrungen. Es ist auch der Unterschied zwischen der AQAL Theorie und dem Integralen Methodologischen Pluralismus (IMP).

Der IMP ist nicht gleichzusetzen mit AQAL, ein Fehler, der oft gemacht wird. Das „Methodological“ beim IMP steht für ein Tun bzw. für eine Praxis. „Tun“ bedeutet dabei im allgemeinsten Sinn alles Tun, das Erfahrungen hervorbringt. Ein zentraler Begriff dabei ist der der „Injunktion“. Injunktionen sind Praktiken, die Erfahrungen hervorbringen, im Sinne von „wenn du dieses wissen willst, musst du jenes tun“. (Die Begriffe „Aktivität“, „Paradigma“ und „Injunktion“ werden synonym gebraucht). AQAL ist der Rahmen, der die Erfahrungen, die durch den IMP hervorgebracht werden, kategorisieren hilft. Dies ist der wichtige Unterschied zwischen AQAL und IMP.

Durch die Reihenfolge der Veröffentlichung von AQAL und IMP ist der Eindruck entstanden, dass AQAL vor dem IMP da war (weil AQAL früher veröffentlicht wurde und auch meist zuerst vorgestellt wird), doch es ist in Wirklichkeit genau andersherum. AQAL war dasjenige, was Ken Wilber am besten darin unterstützte, seine Erfahrungen der letzten dreißig Jahre bestmöglich zu beschreiben. Diese Erfahrungen wurden durch Injunktionen hervorgebracht, die Ken später unter dem Begriff IMP zusammenfasste. Die Injunktionen von IMP waren daher zuerst da, und AQAL kam später. Es sind, als eine Konsequenz daraus, vor allem die gemeinsamen Erfahrungen, die die Menschen auf dem integralen Weg miteinander verbinden, und nicht so sehr die abstrakten Theorien.

Das „Integral“ des IMP verbindet die unterschiedlichen Injunktionen miteinander durch drei heuristische Grundprinzipien des IMP:
- Das Prinzip der Nichtausschließung (nonexclusion)
- Das Prinzip der Entfaltung (enfoldment)
- Das Prinzip der Hervorbringung (enactment)

Diese drei Grundprinzipien hat Ken Wilber erstmals im so von ihm genannten Excerpt B formuliert. Es sind Vorschläge, wie die zahlreichen bereits existierenden Praktiken des IMP durchzuführen sind. Dadurch werden die Injunktionen integral. Diese Prinzipien leiten unsere Injunktionen und Praktiken. Sie helfen uns, aus isolierten Teilerfahrungen holistische Erfahrungen zu machen.

Das Prinzip der Nichtausschließung (nonexclusion)

Injunktionen bringen die Arten von Erfahrungen hervor, die als gültig und legitim (gut, wahr, richtig) angesehen werden von der Wissensgemeinschaft derjenigen, welche die Injunktionen praktizieren. Jede UL Weltsicht (UL = unterer linker Quadrant) wird begleitet von Paradigmen und sozialen Praktiken des UR (unterer rechter Quadrant). Erfahrungen, die in der legitimierenden Weltsicht kodifiziert sind, regeln das OR (oberer rechter Quadrant) Verhalten zusammen mit den Bewusstseinsphänomenen (OL = oberer linker Quadrant), die von den Mitgliedern der Gemeinschaft oder Kultur für bedeutend angesehen werden. Dies ist eine Angelegenheit von gemeinsamer Hervorbringung [tetra-enacting] und gemeinsamer Entwicklung [tetra evolving]. Alle Paradigmen und Injunktionen – traditionell, modern und postmodern – werden dabei akzeptiert. Alles kommt auf den Tisch. „Jeder hat recht“ wird daher als ein erster Schritt und ein erstes Prinzip gesehen, das Prinzip der Nichtausschließung (nonexclusion).

Doch wie können all die unterschiedlichen Aussagen eines „jeder hat recht“ zusammenkommen, wo doch die meisten der Paradigmen sich nicht gegenseitig akzeptieren? Die Nichtausschließung erstreckt sich auf die Gültigkeitsansprüche innerhalb der jeweiligen Paradigmen (Hermeneutik, Spiritualität oder Wissenschaft allgemein). Die Gültigkeitsansprüche finden jedoch dort ihre Grenzen, wo der eigene Geltungsbereich überschritten wird. Richt/falsch und korrekt/inkorrekt gilt nur für Daten, die innerhalb des eigenen Bereiches hervorgebracht wurden, und nicht außerhalb davon.

Ein Beispiel soll das illustrieren: Meditierende Mönche und EEG Maschinen. Ist Gott real, und wo ist er/sie/es? Meditative Injunktionen und Gehirnstrommessungen enthüllen sehr unterschiedliche Daten. Die „Wirklichkeit“ meditativer Erfahrungen kann durch Gehirnstrommessungen nicht bewiesen werden, sondern lediglich ein Zusammenhang dieser Erfahrungen mit Gehirnstrommustern. Um diese Erfahrungen zu verifizieren braucht es OL Erfahrungen einer ersten Person, wie „Gottheit“ oder „satori“. Am Beispiel des Eiscreme-Essens: das Schmecken der Eiscreme ist etwas anderes als das Gehirnstrommuster des Schmeckens. Die Untersuchung unterschiedlicher Bereiche geschieht durch unterschiedliche Injunktionen. Das Prinzip der Nichtausschließung erlaubt Metastudien, bei denen unterschiedliche Bereiche erforscht werden können, wobei gleichzeitig die Geltungsansprüche begrenzt werden.

Dieses Prinzip lässt sich auch konkret auf das eigene Leben (die eigene Biografie) anwenden, mit Fragestellungen wie: Wo hast du selbst die Verletzungen des Prinzips der Nichtausschließung in deinem eigenen Leben erfahren (durch Eltern, Lehrer, spirituelle Personen)? Damit verbunden ist eine Einladung, das zuerst abstrakte Prinzip durch eine Selbstuntersuchung und die Reflektion eigener Lebenserfahrungen konkret werden zu lassen. Dahinter steht ein allgemeines emanzipatorisches Streben des IMP: Ein Paradigma wird befreit, indem man es begrenzt auf den Bereich, über den es etwas aussagen kann. Durch diese „Befreiung durch Begrenzung“ wird es auch von der Last (und Problematik) befreit alles erklären zu müssen (was zu Absolutismen führt).

Das Prinzip der Entfaltung (enfoldment)

Das zweite der drei Grundprinzipien lautet Entfaltung [enfoldment]. Dahinter steckt die Einsicht von „True but partial“, oder „wahr, aber nur teilweise wahr“. Manche Erkenntnisse sind umfassender als andere, auch wenn alle wahr und angemessen sind. Das Thema Entwicklung rückt dabei in den Vordergrund. Es gibt archaische Weltsichten, magische Weltsichten, mythische Weltsichten usw., und Entwicklung schreitet voran mit einem Transzendieren (und dabei Negieren) und Bewahren. Menschliche Paradigmen entwickeln sich. Wie muss ein Kosmos aussehen, in dem alle Paradigmen Platz haben?

Das Prinzip der Entfaltung (bzw. des Negierens und Bewahrens) wird am Beispiel eines Aufeinandertreffens zweier Paradigmen illustriert, dem Weltbild von Ptolemäus und dem von Kopernikus – die Sonne dreht sich um die Erde versus die Erde dreht sich um die Sonne. Die Plätze von Sonne und Erde werden vertauscht, doch das kopernikanische Weltbild enthält auch Elemente (und Daten) des Ptolemäischen, relativiert diese jedoch. Die Relativitätstheorie relativiert wiederum auch den Standpunkt der Sonne im Zentrum des Universums, und so geht die Wahrheitssuche immer weiter, true but partial.

Wie kann das Prinzip der „Entfaltung“ konkret erlebt werden? Der Kurs lädt dazu ein, im eigenen Leben auf die Suche zu gehen, wo derartige Übergänge stattgefunden haben, mit Fragen wie:

  • Was sind die eigenen derzeitigen Injunktionen?
  • Gab es eine Zeit, in der diese Injunktionen weniger weit entwickelt waren?
  • Was wurde übernommen, was wurde ersetzt?
  • Was gab den Ausschlag für die Weiterentwicklung?
  • Auf welche Paradigmen verlässt du dich jetzt, und bist du offen dafür, dass diese Paradigmen eines Tages ersetzt werden durch umfassendere?
  • Suchst du aktiv danach?

Das Prinzip der Hervorbringung (enactment)

Das dritte Prinzip lautet Hervorbringung [enactment]. Es bedeutet, dass keine Erfahrung „unschuldig“ und einfach gegeben ist, sondern dass jede Erfahrung (auch) hervorgebracht wird durch die Aktivität des Subjektes, das die Erfahrung macht. Dies ist die postmoderne Revolution. Doch Menschen als Subjekte sind nicht gleich. Jeder hat eine unterschiedliche AQAL Konstellation (kosmische Adresse), und daher bringt die gleiche Injunktion unterschiedliche Erfahrungen/Daten hervor. Die Agenz eines Holons ist wie eine Lichtung oder ein Paradigma, das eine Erfahrung hervorbringt (enacted).

Und wieder lädt der Kurs dazu ein, das Prinzip der Hervorbringung an sich selbst zu erfahren:

  • Wo findet es sich im eigenen Leben?
  • Wo sind in Diskussionen und Streitgesprächen unterschiedliche Wahrheiten zum Vorschein gekommen?
  • Wo führten gleiche Paradigmen zu unterschiedlichen Ergebnissen?
  • Welche AQAL Faktoren waren der Grund (Quadranten, Ebenen, Zustände, Typen)?

Dazu kommt, neben der kosmischen Adresse des Beobachters dann noch die kosmische Adresse dessen, was beobachtet wird. Beides zusammen erlaubt, alles im Kosmos in Bezug zu allem anderen zu lokalisieren.
Dies sind die drei Prinzipien von Nichtausschließung, Entfaltung und Hervorbringung. Dadurch können im Gegensatz zueinander stehende Paradigmen verbunden werden, mit dem Ergebnis einer metaparadigmatischen Koordination. Es geht dabei nicht nur um ein Verstehen, sondern es geht um Entdeckung und Verkörperung. AQAL wird so zu einem Navigationstool, das zu einer zweiten Einfachheit führt. Die Theorie unterstützt uns dabei, das Territorium zu entdecken und dort erfolgreich zu navigieren.

Kursüberblick

Schwerpunkte des Kurses Advanced Integral sind der IMP, die acht Erkenntniszonen, eine Vorstellung des Themas Entwicklung in allen vier Quadranten und eine integrale Postmetaphysik. Es geht um eine Vertiefung des theoretischen Verständnisses, verbunden mit einem Angebot unterschiedlicher Lernwege, Übungen und Selbstreflexionen.
Längere Audiobeiträge von Ken Wilber ergänzen und bereichern den Kurs.
Der Kurs wird in sieben Lektionen angeboten, wobei die Lektion 4 wegen ihrer Länge in zwei Teilen präsentiert wird:

Lektion 1: Einführung, mit
- einer Kursübersicht und Einführung
- den Grundzügen des IMP
- einer Einladung zur Reflektion der eigenen Lernziele

Lektion 2: Holons, mit
- einer Vertiefung des Themas Quadranten
- der Holontheorie
- den 20 Grundaussagen

Lektion 3: Zonen (als Perspektiven), mit
- einer Erweiterung der vier Quadranten zu acht Zonen
- einer Diskussion von Methodologien und Perspektiven
- einer Untersuchung der Unterschiede zwischen innerlich und äußerlich, innen und außen und internal und external
- einer Betrachtung der Zonen als Perspektiven

Lektion 4 Teil 1: Methoden der linksseitigen Quadranten
- die Zonen werden als Methodiken vorgestellt
- jede der acht beispielhaften [iconic] Methoden jeder der Zonen wird vorgestellt, einschließlich einer historischen Betrachtung

Lektion 4 Teil 2: Methoden der rechtsseitigen Quadranten
- die Zonen werden als Methodiken vorgestellt
- jede der acht beispielhaften [iconic] Methoden jeder der Zonen wird vorgestellt, einschließlich einer historischen Betrachtung

Lektion 5: Entwicklung in den oberen Quadranten
- das Thema Entwicklung rückt in den Vordergrund
- Stufen und Linien
- der Unterschied zwischen Metrik und Modellen
- die Vorstellung eines Modells, das hierarchische Komplexität für unterschiedliche Entwicklungslinien beschreibt
- ein Spektrum subtiler Energien

Lektion 6: Entwicklung in den unteren Quadranten
- die Betrachtung von Entwicklung in den unteren Quadranten, sowohl im kulturellen wie im sozialen Bereich
- das Wesen sozialer Revolutionen
- der Unterschied zwischen individueller und sozialer Entwicklung
- Entwicklung aus vier Quadranten betrachtet

Lektion 7: Zusammenfassung
- eine Zusammenfassung des Kurses und eine Vorausschau auf Anwendungen (Kurs 3)

Eigene Lernziele untersuchen

Das Untersuchen der eigenen Lernziele, zu dem der Kurs ausdrücklich einlädt, ist ein wichtiger Schritt – sowohl für diejenigen, die den Kurs konzipiert haben, als auch für diejenigen, die an ihm teilnehmen.

Zuerst werden die beabsichtigten Lernziele der Kursanbieter vorgestellt. Diese sind:
- ein tieferes und tiefergehendes Erleben, eine Verbindung und ein Engagement mit dem integralen Ansatz
- die Unterstützung einer aktiven Rolle bei der Entfaltung einer integralen Vision durch die Schaffung eigener integraler Umsetzungen und Anwendungen
- zur Avantgarde [leading edge] der Wissenden [knowledge holders] in der integralen Gemeinschaft zu gehören, und damit das Diskurs- und Anwendungsniveau heben
- in der Lage zu sein, erweiterte integrale Konzepte zu differenzieren, definieren und zu verstehen, so dass der angebotene Kurs 2 Vervollständigungstest zu mindesten 85% richtig beantwortet werden kann

Dann folgt eine interaktive Übung, mit der die Kursteilnehmer ihre eigenen Lernziele feststellen können. Der eigene Lernweg sollte als etwas Dynamisches betrachtet und im Verlauf immer wieder reflektiert werden, in einem Abgleich mit dem, was die Kursersteller an Lernzielen anstreben.

Am Schluss der ersten Lektion werden eine Zusammenfassung und eine interaktives Review angeboten mit den Themen:
- die fünf Phasen von Wilbers Werk

- der Integral Methodologische Pluralismus

- die drei heuristischen Prinzipien

- eine eingehendere Quadrantenbetrachtung


Lektion 2: Holons

Die Quadranten werden als die vier grundlegenden Dimensionen aller empfindenden Holons bezeichnet. Gleichzeitig sind sie vier Grundperspektiven, durch die alles betrachtet werden kann. Die Konsequenzen aus diesen einfachen Feststellungen werden in der zweiten Lektion verfeinert und vertieft.
Zu Beginn gibt es einen dreißigminütigen Audiobeitrag von Ken Wilber zum Thema Bewusstsein. Ken unterscheidet entsprechend einer nicht-dualen Wirklichkeitsvorstellung zwischen absolutem und relativem Bewusstsein. Das Absolute ist dabei die Leere oder Leerheit, in der alles erscheint. Das Knifflige [tricky] ist jedoch das relative und endliche Bewusstsein, das erst unter Heranziehung aller Quadranten/Perspektiven verständlich wird.

Überwiegend wird Bewusstsein in Form eines Quadrantenabsolutismus beschrieben, wobei jeweils ein Bewusstseinsaspekt auf Kosten anderer Aspekte hervorgehoben und verabsolutiert wird. Wir brauchen jedoch, so Ken, alle vier Quadranten, um alle Faktoren (des relativen) Bewusstseins zu beschreiben.

Durch die Perspektive des OL Quadranten ist dies das Bewusstsein, wie es von einer ersten Person (einem Ich) erfahren wird, so eine allgemeine Definition. Doch die Phänomenologen, so Ken, sagen, dass Bewusstsein immer „Bewusstsein von ...“ etwas ist. Und dieses „von“ kann z. B. ein semantisches Feld von Bedeutungseinheiten sein, und das wäre die Perspektive des UL Quadranten. Auch das ist ein Bewusstseinsinhalt. Bewusstsein ist verbunden mit semantischen Feldern, die von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind. Sowohl die OL und die UL Perspektive erhellen die innerlichen Komponenten von Bewusstsein. Das semantische Feld ist dabei erst vor relativer kurzer Zeit mit Bewusstsein in Verbindung gebracht worden, doch es ist die Voraussetzung dafür, dass Bewusstsein irgendeine Art von Bedeutung hat. Bedeutung ist das semantische Feld, es stellt Sinn und Bedeutung für das Bewusstsein zur Verfügung.

Auf der äußerlichen Seite, z.B. aus der Perspektive des OR Quadranten, erscheint uns Bewusstsein als Prozesse von Gehirnchemie und Gehirnphysiologie, wie sie von den Neurowissenschaften beschrieben werden. Doch diese Prozesse reichen nicht aus um Bewusstsein zu erzeugen. Ohne ein semantisches Feld ist das buchstäblich bedeutungslos. Der OR Quadrant kann lediglich neutrale, bedeutungslose Prozesse beschreiben. Die OR Perspektive ist wissenschaftlich monologisch. Die Wissenschaftler geben diesen Prozessen Bedeutung, doch diese Bedeutung kommt nicht aus OR, sie kommt aus den anderen Quadranten, einschließlich des UR Quadranten. Karl Marx berühmte Aussage, dass die sozialen Umstände unser Bewusstsein bestimmen, ist eine Bewusstseinsdefinition aus der Perspektive des UR Quadranten. Der Bewusstseinsinhalt wird dabei durch die sozialen Umstände bestimmt, in denen Menschen leben. Gerhard Lenski, ein amerikanischer Soziologe, hat die Entwicklung der techno-ökonomische Strukturen und deren Einfluss auf Faktoren wie Eheschließung, Nahrungserzeugung, Arten von Krieg, Sklaverei usw. beschrieben.

Doch wir brauchen alle vier Quadranten um Bewusstsein zu definieren. Jeder Quadrant fügt etwas Wichtiges hinzu, von Erfahrungen einer ersten Person zum semantischen Feld der Bedeutungen, zu den neuronalen Wegen, bis zum unteren rechten Quadranten, den bestimmenden sozialen Bedingungen. Doch was wir heute finden sind Quadrantenabsolutismen. Sehr verbreitet ist der wissenschaftliche Materialismus der Perspektive OR. Dieser wird sogar durch die Messungen bei Meditationen noch verfeinert, wenn gesagt wird dass die Ergebnisse dieser Messungen bestimmen, was Bewusstsein ist, speziell was spirituelles Bewusstsein ist, bei Ignorierung der anderen Quadranten. Drei Viertel der Faktoren werden dabei ausgelassen – dies ist eine Katastrophe, die sogar immer mehr zunimmt, insbesondere bei der Definition spiritueller Wirklichkeiten. Der Marxismus wiederum ist eine Form von UR Absolutismus, der „Semantismus“, der die Bedeutungserzeugung über alles stellt, verabsolutiert die UL Perspektive, und es gibt auch einen idealistischen Empirizismus, wenn man so will, als die Verabsolutierung der Perspektive einer ersten Person (Ich), d. h. einer Verabsolutierung des OL Quadranten. Sie alle gehören zusammen um Bewusstsein zu definieren. Ausgelassenes schleicht sich durch die Hintertür immer wieder herein. Ein Ansatz, der zwei Quadranten zusammenbringt, ist Francisco Varelas Neurophänomenologie, doch auch dabei fehlen noch die UL und die UR Perspektive, Semantik und Syntax, doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hoffentlich, so Kens Hoffnung, kommt in Zukunft mehr davon, und bis dahin stecken wir in Absolutismen und Reduktionismen fest, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Ken erwähnt zwei Artikel zu diesem Thema, die er veröffentlicht hat. [A. d. Ü.: einer davon ist der Beitrag An Integral Theory Of Consciousness veröffentlicht im Journal of Consciousness Studies, 4 (1), February 1997, pp. 71-92; online unter http://imprint.co.uk/Wilber.htm]. Wir brauchen, so betont Wilber zum Schluss noch einmal, alle vier Quadraten um uns irgendetwas bewusst zu sein, und sei es auch nur ein einfacher Gegenstand im Raum.

Der Kurs gibt dann einige grundlegende Hinweise für das Verständnis von Quadranten. Quadranten sind keine „Eimer“, in denen Dinge gefunden werden, d. h. Dinge sind nicht „in“ Quadranten, (auch wenn das sprachlich der Einfachheit halber manchmal so formuliert wird). Ein Stuhl ist nicht rechts oben, ein Gedanke nicht links oben usw. Es ist so, dass alles durch die Quadranten als Perspektiven betrachtet werden kann. Die Quadranten sind Dimensionen-­Perspektiven (sowohl als auch). Sie erscheinen zusammen, entwickeln sich zusammen und durchdringen einander. Bereiche oder „Räume“ sind immer schon Bereiche-­Räume als Perspektiven. Es gibt keine „Sicht von Nirgendwo“. Jede Wahrnehmung ist immer schon eine Wahrnehmung-­als-­Perspektive. Die Systemtheorie z. B. tendiert dazu, Äußerliches als Äußerliches ohne Berücksichtigung der Innerlichkeit zu sehen, welche das Äußerliche betrachtet. Innerlichkeit und Äußerlichkeit erscheinen jedoch gleichzeitig und bedingen einander. Am Beispiel des Buchstabens „A“ wird die wechselseitige Bedingtheit der Quadranten-­Perspektiven erläutert, und wie alle vier Quadranten zu der Betrachtung beitragen.

Danach folgt eine Erläuterung, wie das Prinzip der Nichtausschließung in Verbindung zu den Gültigkeitsansprüchen und den Beurteilungen[judgements] zu verstehen ist. (Letztere wurden im Kurs Essential Integral ausführlich erörtert). Auch wenn bestimmte Methodiken typisch sind für bestimmte Quadranten (Systemtheorie UR, Psychologie OL, empirische Wissenschaft OR, und so weiter), so lassen sich manche Paradigmen auch auf mehrere oder sogar alle Quadranten anwenden. Es kommt dabei auf die Phänomene an, die aufgedeckt werden (als dem Geltungsbereich des Paradigmas). Manche Methoden lassen sich Teilbereichen einer Zone zuordnen, so wie die Phänomenologie der Zone 1, und können nur darüber Wahrheitsaussagen machen und über anderes nicht, wie z. B. eine rote Entwicklungsstufe, die auch „im“ OL Quadranten ist, doch nicht durch Introspektion erkannt werden kann (sondern durch eine strukturalistische Außenperspektive im OL). Der Begriff „Bereich“ bezieht sich daher besser auf ein bestimmtes Paradigma oder eine Injunktion, und nicht notwendigerweise auf einen bestimmten Quadranten oder eine bestimmte Zone.

Wahrheitsüberprüfungen beziehen sich auf die Gültigkeitsansprüche der Quadranten: Wahrheit (OR), Wahrhaftigkeit (OL), Richtigkeit/Gerechtigkeit (UL) und funktionales Passen (UR). Diese grundlegenden Wahrheitsprüfungen ermöglichen die Feststellung, was wahr oder nicht wahr, richtig oder falsch, gut oder schlecht für uns ist. All das hilft uns dabei uns mit Wirklichkeit zu verbinden. Dadurch können wir besser einschätzen, wo Paradigmen an ihre Grenzen kommen und wo wir sie sinnvoll einsetzen können. Paradigmen können Wahrheitsaussagen nur über die Gültigkeitsprüfungen ihres Bereiches treffen. Das gilt jedoch nicht für Beurteilungen, die gegenüber jedem Phänomen in jedem Quadranten angewandt werden können. Eine ästhetische (OL), kognitive (OR), normative (UL) oder systemische (UR) Beurteilung kann gegenüber jedem Phänomen und jeder Erfahrung, hervorgebracht von jedem Paradigma in jedem Bereich, gemacht werden, einschließlich des Bereichs, aus dem das Phänomen stammt. Doch auch Beurteilungen können nicht aufeinander reduziert werden. Ein Beispiel: Moralische Beurteilungen können gegenüber jedem Bereich und den darin hervortretenden Phänomenen abgegeben werden, doch sie ersetzen nicht kognitive, systemische oder normative Beurteilungen, und umgekehrt.

Der Kurs erläutert dann die Bedeutung des Schritts von 4 Quadranten zu 8 Zonen. Quadranten sind die grundlegendsten Dimensionen-­Perspektiven von Wirklichkeit. Die 8 Zonen geben eine genauere Vorstellung von Wirklichkeit, und sie erweitern das Verständnis von Perspektiven. Sie geben uns für jede Quadranten-­Perspektive zwei Zugänge. In diesem Zusammenhang wenden die Begriffspaare Ontologie/Epistemologie und Sein/Wissen (oder Erkenntnis) auf eine neue Weise betrachtet. Die Quadranten-­Bereiche spiegeln sich gegenseitig. Die ontologische Identität jedes der Quadranten ist ihre gegenseitige Hervorbringung. Kein Quadrant existiert ontologisch vor einem anderen Quadranten. Sie sind daher gleichzeitig ontologische Bereiche und epistemologische Perspektiven, und bedingen sich wechselseitig in ihrer Existenz. Damit sind Ontologie und Epistemologie gleichwertig und zwei Seiten einer Münze, und sie existieren von Anfang an. Jeder Quadrantenabsolutismus basiert auf einer A-­Priorisierung eines der Quadranten vor allen anderen (Materie, Bewusstsein, Information oder Kultur). Doch ontologische Dimensionen und epistemologische Perspektiven sind ein und dasselbe, und deshalb werden die vier Quadranten als Dimensionen-­Perspektiven bezeichnet. Analoges gilt für das Begriffspaar Sein/Wissen. Jede Feststellung ist immer auch eine Hervorbringung oder eine Erkenntnis. Es ist nicht so, dass zuerst eine Dimension des Seins vorhanden ist, die dann später entdeckt oder enthüllt wird, sondern beides geschieht zusammen. Jeder Modus des Seins ist auch gleichzeitig ein Modus des Wissens. Ontologie und Epistemologie, also auch Sein und Wissen treten miteinander als ein Ereignis auf und hervor.

Der Kurs bietet an dieser Stelle drei Lernwege wiefolgt an:
  • die Holontheorie
  • eine Vertiefung der 20 Grundaussagen
  • Injunktionen zu den 20 Grundaussagen

Holontheorie

In Eros Kosmos Logos hat Wilber erstmals den Begriff „Holon“ als Teil-­Ganzes eingeführt, und ihn dann immer wieder verwendet. Die Holontheorie als eine Theorie von Ganzen-­Teilen wird in diesem Kursabschnitt vorgestellt und mit der Idee einer moralischen Grundintuition (MGI) verbunden.
Von den vier Holonkategorien (individuelle Holons, kollektive Holons, Artefakte und Haufen) befasst sich diese Lektion überwiegend mit individuellen und sozialen Holons, die im Unterschied zu Artefakten und Haufen die Eigenschaft der Selbstorganisation haben.
Die Holonkategorien werden vorgestellt und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorgehoben. Danach folgen wichtige Begriffsklärungen wie der Unterschied zwischen "grundlegend" und "bedeutend", die Definition und das Verhältnis von "Tiefe", „Größe“ und “Spanne“. Dann werden die Kategorisierungsfehler erklärt, die entstehen, wenn diese Unterscheidungen nicht gemacht bzw. verstanden werden. Weiterhin wird das Konzept einer MGI vorgestellt und am Beispiel eines moralischen Dilemmas erfahrungsorientiert vertieft.

Eine Vertiefung der 20 Grundaussagen

In Eros Kosmos Logos definiert und erläutert Ken Wilber "20 Grundaussagen" als „kosmische Gewohnheiten“, Wesensmerkmale oder Grundmuster der manifesten Welt. Diese Grundaussagen oder „Muster der Existenz“, „Gesetze der Form“ oder „Merkmale der Manifestation“ werden in diesem Kursteil ausführlich vorgestellt und vertieft, in ihrem Gesamtzusammenhang zu Wilbers aktueller Theorie. Dabei wird die grundsätzliche Bedeutung dieser Grundaussagen, die aus der Phase Wilber IV stammen, auch für eine integrale postmetaphysische Weltsicht (Wilber V) deutlich.

Injunktionen zu den 20 Grundaussagen

Zum besseren Verständnis der zwanzig Grundaussagen werden diese in diesem Lernweg hintereinander als Injunktionen oder Praktiken vorgestellt. Dadurch werden sie für das eigene Leben konkret erfahrbar. Dies ist eine wichtige Ergänzung zu ihrer theoretischen Vorstellung im vorigen Lernabschnitt (und im Buch Eros, Kosmos, Logos). Durch das In-­Berührung-­Kommen und praktische Einüben dieser fundamentalen Grundmuster richten wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas, was seit Anbeginn an im Universum seine Wirkung entfaltet, und auch in jedem Augenblick unserer Lebens einen wesentlichen Daseinshintergrund darstellt. Als eine Möglichkeit dies praktisch durchzuführen wird angeboten, sich beispielsweise zwei oder mehr Tage lang mit einer Grundaussagen zu beschäftigen bzw. die Aufmerksamkeit darauf zu richten, bevor man zur nächsten wechselt.
Am Beispiel der Grundaussage 1: „Wirklichkeit ist zusammengesetzt aus Holons (Teil/ Ganzes).“ Fragestellungen und Aufmerksamkeitsübungen dazu können sein: Wo und wie ist meine Aufmerksamkeit im Alltag mehr auf Ganzheitsaspekte (Agenz), und wo und wie ist meine Aufmerksamkeit im Alltag mehr auf Teilheitsaspekte (Kommunion) von mir, anderen und den Dingen (Systemen) des Lebens gerichtet? Dabei geht es nicht darum etwas im Alltagsablauf zu ändern, sondern um die Vertiefung der Erfahrung dieser grundlegenden Muster der Existenz, und ihre verkörperte Wahrnehmung in der und durch die eigene Person. Führt man dieses Programm durch, mit drei Tagen Wahrnehmungspraxis pro Grundaussage, ergibt das ein intensives Übungsprogramm für 60 Tage. Darüber hinaus ist diese Praxis auch gut für Seminare geeignet, und hilft dabei die Grundaussagen nicht nur theoretisch zu verstehen, sondern sie im gelebten Alltag zu erfahren.
Erneut bietet core integral die Möglichkeit des Erhaltes von Übungen per E-­Mail an, die einen bei dieser Praxis unterstützen können.

Zusammenfassung

Erneut wird zu Beginn der Zusammenfassung die Bedeutung der Quadranten betont,und dann deren Differenzierung in acht Zonen als ein weiterer Schritt angeboten. Fügt man dazu noch die Holontheorie und diezwanzig Grundaussagen, erhält man das Rüstzeug und die Voraussetzungen für ein tiefergehendes Verständnis von Entwicklung in allen vier Quadranten, einem Schwerpunkt des Kurses Advanced Integral, und auch eine wichtige Ausgangsbasis für die Anwendungen, die der Kurs 03 zum Schwerpunkt haben wird. Dabei geht es nicht nur um ein Erlernen von abstrakten Kategorien, sondern um eine Einladung zu einer andauernden Kultivierung von Wissensinhalten im eigenen Leben.
Eine interaktive Review fasst auch die Inhalte dieser Lektion Holons zusammen. Darin wird erläutert, was Holons sind und wie sie sich entsprechend den 20 Grundaussagen „verhalten“ und entwickeln. Die Quadranten helfen uns, die Dimensionen der unterschiedlichen Holons zu verstehen, vor allem der individuellen und sozialen Holons, als eine Voraussetzung für ein besseres Verständnis von uns selbst, von anderen und von der Welt. Zu den zwei grundlegenden Quadrantenunterscheidungen (innerlich/äußerlich, individuell/kollektiv) werden beim Schritt zu den acht Zonen noch zwei weitere Unterscheidungen hinzugefügt, und zwar innen/außen und internal/external. Dies führt zu den acht Horizonten hervorgebrachter [enacted] Erfahrungen, die in der folgenden Lektion vorgestellt werden.

(aus: Online-Journal Nr. 29)