von Michael Habecker
 

Ken Wilber fasst seine integrale Erkenntnisgewinnung mit der Abkürzung AQAL zusammen, was für "all quadrants, all levels, all lines, all states, all types" steht (alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände, alle Typen).

Zwei dieser fünf Elemente beziehen sich auf Entwicklung, und das sind die Bewusstheitsebenen (levels) und Entwicklungslinien (lines). Verbindet man diese mit den 4 Quadranten (all quadrants), erhält man ein Bild wie dieses aus dem Buch Ganzheitlich Handeln (S. 115)

Habecker Psychische Entwicklung

Bild 1: Alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien (aus: Ganzheitlich Handeln)

So weit der "weitgehend inhaltsleere" (Wilber) Rahmen, den Ken Wilber zur Verfügung stellt. Jetzt kommt es wesentlich darauf an, mit welchen Inhalten er gefüllt wird. Dies ist etwas, wofür es entsprechende Fachkenntnisse braucht, worauf Wilber selbst hingewiesen hat. Wie schnell man dabei auf eine schiefe Bahn geraten kann, soll an einem Beispiel anhand einer der bekanntesten Grafiken von Wilber erläutert werden.

Habecker Quadranten

Bild 2: Einige Details der vier Quadranten (aus: Eros Kosmos Logos S. 243)

Wilber hat hier – explizit – "einige Details" der vier Quadranten aufgeführt, und nicht die vier Quadranten als solche. Diese hat er in Eros Kosmos Logos 82 Seiten früher dargestellt, und zwar so:

Habecker Quadranten2

Bild 3: Die vier Quadranten (aus: Eros Kosmos Logos S. 161)

In den Quadranten steht so gut wie nichts drin. Sie sind, wie schon gesagt, weitgehend inhaltsleer. Das macht gerade ihre Stärke und Universalität aus, aber es erfordert auch die nötige Vorsicht, wenn man dort etwas hineinpackt und daraus Schlüsse zieht.

Hier nun das Beispiel: Betrachtet man die "Details" der Abbildung 2 als Entwicklungslinien, was durchaus naheliegt und oft gemacht wird, dann kommt man bei der Betrachtung des oberen linken Quadranten (individuelles Bewusstsein) zu dem Schluss, dass die Kognition mit Beschreibungen wie "Symbol", "Begriffe", "konop", "formop" und "Schaulogik" (Stufen 9-12) eine Weiterentwicklung der "Emotion" (Stufe 8) ist, und über diese hinausreicht. Doch das ist ein tragischer Fehlschluss, wie im weiteren Verlauf gezeigt werden soll, und es ist auch nicht das, was Ken Wilber mit diesen "Details" zeigen will. Worum es ihm geht ist, zu zeigen, dass es zu jedem Eintrag in jedem der Quadranten Entsprechungen in den anderen drei Quadranten gibt. Das wird im Text zu der Grafik von Wilber erläutert, und dazu ist diese Abbildung gut geeignet. Alles andere jedoch sind Überinterpretationen - und damit Fehlinterpretationen.

Ich möchte im Folgenden nun einen Vorschlag zum Verständnis der menschlichen innerpsychischen Entwicklung - oder Bewusstseinsentwicklung - machen, unter Zuhilfenahme und Unterscheidung von fünf Entwicklungslinien als wesentliche „psychische Fähigkeiten“:

Habecker Bewusstheitseintwicklung

Bild 4: Fünf Entwicklungslininen des menschlichen individuellen Bewusstseins

Kognitive Entwicklung (PF1)

Das Erkennen, Benennen, Verstehen, Differenzieren und Integrieren von „Dingen“ und Zusammenhängen (Systemen) bezeichnen wir als „Kognition“, wobei es nicht nur um äußere Dinge geht, sondern auch um innere Dinge, wenn wir unsere Wahrnehmung nach innen wenden.

Die Kognition ist eine wesentliche Funktion, erlaubt sie uns doch, Erkenntnisse zu sammeln über die äußere materielle und die innere geistige Welt und Wirklichkeit, und kann uns so zu Selbsterkenntnis, Erkenntnis der Anderen und auch zu Welterkenntnis führen. Doch die Kognition alleine sagt uns wenig über einen Menschen aus, außer, dass er oder sie schlau ist. Das wohl abschreckendste Beispiel hierfür sind die Nazi-Ärzte, die schlau genug waren um ein Medizinstudium zu absolvieren und gleichzeitig in der Lage waren, unglaublich grausame und menschenverachtende Experimente mit und an Menschen durchzuführen.

Vorstellungsvermögen (PF2)

Der Mensch kann nicht nur erkennen, sondern auch, kraft seines Vorstellungsvermögens, erfinden. Er kann sich buchstäblich alles ausdenken und sich so seine eigene innere virtuelle Welt und Wirklichkeit erschaffen, als eine Welt, die nicht nur aus Bildern und Gedanken, sondern auch aus – daraus erzeugten – Gefühlen und Körperempfindungen besteht. Was für Möglichkeiten eröffnen sich damit! Der Mensch kann Abstand nehmen von der Welt des unmittelbar Sinnlich-Gegebenen, und sich so Vergangenheit und Zukunft erfinden. Er kann sich auch selbst erfinden und tut dies auch, indem er sich ein „Ich“ und Selbstbild konstruiert und sich damit identifiziert. Dieses Selbstbild ist der Ausgangspunkt einer Entfremdetheit von sich selbst (siehe PF3), anderen Menschen und Wesen und der Welt, die es so nur beim Menschen gibt. Weiterhin kann sich der Mensch auch eine andere Welt und Wirklichkeit vorstellen und diese auch anstreben, was zum großen evolutionären Erfolg der Menschheit beigetragen hat, aber gleichzeitig auch zu einer Vielzahl von Problemen führt, die für die Menschheit und andere Wesen mittlerweile existentielle Dimensionen angenommen haben.
Daher ist auch das Vorstellungsvermögen alleine, wenn man so will, wie auch die Kognition, „mit Vorsicht zu geniessen“. Sowohl die Vorstellung einer freieren, gerechteren und nachhaltigeren Welt, wie auch die Vorstellung einer 1000jährigen diktatorischen Weltherrschaft sind Vorstellungen. Doch in der Auswirkung auf den kollektiven Entwicklungsweg der Menschheit unterscheiden sie sich wie Himmel und Hölle.

Abwehrmechanismen (PF3)

Die Abwehrmechanismen des Menschen, deren Vielzahl und Entwicklung mittlerweile gut erforscht sind, haben keinen guten Ruf, doch sie sind unverzichtbar und buchstäblich überlebensnotwendig, und das hat zu tun mit der „Vertreibung aus dem Paradies“ und der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. (Siehe dazu den Beitrag "Entfremdung, Schicksal und Chance des Menschen https://michaelhabecker.de/wp-content/uploads/2021/08/Entfremdung-Artikel.pdf)

Das kleine Kind hat, um zu überleben, gar keine andere Möglichkeit, als sein existentielles In-der-Welt-sein zu verdrängen, sich davon abzuspalten und sich so auch von sich selbst zu entfremden. Die damit verbundenen Gefühle von existentieller Angst, Ohnmacht und Verzweiflung sind für das Kind (und auch für die meisten Erwachsenen) unaushaltbar, und mittels der Abwehrmechanismen, die das Kind entwickelt, hält es sie sich buchstäblich „vom Leibe“ und verdrängt sie aus seiner Psyche. Das Tragische ist, dass der Erwachsene, wenn er sich dieser Dynamik nicht bewußt wird, sein ganzes Leben in diesem Zustand verbringen kann, entfremdet von sich selbst, seinen Mitmenschen und der Welt, und sich dann auch entsprechend zerstörerisch verhält.

Emotionale Entwicklung (PF4)

Technisch korrekt bedeutet diese Entwicklungslinie die Fähigkeit, im Kontakt zu sein mit der Wirklichkeit oder dem Leben, und das geschieht a) über die – auf den physischen Körper beschränkten – Körperempfindungen, b) das Gefühl bzw. Fühlen und über eine weitere Erfahrungskategorie, die c) „tieferen Erfahrungen“. Der Einfachheit halber spreche ich hier von „emotionaler Entwicklung“. (Das Denken und sich etwas vorstellen findet auch im Augenblick statt, doch es verwendet abstrahierende und innerlich abstandnehmende Symbole als Inhalte, mit der Tendenz, sich vom Fühlen zu entfernen).
Dieses Bei-sich-sein können oder Im-Kontakt-mit-sich-sein können ist das Eigentliche oder Wesentliche beim Menschen, und bestimmt seinen ethischen Standort. Wer in der Lage ist, sich von Augenblick zu Augenblick zu fühlen (ohne dass dieses Fühlen durch ein "virtuelles" Gefühlsleben aus Vorstellungen überlagert wird, siehe oben PF2), der oder die hat auch Mit-Gefühl für andere Menschen und Wesen, als einen inneren Kompass im Leben.

Die obige Abbildung 5 zeigt die Linie emotionaler Entwicklung als von Anfang an voll da, was bedeutet, dass das kleine Kind zu 100% im Kontakt ist mit seiner Wirklichkeit. Wegen der als unaushaltbar erlebten existentiellen Gefühle (siehe oben, PF3), die sich sehr schnell einstellen wenn das Kind merkt, dass sich das Leben oft nicht nach seinen Wünschen und Vorstellungen richtet, erlebt es sich existentiell bedroht und muss, um weiterleben zu können, diese Gefühle abwehren. Somit entfremdet es sich notwendigerweise, was im Bild mit der gestrichelten Linie angedeutet ist. Die gute Nachricht ist, diese Entfremdetheit kann überwunden werden, und das führt uns zu einer weiteren Entwicklunglinie der menschlichen Psyche.

Anhalten (PF5)

Die Fähigkeit, innerlich anhalten oder innehalten zu können, unterscheidet den Menschen von allen anderen Wesen auf diesem Planeten, und ist auch das, was m. E. das eigentliche von Meditation ausmacht. Er bedeutet nicht nur, auf Wissen und Vorstellungen verzichten zu können und sich ganz für den unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit, dem Leben und der Lebendigkeit zu öffnen (Körperempfindungen und Fühlen). Es erfordert gleichzeitig auch, alle Impulse, die aus den Gefühlen kommen - einschliesslich aller gedanklich-bildlich-vorgestellten Impulse - gewissermassen nicht zu berühren, das heisst, sie nicht zu verdrängen, aber ihnen auch nicht nachzugehen. Der Grund dafür ist der, dass wir uns, wie oben erläutert, mittels unseres Vorstellungsvermögens eine eigene innere virtuelle Welt erschaffen, die uns notwendigerweise von dem entfernt, was wir gerade erfahren. Dies verschafft uns einen großen evolutionären Vorteil, aber entfremdet uns eben auch. Wenn wir jedoch zu den Tiefen unseres Menschsein vordringen wollen, müssen wir uns in der Fähigkeit des Anhaltens üben. Das ist extrem schwierig, weil der evolutionäre Überlebensimpuls, der allen Lebewesen zutiefst verinnerlicht ist, uns ständig dazu auffordert, aus unseren Emotionen heraus zu reagieren, um zu überleben – äußerlich und innerlich. Diesen Automatismus gilt es anzuhalten und seinen „Versuchungen“ zu wiederstehen.

Das war und ist die große Pionierleistung der Mystiker*innen vergangener und heutiger Zeiten. In diesem Sinne ist die Kompetenz, innerlich anhalten zu können, der Schlüssel für das Überleben der Menschheit. Unser Getriebensein von unserem evolutionären Überlebensimpuls hat uns im doppelten Sinn weit gebracht, so weit, dass wir unsere Lebensgrundlagen und die Lebensgrundlagen anderer Lebewesen immer weiter zerstören. Durch das Anhalten können wir diesen Automatismus beenden, daraus aussteigen und uns im Kontakt mit unserer Lebendigkeit und der Lebendigkeit aller Lebewensen schöpferisch und lebensfördernd zum Ausdruck bringen.

Mit der Fähigkeit anzuhalten, ordnen sich alle unsere psychischen Entwicklungskompetenzen: wir erfahren unser wahres Sein (PF5), können unser Entfremdetsein überwinden (PF4), können unsere Abwehrmechanismen (PF3) reduzieren und lenken – im Kontakt mit dem Leben – unser Vorstellungsvermögen (PF2) und unsere Erkenntnisse (PF1) in konstruktive und lebensfördernde Bahnen. Dies ist etwas, was mit uns geschieht, wenn wir in der Lage sind anzuhalten, uns innerlich auszuhalten und unsere Gefühle auszufühlen.

Nachtrag: Bewusstseinsentwicklung und "Ego-Development"

Mit dem Buch EQ Emotionale Intelligenz von Daniel Goleman und der Idee der multiplen Intelligenzen wurde die Vorherrschaft der alleinigen Betrachtung der Kognition hinsichtlich der menschlichen Bewusstseinsentwicklung beendet. Ken Wilber hat dies in seinem Werk aufgegriffen, mit der Unterscheidung von Bewusstseinsebenen und Bewusstseinslinien und spricht, unter Bezugnahme auf die Forschungen der Entwicklungspsychologie, von ein- bis zwei duzend Hauptentwicklungslinien beim Menschen (siehe dazu Ken Wilbers Buch Integrale Psychologie).

Doch damit ist die Untersuchung nicht abgeschlossen, sondern beginnt gerade erst, mit der eingangs gestellten Frage, welche Entwicklungslinien am besten geeignet sind, menschliches Bewusstsein angemessen zu beschreiben und Methodiken zu finden, welche in der Lage sind, die Entwicklung dieser Linien beim Menschen auch festzustellen bzw. zu messen.

Mein Eindruck ist, dass die wissenschaftliche Forschung hier noch am Anfang steht, was sicher auch damit zu tun hat, dass die Erforschung der inneren Entwicklung wesentlich schwieriger ist, als die Untersuchung von (äußerem) Verhalten. So heisst es beispielsweise in einem Wikipedia-Beitrag zum Thema "Emotionale Intelligenz": "Er (der Terminus Emotionale Intelligenz) beschreibt die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle (korrekt) wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen." Und weiter: "Das Thema 'emotionale Intelligenz' ist somit auch ein Beitrag zur Diskussion der Frage nach dem Erfolg im Leben und Beruf."

Hier wird alleine auf die oben dargestellte PF1 abgestellt, die kognitive Fähigkeit Emotionen zu erkennen, und das wird dann mit einem persönlichen "Erfolg" verbunden. Doch dies alleine sagt, wie ausgeführt, nur sehr wenig über den Menschen selbst aus. Eine Schwierigkeit bei der Messung der PF2, PF3, PF4 und PF5 besteht darin, dass der/die Untersuchende selbst eine entsprechende Kompetenz bei sich entwickelt haben muss, um eine andere Person einschätzen zu können, beispielsweise das Ausmaß ihrer Entfremdetheit.

Konkrete Fragestellungen wären:
• Welchen Gebrauch macht ein Mensch von seinem Vorstellungsvermögen? (PF2)
• Wie stark sind welche Abwehrmechanismen bei einem Menschen wirksam? (PF3)
• Wie weit ist ein Mensch "bei sich", d.h. im Kontakt mit sich selbst? (PF4)
• Wie weit ist ein Mensch in der Lage, innerlich anzuhalten? (PF5)

Es ist – jedenfalls für mich – klar, dass man mit technisch-monologischen Methoden wie einem Satzergänzungstest hier nicht weit kommt. Es braucht das dialogisch-empathische Engagement des oder der Untersuchenden, die oder der selbst weit genug in diesen Kompetenzen entwickelt sein muss, um verlässliche Einschätzungen über andere Menschen abgeben zu können.

 

Zum Autor

michael habeckerMichael Habecker, Jahrgang 1953,
seit vielen Jahren integral unterwegs,
seit 2019 verstärkt auch in den sozialen Medien.

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