Auszüge aus dem Telefon-Interview mit Ken Wilber

Von der Tagung des IF am 24.11.2007

Monika Frühwirth: Genug aufgewärmt! (Ken lacht). Jetzt kommt der schwierige Teil. Du sagst (in Integrale Spiritualität), dass Stufen einander einschließen, während Zustände einander ausschließen –man kann nicht gleichzeitig betrunken und nüchtern sein. Was ist nun der Prozess und der Zusammenhang in der Entwicklung von Strukturstufen und Zuständen?

Ken: Richtig. Ich denke, das Wichtigste, das was wir beachten sollten, ist, dass wir letztlich die Beziehung unseres reinen
ICH BIN, unseres reinen Selbst oder unserer reinen nondualen ultimativen Realität betrachten und seine Beziehung zu den verschiedenen Zuständen und Strukturen. Die wesentliche Aussage über Zustände ist, dass diese großen, weiten Bewusstseinszustände des Wachens, Träumens und Tiefschlafs oder grobstofflich, subtil und kausal, alle erfahrbar sind. Sie alle haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Die Zustände selbst schließen einander aus. Man kann nicht gleichzeitig in einem Traumzustand und in einem traumlosen, formlosen Zustand sein. Das ist trifft sogar zu, nachdem man erleuchtet ist.

Die aus
 vertikaler Entwicklung resultierende Freiheit 
ist eine Freiheit, Perspektiven einzunehmen.
Der Zweck der Zustände ist einfach, dass sie großartige Potenziale sind, große Quellen, die Möglichkeiten potenzieller Arten von Erfahrungen. Wachheit, reines Bewusstsein, Shiva, reines ICH BIN, Turiya ist definiert als das, was nicht erfahrbar und keine Zustandsänderung ist. Das reineZeugenbewusstsein zum Beispiel, bezeugt grobstofflich, subtil und kausal und betritt selbst keinen dieser Zustände. Wachheit beginnt in der ausschließlichen Identifikation mit dem Wachzustand. Deshalb nennt man den Wachzustand auch Wachzustand.
Es ist nicht so, als könnte man im Wachzustand keine nondualen oder subtilen Erfahrungen machen – man kann – aber Wachheit selbst beginnt in der ausschließlichen Identifikation mit dem Gewahrsein des grobstofflichen Bereichs, dem ausschließlichen Gewahrsein sinnlich-motorischer Ereignisse. Es interpretiert seine Erfahrung durch jede gegebene Struktur.

Perspektiven der 1 - 5. Person

Im Verlauf von Strukturentwicklung werden neue Perspektiven hinzugefügt und es sind diese Perspektiven, durch die das Zeugenbewusstsein auf sich selbst blickt.
Es gewinnt Selbst-Verständnis, je mehr Perspektiven es zu sich selbst einnimmt. Ausgehend von Rot, mit nur einer Perspektive der 1. Person, in der das Zeugenbewusstsein nur sich selbst erfährt, über Bernstein, was eine Perspektive der 2. Person hinzufügt, die dem Zeugenbewusstsein ermöglicht, sich selbst in gegenseitigem Verständnis mit anderen zu erfahren, zu Orange, was eine Perspektive der 3. Person hinzufügt, die dem Zeugenbewusstsein Introspektion eröffnet und zu erkennen ermöglicht, dass die von ihm gemachten Erfahrungen für alle menschlichen Wesen wahr sind, ungeachtet von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Glaubensbekenntnis, somit kann es zu einem weltzentrischen Verständnis gelangen. Die Perspektive der 3. Person bringt auch genügend Abstand mit sich, so dass hier zu emergieren beginnt was wir typischerweise als Wissenschaft bezeichnen. Kunst, Moral und Wissenschaft differenzieren sich in Orange als die Großen Drei.

Indem man sich dann zu Grün bewegt, nimmt Grün eine Perspektive zu den weltzentrischen in Orange entwickelten Systemen ein. Das ist der Grund dafür, dass Grün die weltzentrischen Systeme in multiple Systeme zerbricht, indem es erkennt, dass unterschiedliche Kulturen diese Wahrheiten unterschiedlich erfahren und mit erschaffen. Eine universalistische Wissenschaft weicht einer multikulturellen, grünen, pluralistischen Orientierung mit einer Perspektive der 4. Person. Wenn man dann zu Petrol (SDi: gelbes vMem) oder Schaulogik gelangt, kann man eine Perspektive der 5. Person bezüglich dieser multiplen Perspektiven einnehmen. Weil diese Perspektive der 5. Person eine Perspektive auf die multiplen Systeme von Grün ist, kann sie beginnen, die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Systemen zu erkennen und sie kann ebenso damit beginnen, einheitliche oder systematische Systeme des Verstehens zu erschaffen. An dieser Stelle tauchen tendenziell die ersten integralen Orientierungen auf.

Gravitationszentrum

Während dies nun alles geschieht, befindet sich das Zeugenbewusstsein auch in Beziehung zu Zuständen. Ob sein Gravitationszentrum nur auf die äußere, materielle Welt ausgerichtet ist – in diesem Fall verbleibt es in der grobstofflichen Orientierung – oder ob sein Gravitationszentrum zum Subtilen verlagert wird, und in der subtilen Orientierung erlaubt das Zeugenbewusstsein innere Erfahrungen. Dann neigt der Schwerpunkt der Realität dazu, sich nach innen, zur Seele zu verlagern. Es verlagert sich in archetypische und fundamental symbolische und linguistische Bereiche und es beginnt, diesen inneren Bereichen Aufmerksamkeit und Realität zu geben.

Wenn es sich dann zu kausal verlagert – behandeln wir für den Moment kausal als den formlosen Zustand und nehmen kausal und Turiya zusammen – zu kausalem Turiya, zu reinem, leeren Zeugenbewusstsein, ist es endlich desidentifiziert von allen grobstofflichen, subtilen oder kausalen Objekten und diese reine, radikale Freiheit ist Nirvana.

Indem das Gravitationszentrum sich zu nondual verlagert, erkennt es, dass Nirvana und Samsara Nicht-Zwei sind. Das Zeugenbewusstsein ist dann eins mit allen Objekten bis zu der Ebene, zu der es sich entwickelt hat. Hat sich das Zeugenbewusstsein einigermaßen dauerhaft im Nondualen bewegt und ein Mensch befindet sich bei Bernstein, dann wird dieser Mensch sich eins mit der ganzen Welt nur durch seine erwählte Gruppe fühlen, weil orange und grüne Objekte, die auftauchen, für ihn keinen Sinn ergeben. Sie gehen tatsächlich über den geistigen Horizont eines Menschen bei Bernstein hinaus. Die einzige Welt, mit der sie eins sind, ist die Bernstein- Welt und die Welt mit Bernstein-Werten und Objekten.

Wenn sie sich bei Orange befinden, dann sind sie eins mit der weltzentrischen Welt, der 3. Perspektive, einem beginnenden wissenschaftlichen, universalistischen Verständnis von Realität. Wenn sie sich bei Grün befinden, dann sind sie eins mit der grünen Welt. Wenn petrolfarbene oder türkise Objekte auftauchen, ergeben sie für Grün keinen Sinn. Grünes Nondual ist nicht eins mit dem zweitem oder drittem Rang, diese sind ganz einfach jenseits seines geistigen Horizonts.

MF: Worauf ich hinaus will – und lass uns da doch noch ein wenig tiefer gehen – angenommen, du schaffst es, Gehirnwellen hoher Zustände zu stabilisieren und es gibt ein größeres Gewahrsein, aber keine Automatik. Was genau passiert, wenn du von einer horizontalen (translativen) in eine vertikale (transformativen) Bewegung wechselst?

Ken: Ja, im Wesentlichen ist es eine Übung des Muskels von Loslösung und Des-Identifikation. Was geschieht, ist, dass die Entwicklung durch Zustände eine zunehmende Des-Identikation mit der manifesten Welt ist, während sie in Richtung reiner 100%iger Loslösung strebt. Das ist der reine, kausale Turiya Zustand. Das geschieht, indem das Subjekt zum Objekt wird. Das ist wahr für vertikale und horizontale Entwicklung. Aber es ist die Weise, wie Entwicklung sich stabilisiert.

Begibt man sich auf einen Meditationsweg bedeutete
das konkret gesprochen, dass man damit beginnt, seine Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten. Der gegenwärtige Moment besteht für einen mit dem grobstofflichen Zustand identifizierten Menschen lediglich aus grobstofflichen Objekten. So wird der Mensch sich all dessen gewahr sein, was sich in seinem gegenwärtigen Gewahrsein befindet und vielleicht seinen Atem beobachten, ihm folgen. Das ist etwas, das man tatsächlich sehen kann. Tut man das einige Monate oder sogar Jahre, werden die grobstofflichen Objekte feinstofflichen weichen. Man wird beginnen, den Gedankenstrom in Form eines konstanten subvokalen Geschnatters zu bemerken – all die tausend Ideen und Interpretationen, die einem andauernd durch den Kopf gehen. Das kann Zuständen von Glückseligkeit und Ekstase weichen,aber man bewegt sich nun im Wesentlichen im subtilen Bereich und man ist der grobstofflichen Objekte gewahr. Das bedeutet, dass die grobstofflichen Subjekte zu Objekten des subtilen Subjekts geworden sind.

Denkt an Robert Kegans Definition von Entwicklung, die besagt, dass das Subjekt einer Stufe zum Objekt des Subjekts des nächsten wird. Genau das Gefühl, das zu können,
ist der Muskel, den man trainieren muss, damit Entwicklung stattfinden kann. Es ist eine einfache, konstante, reine Aufmerksamkeit gegenüber dem Gedankenstrom und dem gegenwärtigen Gewahrsein oder der Selbst-Kontraktion – sich genau in diesem Moment zu fühlen. Man wird sich als getrennt vom Rest der Welt erleben. Das ist eine tatsächliche Selbst-Kontraktion, eine tatsächliche Aktivität des sich Identifizierens mit dem relativen Subjekt. Dieses relative Subjekt erstreckt sich von grobstofflich, zu subtil, zu kausal.

Der gegenwärtige Moment besteht
 für einen mit dem grobstofflichen Zustand identifizierten Menschen lediglich aus grobstofflichen Objekten.

Transformation

 

MF: Wie würde jemand erkennen können, ob er den Gravitationspunkt seines Selbst von sagen wir Petrol zu Türkis verlagert hat? Sind mit den Stadien unterschiedliche Gefühle assoziiert? Oder können sie nur aus einer Perspektive der 3. Person gesehen werden? Wie weiß man das?

Ken: Eigentlich wird die Struktur selbst gefühlt oder intuitiv wahrgenommen. Es ist wie in einem Raum mit unsichtbaren Wänden: Wenn man versucht, durch eine Wand zu gehen, stößt man auf sie. Früher oder später erkennt man, dass es Konturen in unserem Gewahrsein gibt. Das geschieht, wenn Menschen sich auf einer bestimmten Ebene entwickeln.

Die vertikalen Veränderungen sind gewöhnlich langsam. Transformation ist in der Regel langsam und keine Gipfelerfahrung. Während man sich von Bernstein zu Orange oder von Orange zu Grün bewegt, findet eine Zunahme eines fundamental anderen Gefühls von Freiheit statt. Es gibt eine Zunahme in der Anzahl der Perspektiven, die man einnehmen kann. Dadurch ergibt sich eine Bewusstseinserweiterung. Der Raum, in dem man sich befindet, wurde gerade größer.

Transformation ist in der Regel langsam und keine Gipfelerfahrung

Dann beginnt man mit translativen Veränderungen
auf dieser Ebene. Das bedeutet, in diesem Raum herum zu wandern, die Welt von den Farben und Konturen dieses Raumes ausgehend zu interpretieren. Auch wenn man sie nicht sieht, kann man sie fühlen. Man stößt sich an ihnen. Man bemerkt, dass dieser Raum größer ist als der vorherige, er hat jedoch auch seine eigenen Probleme, Wünsche und Bedürfnisse; aber bald hat man sich im Wesentlichen überall im Raum herum bewegt und man bemerkt intuitiv, wo
die Wände sind. So beginnt man eine Art mentales Abbild dieser Ebene zu formen. Das bedeutet, dass man bereits beginnt, sie zu objektivieren. Man fühlt sie als ein Objekt. Damit fühlt man sich bereits in die nächst höhere Ebene hinein. Während man das fortsetzt, besteht einfach ein Gefühl der Ausdehnung, Freiheit, Klarheit und des Verstehens. Das ergibt sich im allgemeinen mit der Zunahme von Perspektiven, repräsentiert durch vertikale Entwicklung.

Veränderungen in horizontaler Entwicklung oder Zuständen werden also durch ein unterschiedliches Gefühl von Freiheit wahr genommen. Die aus vertikaler Entwicklung resultierende Freiheit ist eine Freiheit, Perspektiven einzunehmen. Das ist eine Zunahme an Fülle. Wohingegen Freiheit in Zuständen eine reine Des-Identifikation ist und ein Gefühl der absoluten Freiheit von dem vorangegangenen Zustand, was auch zutrifft. Die Freiheit nimmt zu von grobstofflich zu subtil, zu kausal zu reiner, unendlicher Formlosigkeit.

An diesem Punkt ist sie das klassische Nirvana, eine klassische Freiheit von allen Perspektiven, die man bisher eingenommen hat. Das ist eine klassische Erkenntniserfahrung, eine klassische Entdeckung des wahren Selbst oder seines ursprünglichen, nicht manifesten Gesichts, welches im Wesentlichen gar keine Form annimmt. Das ist das tatsächliche Gefühl des reinen Zeugenbewusstseins, das man in diesem Moment hat.

Das Zeugenbewusstsein in dir, in diesem Moment, ist
sich all dessen gewahr, was auftaucht. Es ist sich meiner grobstofflichen Stimme gewahr, der subtilen Gedanken, die auf meine Stimme reagieren, es ist sich des Raumes gewahr, deines Körpers, deines Verstands und sogar, wenn du nachts schläfst, ist es sich deiner Träume und des Tiefschlafs gewahr. Und dieses grundlegende Zeugenbewusstsein ist in diesem Moment frei von alledem. Durch einfache Zustandswechsel kommt man näher und näher an diese fundamentale Freiheit heran, die zugleich in diesem Moment immer schon da ist.

Eine andere Weise, wie man mit dem Zeugenbewusstsein in Berührung kommen kann, ist festzustellen, wie nahe man an das zeitlose Jetzt heran kommt. Weil das reine Zeugenbewusstsein nur im zeitlosen Jetzt existiert. Es ist sich einfach nur dessen gewahr, was jetzt auftaucht, von Moment zu Moment. Wenn ein vergangener Gedanke auftaucht, ist das eine gegenwärtige Erfahrung. Man denkt an gestern und es ist immer noch eine gegenwärtige Erfahrung. Denkt man an morgen
ist auch das eine gegenwärtige Erfahrung. Gedanken an die Vergangenheit und die Zukunft werden zugelassen, weil sie nur genaujetzt auftauchen. Das Einzige, was dass Zeugenbewusstsein erlebt, ist die zeitlose Gegenwart. Das reine Jetzt.

Aber dazwischen – wenn das Zeugenbewusstsein sich
mit dem grobstofflichen Zustand identifiziert – lenken es alle grobstofflichen Objekte von der Gegenwart ab. Wenn es sich mit dem subtilen Bereich identifiziert und sich von dem grobstofflichen des-identifiziert, kommt es näher an die Gegenwart. Wenn es sich vom Subtilen des-identifiziert und mit dem Kausalen identifiziert, bleiben nur die subtilsten Manifestationen übrig, um das Zeugenbewusstsein vom Jetzt abzulenken. Und dann, in Turiya, dem reinen Zeugenzustand, existiert nur der jetzige Moment. Um sich durch die Zustände zu bewegen ist es am einfachsten, dem Jetzt Aufmerksamkeit zu schenken. Erlaube deinem Gewahrsein in der Gegenwart zu ruhen.

Quelle: IP 9/2008