Michael Habecker

Einleitung

Ken Wilber widmet sich diesem komplexen und vielschichtigen Thema - beginnend mit dem Buch Eye to Eye/Die drei Augen der Erkenntnis - in nachfolgenden Büchern und Aufsätzen immer wieder. Es lassen sich drei zusammengehörende Leitlinien einer "Methodik eines integralen Ansatzes zum Wissenserwerb" unterscheiden, und zwar:


  • die drei Stränge der Erkenntnis (Injunktion, Wahrnehmung und Bestätigung/Widerlegung), eine grundlegende Vorgehensweise beim Erkenntnis- und Wissenserwerb im weitesten Sinn
  • die 4 Geltungsansprüche, abgeleitet aus den vier Quadranten, und zwar
  • propositionelle Wahrheit (oben rechts)
  • subjektive Wahrhaftigkeit (oben links)
  • kulturelle Bedeutsamkeit (unten links)
  • funktionelles Passen (unten rechts)
  • die verschiedenen Seins/Bewusstseinsebenen, durch die das Erkenntnisstreben seine jeweils eigene, ebenenspezifische Form annimmt

Die nachfolgenden Textpassagen aus Werken von Wilber erörtern die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln. Die integrale Methodik des Wissenserwerbs gibt einen Überblick. In Zu den drei Strängen der Erkenntnis werden eben diese beschrieben. Zu den Seins/Bewusstseinsebenen des Erkenntnisstrebens erläutert an einem dreistufigen Modell, wie das Erkenntnisstreben und die Seins/Bewusstseinsbereiche sich zueinander verhalten. In Über eine post-metaphysische Spiritualität setzt sich Wilber mit der allgemeinen Auffassung auseinander, dass als "wissenschaftlich" nur diejenigen Disziplinen (wie z.B. Chemie und Physik) gelten, die sich mit grobstofflichen "Dingen" beschäftigen. Er argumentiert, dass es keinen Grund dafür gibt, die Geisteswissenschaften und auch - wie er es nennt - die spirituellen Wissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber als unterlegen zu betrachten, nur weil die Erkenntnisobjekte der Letztgenannteren keinen "einfachen Ort" haben, man sie also nicht in Zeit und Raum festmachen und mit dem Finger auf sie zeigen kann. Der Text Zu den 4 Geltungsansprüchen von Erkenntnis und Wahrheit erläutert, wie sich aus dem Wilber'schen 4 Quadrantenmodell 4 unterschiedliche Geltungsansprüche ergeben; und daran anschließend gibt Wilber in Integral methodischer Pluralismus Beispiele, wie das Erkenntnisstreben sich in den 4 Quadranten jeweils darstellt.

Die integrale Methodik des Wissenserwerbs

aus: Das Wahre, Schöne, Gute, Krüger Verlag 1999, S. 518f

Natürlich ist die Methodologie eines integralen Ansatzes komplex, aber sie ergibt sich aus den schon dargestellten einfachen Leitlinien: Drei Stränge und vier Geltungsansprüche mit jeweils zehn Ebenen [die Zahl zehn für die Anzahl der Bewusstseinsebenen ist nicht zwingend, an anderer Stelle verwendet Wilber eine gröbere Einteilung von drei Ebenen - Körper, Geist und GEIST - siehe unten]. Gehen wir dies noch einmal kurz durch.

Die drei für alle gültige Erkenntnis notwendigen Stränge sind Injunktion, Wahrnehmung und Bestätigung (oder Musterbeispiel, Beobachtung und Bestätigung/Widerlegung, oderInstrument, Daten, Widerlegbarkeit).
Diese drei Stränge sind bei der Erzeugung aller gültigen Erkenntnisse wirksam, und zwar auf allen Ebenen und in allen Quadranten. Dies ist jedenfalls meine Auffassung.

Jeder Quadrant besitzt jedoch eine unterschiedliche Architektur und damit eine andere Art von Geltungsanspruch für die drei Stränge: propositionelle Wahrheit (oben rechts), subjektive Wahrhaftigkeit (oben links), kulturelle Bedeutsamkeit (unten links) und funktionelles Passen (unten rechts).

Weiterhin gibt es in jedem dieser Quadranten neun oder zehn Hauptentwicklungsebenen, weshalb das Erkenntnisstreben auf dem Weg durch diese unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Formen annimmt. Die drei Stränge und die vier Geltungsansprüche sind uneingeschränkt wirksam, aber jeweils mit etwas anderen Konturen...

Die drei Stränge, vier Ansprüche und zehn Ebenen liefern also eine recht vollständige Methodologie des Wissenserwerbs, und dies führt direkt zu einer integralen Theorie des Bewußtseins.

Zu den drei Strängen der Erkenntnis

aus: Ken Wilber, Ganzheitlich Handeln, Arbor Verlag 2000, S. 88
 
Desgleichen müssen wir bei der Wissenschaft zwischen einer engen und einer weiten Auffassung unterscheiden. Die enge Naturwissenschaft basiert meistens auf der äußeren, physischen, sensomotorischen Welt. Sie ist das, was wir gewöhnlich als die "harten Naturwissenschaften" bezeichnen, etwa Physik, Chemie und Biologie. Bedeutet das jedoch, daß die Wissenschaft uns überhaupt nichts über die inneren Bereiche sagen kann? Zweifellos gibt es auch eine umfassendere Wissenschaft, die nicht nur Steine und Bäume, sondern auch Menschen und Geist zu verstehen versucht.

Nun, wir kennen tatsächlich diese Formen einer weiten Wissenschaft, einer Wissenschaft, die nicht bloß in der äußeren, physischen, sensomotorischen Welt verwurzelt ist, sondern die sich mit inneren Zuständen und qualitativen Forschungsmethoden befaßt. Wir nennen diese weiten Wissenschaften die "Humanwissenschaften" (die Deutschen nennen sie "Geisteswissenschaften"). Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Linguistik, Semiotik, die Kognitionswissenschaft - alle diese "weiten Wissenschaften" bringen eine "wissenschaftliche" Methodik in die Erforschung des menschlichen Bewußtseins ein. Wir müssen sehr sorgfältig darauf achten, daß diese Ansätze nicht zu einem bloßen Nachäffen der positivistischen Simplizität der engen Naturwissenschaften werden. Ich muß jedoch nicht erst darauf hinweisen, daß der Unterschied zwischen der engen und der weiten Wissenschaft bereits weithin anerkannt ist... Wie wir bereits gesehen haben, können wir Wissenschaft - die enge wie die weite - nicht dadurch definieren, daß wir sagen, ihr gesamtes Wissen basiere auf der sensomotorischen Welt. Denn selbst die enge Naturwissenschaft (zum Beispiel die Physik) benutzt eine erhebliche Anzahl von Werkzeugen, die weder empirisch noch sensomotorisch sind - zum Beispiel die Mathematik oder die Logik. Mathematik und Logik sind innere Wirklichkeiten - niemand hat je die Quadratwurzel von minus Eins da draußen in der empirischen Welt herumlaufen sehen. Nein, "Wissenschaft" ist einfach eine besonders verläßliche Einstellung beim Experimentieren, bei ehrlicher und gemeinschaftlicher Forschung, und sie gründet ihr Wissen, wo immer das möglich ist, auf Beweismittel (seien dies Beweismittel äußerer Art, wie im Falle der engen Wissenschaft, oder der innerer Art, wie bei den weiten Wissenschaften). Die folgenden drei Faktoren definieren im allgemeinen wissenschaftliche Forschung, sei sie eng oder weit:

  1. eine praktische Injunktion oder ein Musterbeispiel.
    Will man wissen, ob es regnet oder nicht, dann muß man zum Fenster gehen und hinausschauen. Damit soll gesagt sein, daß "Fakten" nicht einfach herumliegen und darauf warten, daß Hinz und Kunz sie sehen. Will man dieses wissen, dann muß man jenes tun. Ein Experiment, eine Injunktion (Handlungsanweisung oder Vorschrift), eine pragmatische Reihe von Tätigkeiten, eine soziale Praxis: diese Dinge liegen hinter den meisten Formen guter Naturwissenschaft. Das ist der eigentliche Sinn, in dem Kuhn den Begriff "Paradigma" verwendet. Er meint damit keine Supertheorie, sondern ein Vorbild oder eine tatsächliche Praxis.

  2. eine Wahrnehmung, Erleuchtung oder Erfahrung.
    Wenn man das Experiment ausführt oder der Vorschrift folgt - sobald man also die Welt pragmatisch einbezieht -, wird man mit einer Reihe von Erfahrungen oder Wahrnehmungen konfrontiert, die von der Injunktion zum Vorschein gebracht werden. Der technische Begriff für diese Erfahrungen ist "Daten". William James hat darauf hingewiesen, daß die wirkliche Bedeutung von datum "unmittelbare Erfahrung" ist. Man kann also physische Erfahrungen (oder physische Daten) haben, mentale Erfahrungen (oder mentale Daten) und spirituelle Erfahrungen (oder spirituelle Daten). Alle gute Wissenschaft, sei sie eng oder weit - ist bis zu einem gewissen Grad in Daten oder erfahrenen Beweisen verankert.

  3. Gemeinschaftliche Überprüfung (entweder Widerlegung oder Bestätigung).
    Wenn wir das Paradigma (oder die soziale Praxis) zur Anwendung bringen und damit eine Reihe von Erfahrungen und Beweismitteln (oder Daten) hervorbringen, ist es hilfreich, wenn wir diese Erfahrungen mit den Erfahrungen anderer vergleichen können, die dieselbe Injunktion befolgt und das sich daraus ergebende Datenmaterial gesehen haben. Eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten (Gefährtengruppe) - oder von solchen, die die beiden ersten Faktoren (Injunktion und Daten) angemessen nachvollzogen haben - gibt wohl die beste Möglichkeit zur Überprüfung, und jede gute Wissenschaft tendiert dazu, sich zwecks Bestätigung oder Widerlegung an eine Gemeinschaft sachkundiger Gleichgesinnter zu wenden. Hier ist das Prinzip der Falsifikation sehr nützlich. Auch wenn das Falsifikationskriterium nicht auf eigenen Füßen stehen kann, so ist es, wie Sir Karl Popper meinte, oft ein wichtiger Bestandteil guter Naturwissenschaft. Die Idee ist einfach die, daß schlechte Daten von einer Gemeinschaft Sachkundiger verworfen werden können. Ist es nämlich nicht erlaubt, ihr Glaubenssystem überhaupt in Frage zu stellen, dann gibt es keine Möglichkeit, es aus den Angeln zu heben, selbst wenn es offenkundig falsch ist - und dann sind Ihre Ansichten, was immer sie sonst noch sein mögen, nicht sehr wissenschaftlich. Stattdessen sind sie etwas, das man ein "Dogma" nennt, eine nur durch ein autoritäres Machtwort gestützte Wahrheitsbehauptung. Natürlich gibt es viele Wirklichkeiten, die dem Falsifikationstest nicht offenstehen. Zum Beispiel können Sie, wie Descartes schon wußte, nicht ihr eigenes Bewußtsein negieren oder auch nur Zweifel an seiner Existenz haben. Doch besagt dieses dritte Kriterium einfach, daß gute Naturwissenschaft ständig versucht, ihre Wissensbehauptungen zu bestätigen (oder zu widerlegen), und das Falsifikationskriterium wird oft als ein Teil dieses dritten Elements guter Naturwissenschaft genutzt...
Diese oben genannten drei Kriterien sind allgemeine Kennzeichen guter Wissenschaft, der engen wie der weiten. Genauer gesagt sind sie Kennzeichen der Art und Weise, wie gute Wissenschaft in jedem Bereich (physisch, mental, spirituell) versucht, Daten zu sammeln und deren Gültigkeit zu überprüfen. Die meisten Formen von Wissenschaft stellen auch Hypothesen auf, die diese Daten erklären sollen, und diese Hypothesen werden dann durch eine weitere Anwendung der drei Faktoren guter Naturwissenschaft überprüft (weitere Experimente, mehr Daten, prüfen, ob sie die Hypothese widerlegen oder bestätigen). Kurz gesagt, die enge Naturwissenschaft (deren Daten zumeist aus den äußeren Bereichen oder rechtsseitigen Quadranten stammen) und die weitere Wissenschaft (deren Daten zumeist aus den inneren Bereichen der linksseitigen Quadranten stammen) bemühen sich beide, gute Wissenschaft zu sein (oder Wissenschaft, die sich an die drei Stränge des Sammelns und Verifizierens gültiger Erkenntnis hält).

Zu den Seins/Bewusstseinsebenen des Erkenntnisstrebens

aus: Ken Wilber, Collected Works Volume 3, shambhala 1999, p. 142

Die Prämisse von Die drei Augen der Erkenntnis [der Text ist dem Vorwort des Band 3 der Collected Works entnommen, und bezieht sich auf das Buch Eye to Eye/Die drei Augen der Erkenntnis, welches im Band 3 enthalten ist] ist die, dass jeder dieser drei Erkenntnismodi seine eigenen spezifischen und gültigen Referenten hat: sensibilia, intelligibilia, und transzendelia. Und daher können alle drei Erkenntnismodi mit einer vergleichbaren Verlässlichkeit validiert werden. Deswegen wird jeder Versuch, den Kosmos umfassend und würdevoll zu verstehen all diese drei Typen von Wissen definitv einschliessen; und alles was weniger umfassend ist, ist nach der eigenen Leistungsfähigkeit zutiefst suspekt.

Wenn wir es uns erlauben, den Kosmos als ein insgesamt gewaltiges und wundervolles Etwas zu sehen, und wenn wir es in betracht ziehen dass mindestens drei Arten des Wissens notwendig sind um einen sinnvollen Eindruck von dem Wunder der Existenz zu bekommen, dann kann es gut passieren, dass einige unserer hartnäckigsten philosophischen Probleme am ende vielleicht gar nicht so hartnäckig sind. Und das schließt - jawohl - den ärgerlichsten aller Dualismen mit ein, das Absolute und das Relative - und seine ein duzend oder mehr Ableger, vom Geist/Körper Problem über Schicksal und freier Wille bis zu Bewusstsein und Gehirn.

Um die Jupitermode zu sehen braucht man ein Teleskop. Um Hamlet zu verstehen muss man lesen lernen. Um die Richtigkeit des Satzes von Pythagoras überprüfen zu können muss man Geometrie lernen. Mit anderen Worten, gültige Formen des Wissens haben, als eine ihrer signifikanten Komponenten, eine Injuktion - wenn du dies wissen willst, musst du jenes tun. (Dies ist ein Beispiel dafür, was die wirkliche Bedeutung von Kuhn's "Paradigma" oder "exemplarischem Vorgehen" ist - eine Art von Praxis oder Injuktion, die einen bestimmten Bereich hervorbringt.)

... Der injunktive Strang allen gültigen Wissens führt zu einer Wahrnehmung bzw. einer Illumination, einer direkten Enthüllung der Daten oder Referenten in dem Weltbereich der durch die Injunktion hervorgebracht wurde, und diese Illumination wird dann überprüft (bestätigt oder zurückgewiesen) durch all diejenigen, die diese Injunktion auf angemessene Weise durchgeführt haben und denen die Daten enthüllt wurden.

Kurz gesagt haben alle gültigen Formen des Wissens und der Erkenntnis eine Injunktion, eine Illumination, und eine Bestätigung; und dies gilt unabhängig davon ob wir die Jupitermonde betrachten, den Satz des Pythagoras, oder ... das Wesen des Absoluten.

Und während die Jupitermonde durch das Auge des Fleisches enthüllt werden (durch die Sinne oder ihre Verlängerungen - sensibilia), und der Satz des Pythagoras durch das Auge des Geistes und seine innere Wahrnehmung enthüllt wird (intelligibilia) , kann das Wesen des Absoluten nur durch das Auge der Kontemplation enthüllt werden, und seine unmittelbar enthüllten Referenten - transzendelia, seine spirituellen Daten, die hervorgebrachten Fakten des spirituellen Welt-Raumes.

Um jedoch Zugang zu jedem dieser gültigen Modi des Wissens zu erhalten, muss ich der Injunktion entsprechen - ich muss den injunktiven Strang erfolgreich bewältigen. Dies gilt für die physischen Wissenschaften, die mentalen Wissenschaften, und die spirituellen Wissenschaften. Wenn wir dies wissen wollen, müssen wir jenes tun. Und wenn die exemplarische Praxis in den physischen Wissenschaften vielleicht durch ein Teleskop geschieht, und in den Humanwissenschaften vielleicht durch eine linguistische Interpretation, so ist in den spirituellen Wissenschaften die exemplarische Praxis, die Injunktion, das Paradigma: Meditation oder Kontemplation. Auch sie haben ihre Injunktionen, ihre Illuninationen, und ihre Bestätigungen, und all das ist grundsätzlich wiederholbar und verifizierbar bzw. falsifizierbar - und daher bildet dies eine absolut gültige Art und Weise des Wissenserwerbs.

Doch in jedem Fall müssen wir die Injunktion anwenden. Wir müssen die Praxis ausüben, und dies gilt ganz sicher auch für die spirituellen Wissenschaften. Wenn wir die injunktive Praxis nicht aufnehmen, dann erhalten wir kein echten Paradigma, und werden auch niemals die Daten des spirituellen Welt-Raumes sehen. Wir unterschieden uns so in keiner Weise von den Kirchenleuten, die sich weigerten Galileo's Injunktion durchzuführen, und durch sein Teleskop zu schauen.

Einklang mit dem Kósmos

(aus: Eine kurze Geschichte des Kosmos)

Hinweis: Das Buch ist im Frage-Antwort Stil geschrieben

F: "Wir müssen sehr gut zuhören." Sie meinen damit, auf alle vier Typen von Wahrheit hören.
KW: Wahrheit im weitesten Sinne bedeutet, auf das Wirkliche eingestimmt zu sein, authentisch Fühlung mit dem Wahren, dem Guten und dem Schönen zu haben. Ja?
Das bedeutet andererseits natürlich auch, daß man den Kontakt mit dem Wirklichen verloren haben kann. Unsere Urteile können abwegig, auf falschen Voraussetzungen beruhend, irrig und falsch sein. Man kann den Kontakt mit dem Wahren, mit dem Guten, mit dem Schönen verloren haben.
So haben wir Menschen als Kollektiv im Laufe unserer Evolution durch schmerzliches Ausprobieren die verschiedenen Möglichkeiten entdeckt, wie wir unseren Einklang mit dem Kósmos prüfen können, verschiedene Möglichkeiten, um festzustellen, ob wir Kontakt mit der Wahrheit haben oder dem Irrtum verfallen sind, ob wir das Gute respektieren oder es unterdrücken, ob uns das Schöne bewegt oder ob wir dessen Niedergang betreiben.
Mit anderen Worten, die Menschheit hat in einem schmerzlichen Prozeß gelernt, eine Reihe von Geltungsansprüchen zu modellieren, Tests, mit deren Hilfe wir feststellen können, ob wir in Kontakt mit dem Wirklichen sind, ob wir im Einklang mit dem Kósmos in all seiner reichen Vielfältigkeit sind.

F: Und diese Geltungsansprüche. ..

KW: Die Geltungsansprüche sind die Art, wie wir Kontakt mit dem GEIST selbst aufnehmen, wie wir uns auf den Kósmos einstimmen. Die Geltungsansprüche zwingen uns, uns mit der Wirklichkeit auseinander zusetzen; sie weisen unsere ichhaften Phantasien und unsere Selbstzentriertheit in die Schranken; sie fordern Beweise aus dem übrigen Kósmos, undsie zwingen uns aus uns heraus. Sie sind die Prüfsteine und Regulative in der kosmischen Verfassung.

F: Könnten Sie vielleicht die vier Quadranten durchgehen, um eine ganz knappe Zusammenfassung zu geben? Der vier Wahrheiten, worin sie bestehen und der Tests auf ihre Gültigkeit?

KW: Die vier Wahrheiten sind in der Abbildung dargestellt...


Propositionale Wahrheit

KW: Die meisten Menschen verstehen unter Wahrheit repräsentationale Wahrheit, ein einfaches Kartographieren oder eine einfache Entsprechung. Ich mache eine Aussage oder Proposition, die etwas in der konkreten Welt bezeichnet oder repräsentiert. Ich könnte zum Beispiel sagen: "Draußen regnet es." Jetzt wollen wir wissen, ob dies stimmt. Wir wollen die Gültigkeit oder den "Wahrheitsstatus" dieser Aussage prüfen. Wir gehen also zum Fenster und blicken hinaus. Wenn es dann in der Tat regnet, sagen wir, daß die Aussage "draußen regnet es" eine wahre Aussage ist... Dies ist ein einfaches Kartographierungsverfahren. Man prüft nach, ob die Proposition den Tatsachen entspricht, ob die Landkarte das wirkliche Gebiet genau wiedergibt. (Meist ist es etwas komplizierter. Man kann versuchen, die Karte zu widerlegen, und wenn dies nicht möglich ist, nehmen wir an, daß sie ausreichend genau ist.) Worauf es jedenfalls ankommt, ist, daß bei einer repräsentationalen oder propositionalen Wahrheit meine Aussage in irgendeinem Zusammenhang mit einem objektiven Sachverhalt steht und diesen Objekten, Prozessen oder Sachverhalten hinreichend genau entspricht.

F: Damit hätte aber die propositionale Wahrheit im Grunde nur mit den äußeren, objektiven, rechtsseitigen Dimensionen zu tun?

KW: Ja, genau. Der obere rechte und der untere rechte Quadrant enthalten die beobachtbaren, empirischen, äußeren Aspekte von Holons. Sie haben alle einen einfachen Ort. Diese Aspekte sind leicht zu sehen. Bei einer propositionalen Wahrheit verknüpfen wir also unsere Aussagen mit diesen Objekten, Prozessen oder Angelegenheiten (dies nennt man auch die Adäquationstheorie der Wahrheit).
Dies ist alles in Ordnung und hat auch seinen Sinn, und ich möchte in keiner Weise die allgemeine Bedeutsamkeit einer empirischen Darstellung bestreiten. Es ist nur nicht die ganze Geschichte - es ist nicht einmal der interessanteste Teil der Geschichte.

Wahrhaftigkeit

F: Ein objektiver Sachverhalt - das Gehirn, Planeten, Organismen, Ökosysteme - läßt sich also mittels einer empirischen Kartographierung abbilden. Diese empirischen Landkarten sind immer Variationen von "es regnet". Objektive Propositionen.

KW: Ja. Aber wenn wir nun den oberen linken Quadranten betrachten, das eigentliche Innere eines individuellen Holons, dann haben wir es mit einer ganz anderen Art von Geltungsansprüchen zu tun. Die Frage lautet hier nicht: Regnet es draußen? Die Frage lautet vielmehr: Wenn ich Ihnen sage, daß es draußen regnet, sage ich dann die Wahrheit oder lüge ich?
Es geht hier also weniger darum, ob die Karte eine Entsprechung des objektiven Gebiets darstellt, als darum, ob man dem Kartographen vertrauen kann.
Es geht also nicht einfach um objektive Wahrheiten, sondern speziell um innere Wahrheiten. Man kann ja immer nachsehen, ob es wirklich regnet. Das kann man selbst tun. Aber um etwas über mein Inneres zu erfahren, meine Tiefe, müssen sie immer mich fragen, mit mir sprechen, wie wir gesehen haben. Und wenn ich etwas über meinen inneren Zustand aussage, kann ich die Wahrheit sagen, aber ich könnte auch lügen. Sie haben keine andere Möglichkeit, an mein Inneres zu gelangen, als Gespräch, Dialog und Interpretation, und ich könnte hier immer etwas verfälschen, verheimlichenoder Sie in die Irre führen - kurz gesagt, ich könnte lügen. Wenn wir uns also auf der rechten Seite bewegen, verwenden wir vorzugsweise die Meßlatte der propositionalen Wahrheit - oder abgekürzt einfach Wahrheit -, während wir im oberen linken Bereich die Meßlatte der Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit anlegen. Dies ist weniger eine Sache der objektiven Wahrheit als der subjektiven Wahrhaftigkeit. Dies - Wahrheit und Wahrhaftigkeit - sind also zwei völlig verschiedene Kriterien.

F: Und damit auch zwei verschiedene Geltungsansprüche.

KW: Ja. Und dies ist durchaus keine triviale Unterscheidung. Innere Ereignisse haben ihren Ort in Bewußtseinszuständen, nicht in objektiven Sachverhalten, weshalb man sie auch nicht empirisch an einfachen Orten festmachen kann. Wie wir gesehen haben, sind sie nur über Kommunikation und Interpretation zugänglich, nicht aber dem monologischen Blick.
Bei dieser Kommunikation könnte ich Sie nun absichtlich belügen. Ich könnte aus verschiedenen Gründen versuchen, mein Inneres falsch darzustellen, ich könnte versuchen, es anders erscheinen zu lassen, als es in Wirklichkeit ist. Ich könnte die ganzen linksseitigen Dimensionen an die Wand der Täuschung klatschen. Ich könnte Sie belügen.
Darüber hinaus, und dies ist ein entscheidender Punkt, könnte ich auch mich selbst belügen. Ich könnte versuchen, Aspekte meiner eigenen Tiefe vor mir selbst zu verbergen. Ich könnte dies absichtlich oder aber "unbewusst" tun. Ich könnte, wie auch immer, meine eigene Tiefe falsch interpretieren, ich könnte bezüglich meines eigenen Inneren lügen.
Zum Teil ist das "Unbewusste" der Ereignisort aller Arten, wie ich mich jemals belogen habe und belüge. Vielleicht war ein schweres Umwelttrauma der Grund dafür, warum ich begonnen habe, mich selbst zu belügen. Vielleicht haben meine Eltern es mir vorgemacht.
Oder vielleicht war es ein notwendiger Abwehrmechanismus gegen eine noch schmerzlichere Wahrheit. Jedenfalls ist mein Unbewußtes der Ort meiner Unaufrichtigkeit, meiner mangelnden Ehrlichkeit mir selbst gegenüber, meiner subjektiven Tiefe, meinem inneren Status, meinen tiefsten Wünschen und Absichten gegenüber. Das Unbewußte ist der Ort der Lüge... Wenn ich mich so belüge und dann vergesse, daß es eine Lüge ist, belüge ich Sie, ohne daß mir dies überhaupt bewußt wäre. Ich erwecke vielleicht sogar den Eindruck, daß ich hier ganz aufrichtig bin. Wenn meine Lüge mir selbst gegenüber wirklich erfolgreich war, werde ich aufrichtig glauben, die Wahrheit zu sagen. Und wenn Sie mich an einen Lügendetektor anschließen, wird der Test ergeben, dass ich die "Wahrheit" sage. Soviel zu empirischen Tests... Es kommt hier nicht darauf an, eine irgendwie genauere Landkarte der objektiven Welt anzufertigen, sondern darauf, seine eigenen Widerstände abzubauen und in die inneren Tiefen vorzudringen, um zu lernen, diese Tiefen gegenüber anderen und vor allen Dingen gegenüber sich selbst wahrheitsgetreuer wiederzugeben. Wenn dies gelingt, kann eine bessere Entsprechung zwischen Ihrer Tiefe und Ihrem Verhalten entstehen. Ihre Worte und Ihre Handlungen kommen in Einklang miteinander. Dies bedeutet, daß Ihre linke Seite mit lhrer rechten Seite übereinstimmt. Sie tun, was Sie sagen. Und Ihre Rechte wird wissen, was Ihre Linke tut. Dies bezeichnet man im allgemeinen als Integrität. Man hat das Gefühl, daß man von dem Betreffenden nicht belogen wird, weil er sich selbst nicht belügt...
Wahrhaftigkeit hat also keinen einfachen Ort, und sie ist kein bloß empirischer Sachverhalt, und deshalb erscheint sie auch auf keiner der empirischen Landkarten. Nicht auf der Karte des Physikers, nicht auf derjenigen des Biologen, nicht auf derjenigen des Neurologen, der Systemtheorie oder eines Ökosystems. Sie ist eine Sache der linken Seite, nicht der rechten!
Und doch liegt auf der linken Seite unsere ganze Lebenswelt, unser eigentliches Gewahrsein, unsere Tiefe. Und wenn man überhaupt noch ein Gespür für Tiefe hat, dann kann man diese Tiefe in sich selbst und anderen durch Wahrheit, Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit erkennen.
Der entscheidende Punkt ist, daß der Zugang zur Tiefe durch Täuschung blockiert wird. In dem Augenblick, in dem man ein Inneres anerkennt, muß man sich mit dem Haupthindernis des Zugangs zu diesem Inneren auseinandersetzen, mit Täuschung und Betrug. Und eben deshalb bewegen wir uns in diesem Bereich mit dem Kompaß der Wahrhaftigkeit. Und damit arbeiten ja auch alle linksseitigen Therapien. Es geht um wahrheitsgemäßere Interpretationen der eigenen inneren Tiefe...
Die erstaunliche Tatsache ist ja, daß die Wahrheit allein uns nicht befreit. Die Wahrhaftigkeit befreit uns.

Gerechtigkeit

F: Was beinhaltet nun der untere linke Quadrant?

KW: Der entscheidende Punkt ist, daß sich die subjektive Welt in einem intersubjektiven Raum befindet, einem kulturellen Raum, und dieser intersubjektive Raum ermöglicht überhaupt erst das Entstehen des subjektiven Raums. Ohne diesen kulturellen Hintergrund hätten meine eigenen individuellen Gedanken überhaupt keine Bedeutung. Ich hätte nicht einmal die Mittel zur Hand, um meine eigenen Gedanken mir selbst gegenüber zu deuten. Ja, ich hätte noch nicht einmal Gedanken entwickelt - ich wäre ein Wolfsjunge.
Anders ausgedrückt, der subjektive Raum kann vom intersubjektiven Raum nicht getrennt werden, und dies ist eine der großen Entdeckungen der postmodernen oder nachaufklärerischen Bewegungen.
Hier, im linken unteren Quadranten, ist der Geltungsanspruch weniger eine objektive propositionale Wahrheit und weniger eine subjektive Wahrhaftigkeit, sondern ein intersubjektives Passen. Dieser kulturelle Hintergrund liefert den gemeinsamen Kontext, in dem meine eigenen Gedanken und Interpretationen überhaupt Bedeutung haben können. Deshalb gehört zum Gültigkeitskriterium hier das "kulturelle Passen" zu diesemHintergrund.

F: Was ist also nun genau das Ziel dieses Geltungsanspruchs? Wir haben objektive Wahrheit, wir haben subjektive Wahrhaftigkeit, und wir haben intersubjektive. ..was?

KW: Das Ziel ist hier gegenseitiges Verständnis. Wir müssen ja nicht unbedingt einer Meinung sein, aber könnten wir einander nicht wenigstens verstehen? Wenn dies nicht möglich ist, dann werden wir niemals in einer gemeinsamen Kultur ko-existieren können. Können Sie und ich unsere subjektiven Räume so anordnen, daß wir uns ins Auge blicken können? Können wir einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund finden, der Kommunikation überhaupt erst ermöglicht? Können wir ein kulturelles Passen, eine gemeinsame Bedeutung zwischen uns finden? Dies muß in irgendeinem Umfang geschehen, bevor überhaupt eine Kommunikation möglich ist.

F: Das Ziel ist hier also weniger die Kartographierung objektiver Wahrheit und nicht einfach die Wahrhaftigkeit, sondern das Herbeiführen eines gegenseitigen Verständnisses?

KW: Ja. Dies hat sehr viele Aspekte. Wir beide müssen uns auf irgendeine Moral und Ethik verständigen, wenn wir im selben Raum leben wollen. Und wir müssen irgendein gemeinsames Recht finden. Wir müssen eine Art Identität suchen, in der sich unsere individuellen Selbste überschneiden und die uns eine Gemeinsamkeit aufzeigt, eine Art kollektiver Identität, so daß wir etwas von uns selbst ineinander wahrnehmen und wir mit Fürsorge und Zuwendung miteinander umgehen können. All dies gehört zu diesem kulturellen Passen, diesem Hintergrund von gemeinsamer Bedeutung, Angemessenheit und Gerechtigkeit oder Rechtmäßigkeit. Ich stelle diesen Hintergrund hier als eine Art Vertrag dar, den Sie und ich bewußt gestalten, eine Art Gesellschaftsvertrag, und manchmal ist er dies auch. Manchmal erreichen wir einfach eine Übereinkunftzum Beispiel über das Wahlalter oder die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn. Dies ist Teil des kulturellen Passens, unserer Art, uns über Regeln und gemeinsame Bedeutungen zu verständigen, wodurch wir erst zusammenpassen können. Ein großer Teil des kulturellen Passens ist aber kein bewußter Vertrag, sondern ein Hintergrund auf einer so tiefen Ebene, daß wir kaum etwas von seiner Existenz wissen. Es gibt linguistische Strukturen und kulturelle Praktiken, die so tief im Kontextuellen verwoben sind, daß wir immer noch damit beschäftigt sind, sie zu heben und zu verstehen (eines der Hauptthemen von Heidegger). Worauf es jedenfalls ankommt, ist, daß es nicht möglich ist, sich diesen intersubjektiven Netzen zu entziehen, durch die sich der subjektive Raum überhaupt erst entwickeln kann.

Was am gegenseitigen Verstehen so bemerkenswert ist, ist nicht, dass ich ein einfaches Wort wie "Hund" nehmen und auf einen wirklichen Hund zeigen und sagen kann: "Das meine ich." Das Bemerkenswerte ist vielmehr, daß Sie wissen, was ich damit meine! Vergessen Sie das simple empirische Zeigen! Sehen Sie sich vielmehr dieses intersubjektive Verständnis an. Ist es nicht in höchstem Maße erstaunlich? Es bedeutet, daß Sie und ich in gewissem Umfang ein anderes Inneres bewohnen können. Sie und ich können unsere jeweilige Tiefe miteinander teilen. Wenn wir auf die Wahrheit zeigen und uns in der Wahrhaftigkeit befinden, können wir zu einem gegenseitigen Verständnis gelangen. Dies ist ein Wunder. Wenn es einen GEIST gibt, dann kann man ihn hier aufspüren.

F: Dies ist also kulturelles Passen oder Richtigkeit.

KW: Ja, gemeinsame Richtigkeit, Güte, Gerechtigkeit. Wie erreichen wir das gemeinsame Gute? Was ist für uns richtig und angemessen, so daß wir alle in Würde und Rechtschaffenheit denselben kulturellen Raum bewohnen können? Wie ordnen wir unsere subjektiven Räume so an, daß sie sich in dem gemeinsamen intersubjektiven Raum, dem gemeinsamen Welt-Raum, der gemeinsamen Kultur überschneiden, die doch erst unser eigenes subjektives Sein ermöglicht? Dies ist keine Frage der Anordnung von Objekten im Raum einfacher Orte! Es ist eine Frage der Anordnung von Subjekten im kollektiven inneren Raum der Kultur. Dies ist nicht einfach Wahrhaftigkeit und nicht einfach das Wahre, sondern das Gute.

F: Damit umfasst also, wie Sie sagen, kulturelles Passen oder kulturelle Angemessenheit die unterschiedlichsten Dinge - Ethik, Moral und Recht, Gruppen - oder kollektive Identitäten, Zusammenhänge des kulturellen Hintergrunds und so weiter.

KW: Ja, und dies haben wir als eine gemeinsame Weltsicht oder einen gemeinsamen Welt-Raum zusammengefaßt, den wir auch einen kulturellen Welt-Raum genannt haben, und dies ist der untere linke Quadrant. Beachten Sie dabei, daß dieser kulturelle Raum für alle Holons existiert, auch wenn er einfacher und weniger komplex sein kann. Damit ist Intersubjektivität auf allen Ebenen in den Stoff des Kósmos eingewoben. Dies ist nicht einfach der GEIST in "mir", nicht einfach der GEIST in "ihm", nicht einfach der GEIST in "ihnen", sondern der GEIST in "uns", in uns allen..

Funktionelles Passen

F: Was ist nun der Unterschied zwischen oben rechts und unten rechts? Sie haben gesagt, daß der Geltungsanspruch unterschiedlich ist.


KW: Der obere rechte Quadrant ist das Äußere nur von Individuen, der untere rechte Quadrant das Äußere von Systemen. Der obere rechte Quadrant ist daher propositionale Wahrheit im strengsten Sinne: Eine Proposition betrifft eine einzelne Tatsache. Im unteren rechten Quadranten dagegen bezieht sich die Proposition auf das Gesellschaftssystem, dessen hauptsächlicher Geltungsanspruch funktionelles Passen ist - wie verschiedene Holons im objektiven Gesamtsystem zusammenpassen.

F: Aber bezieht sich der untere linke Quadrant nicht auch auf Systeme? Sie haben gesagt, daß es beim kulturellen Passen darum geht, wie ein einzelner zum kulturellen Gesamthintergrund paßt. Ist dies nicht auch Systemtheorie?

KW: Nein, und hierin liegt ja überhaupt der ganze Grund für den postmodernen Aufstand gegen die Moderne der Aufklärung. In einem gewissen Sinne wirft die ganze postkartesische Revolte ein Schlaglicht darauf, warum die Systemtheorie bloß ein weiterer kartesischer Dualismus in seinen schlimmsten Aspekten ist. Wenn man verstanden hat, warum dies so ist, hat man den Kern des postmodernen Fortschritts verstanden.

F: Sehen wir uns dies doch an, denn dies steht sicherlich im Widerspruch zu demjenigen, was die Systemtheoretiker selbst sagen. Diese behaupten, daß sie das grundlegende Paradigma der Aufklärung überwunden hätten.

KW: Das haben sie eben nicht. Das grundlegende Paradigma der Aufklärung war, wie wir gesehen haben, das Repräsentationsparadigma - das Kartographierungsparadigma, das monologische Paradigma - und die Systemtheoretiker hauen genau in dieselbe Kerbe. Sie überwinden es nicht - sie klonen es.
Es ist richtig, daß sowohl der untere rechte als auch der untere linke Quadrant mit "Systemen" im allgemeinen Sinne zu tun haben, weil die ganze untere Hälfte das Gemeinschaftliche oder Kollektive ist. Der untere linke Quadrant beschreibt aber dieses System von innen heraus. Er beschreibt das Bewußtsein, die Werte, die Weltsichten, die Ethik, die kollektiven Identitäten. Der untere rechte Quadrant dagegen beschreibt das System anhand rein objektiver und äußerlicher Kriterien von außen her. Er interessiert sich nicht dafür, wie zwischen Subjekten in gegenseitigem Verständnis ein gemeinsames Wertsystem zustande kommt. Er möchte vielmehr wissen, wie deren objektive Korrelate funktionell in das gesellschaftliche Gesamtsystem passen, das seinerseits einen einfachen Ort hat.
In der Systemtheorie findet man daher nichts über ethische Normen, intersubjektive Werte, moralische Dispositionen, gegenseitiges Verständnis, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Tiefe, Integrität, Ästhetik, Interpretation, Hermeneutik, Schönheit, Kunst, das Sublime. Schlagen Sie irgendeinen systemtheoretischen Text auf, und Sie werden nichts von dem oben Erwähnten finden. Sie werden nur die objektiven und äußeren Korrelate davon finden. Alles, was Sie in der Systemtheorie antreffen werden, sind Informationsbits, die durch Verarbeitungskanäle huschen, kybernetische Rückkopplungsschleifen und Prozesse innerhalb von Prozessen dynamischer Netzwerke monologischer Repräsentationen, Verschachtelungen in Verschachtelungen von endlosen Prozessen - und dies alles hat einen einfachen Ort nicht in einem Individuum, sondern im Gesellschaftssystem und dem Netz objektiver Prozesse...

Die vier Antlitze des GEISTES

F: Wir haben also jetzt vier verschiedene Quadranten mit einem jeweils unterschiedlichen Typ von Wahrheit, einer anderen "Stimme". Und für jeden gibt es einen anderen Prüfstein des Wahrheitsgehalts - einen anderen Geltungsanspruch gemäß [obiger] Abbildung.

KW: Ja. Alle diese Ansätze sind gültige Erkenntnisformen, weil sie ihre Grundlage in den Wirklichkeiten der vier Facetten eines jeden Holons haben. Deshalb können alle diese vier Wahrheitsbehauptungen gerechtfertigt, von einer Gemeinschaft Kompetenter bestätigt oder verworfen werden. Sie beinhalten einen jeweils unterschiedlichen Geltungsanspruch, der uns auf unserer Erkenntnissuche sicher durch das Labyrinth geleitet. Sie sind auf ihrem eigenen Gebiet falsifizierbar, das heißt, falsche Behauptungen können durch weitere Befunde aus diesem Bereich widerlegt werden (wir können damit den Anspruch eines jeden Quadranten, daß er allein das einzige Falsifikationskriterium besäße und damit auch die einzige wissenswerte Wahrheit, leichten Herzens ignorieren). Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hat die Menschheit durch sehr schmerzhafte Versuche und Irrtümer die grundlegenden Verfahren für diese Wahrheitstests gelernt... Diese Wahrheiten sind der goldene Schatz einer kollektiven Menschheit, der durch Blut, Schweiß und Tränen und Aufruhr im Angesicht von Falschheit, Irrtum, Täuschung und Betrug schwer errungen wurde. Die Menschheit hat langsam und immer besser im Laufe einer Millionen Jahre alten Geschichte gelernt, Wahrheit von Schein, Güte von Verderbtheit, Schönheit von Verfall und Aufrichtigkeit von Täuschung zu unterscheiden. Letztlich sind diese vier Wahrheiten einfach die vier Antlitze des GEISTES, der in der manifesten Welt aufleuchtet. Die Geltungsbehauptungen sind Arten, wie wir uns mit dem GEIST selbst verbinden, wie wir uns auf den Kósmos einstimmen.. Wie wir zu Beginn dieser Diskussion gesagt haben, zwingen uns die Geltungsbehauptungen, uns mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen; sie zügeln unsere ich-haften Phantasien und unsere Selbstzentriertheit. Sie fordern Beweise vom übrigen Kósmos, und sie zwingen uns über uns selbst hinaus. Sie sind die Prüfsteine in der kosmischen Verfassung. Auf diesen Wegen zur Wahrheit fügen wir uns in den Strom des Kósmos ein, werden wir Strömungen übergeben, die uns über uns selbst, aus uns hinausführen und uns zwingen, unsere Selbstsucht zu zügeln, während wir uns in immer tiefere und weitere Kreise der Wahrheit einpassen. Von der Einstimmung über die Entsühnung zur Einswerdung - bis wir in einem jähen und aufrüttelnden Schock unser ursprüngliches Antlitz erkennen, das Antlitz, das uns in allen Wahrheitsbehauptungen entgegenlächelt, das Antlitz, das uns sanft und doch so beharrlich ständig zuflüstert: Gedenke des Wahren, gedenke des Guten, gedenke des Schönen. Und so spricht die leise Stimme aus allen Ecken des Kósmos: Mögen Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Güte und Schönheit als die Siegel einer strahlenden Leerheit leuchten, die uns niemals im Stich lassen wird noch könnte.

Das Gute, das Wahre und das Schöne (Die grossen Drei)

F: ...Sie hatten versprochen, die vier Quadranten, ihre Wahrheiten und Geltungsansprüche in einer ganz einfachen Weise zusammenzufassen.

KW: Die grundlegende Unterscheidung ist folgende: Alles auf der rechten Seite kann man in einer "Es"-Sprache beschreiben, alles im oberen linken Quadranten in einer "Ich"-Sprache, und alles im unteren linken Quadranten in einer "Wir"-Sprache...

F: Diese drei "Sprachen" sind am Achsenschnittpunkt von [obiger] Abbildung angegeben.

KW: Ja. Die Es-Sprache betrifft objektive, neutrale, wertfreie Oberflächen. Dies ist die Standardsprache der empirischen, analytischen und Systemwissenschaften von der Physik über die Biologie, Ökologie, Kybernetik, die positivistische Soziologie und den Behaviorismus bis zur Systemtheorie.

Diese Sprache ist monologisch. Es ist ein Monolog mit Oberflächen, mit einem "Es". Die Es-Sprache beschreibt objektive Außenseiten und ihre Wechselbeziehungen, beobachtbare Oberflächen und Strukturen, die man mit den Sinnen und ihren technischen "Verlängerungen" sehen kann, ob diese empirischen Oberflächen "im Inneren" sind wie zum Beispiel Gehirn oder Lungen oder im Äußeren wie zum Beispiel Ökosysteme. Auch durch Kanäle huschende Informationen können in einer Es-Sprache beschrieben werden. Information wird ja als negative Entropie definiert, was in etwa das Es-hafteste ist, was man sich vorstellen kann. Unsere Gegenwart ist dabei nicht notwendig.

Die Ich-Sprache andererseits ist unsere Gegenwart, unser Bewußtsein, unser subjektives Gewahrsein. Alles, was sich im oberen linken Quadranten befindet, wird im Prinzip in der Ich-Sprache beschrieben, in der Sprache der inneren Subjektivität. Die subjektive Komponente eines jeden Holons ist die Ich-Komponente. Dieses "Ich" oder Selbst oder diese Subjektivität wird mit zunehmender Tiefe immer größer: In einem Affen findet man mehr Subjektivität als in einem Wurm. Das Entscheidende ist jedoch, daß man diese

Ich-Komponente auf keinen Fall in der Es-Sprache beschreiben kann. Dadurch würde man das Subjekt in ein bloßes Objekt verwandeln, und wir lehnen dies instinktiv und nachdrücklich ab. Subjekte versteht man, Objekte manipuliert man.

F: Der Laborassistent...

KW: Ja, das war ein Beispiel hierfür. Ihr "Ich" wird als ein "Es" behandelt. Ob man diese Objekte als Einzelobjekte oder als kollektive Stränge im großen und wunderbaren Gewebe behandelt - man weiß instinktiv, daß eine solche Reduktion gefährlich ist.

F: Und die dritte Sprache?

KW: Die dritte Sprache, die Wir-Sprache, ist der untere linke Quadrant, die kulturelle oder intersubjektive Dimension. Der obere linke Quadrant drückt aus, wie "ich" die Welt sehe; der untere linke drückt aus, wie "wir" sie sehen. Es ist die kollektive Weltsicht, die wir in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Kultur miteinander teilen. Diese Weltsichten entwickeln sich natürlich, und wir haben ja schon kurz die archaische, magische, mythische und rationale Weltsicht erwähnt.

Man hat es also mindestens mit diesen drei grundlegenden "Sprachen" zu tun, die ganz unterschiedlich sind und sich auf diese unterschiedlichen Bereiche beziehen. Daß man diese drei Sprachen nicht unterschieden hat, hat zu ganz erheblichen Verwicklungen geführt.

F: Sie nennen sie "die Großen Drei".

KW: Ja. Die "Großen Drei" sind nur eine vereinfachte Version der vier Quadranten, wobei die beiden rechten Quadranten objektive Außenseiten oder ein "Es" sind. Daher kann man der Einfachheit halber die vier Quadranten als drei behandeln, als die Großen Drei - ich, wir und es.

Wenn wir also sagen, daß jedes individuelle Holon vier Quadranten - oder vereinfacht die Großen Drei - umfaßt, dann meinen wir damit auch, daß jedes Holon diese drei Aspekte oder Facetten aufweist, die sich nur in diesen unterschiedlichen Sprachen beschreiben lassen. Der Grund, warum man keine dieser Sprachen auf eine andere zurückführen kann, ist derselbe, warum sich keiner der Quadranten auf einen anderen zurückführen läßt. Man kann also ein Holon nur dann angemessen und vollständig beschreiben, wenn man alle drei Sprachen benutzt, um alle seine Quadranten zu beschreiben, und nicht einfach einen Quadranten oder eine Sprache bevorzugt, auch wenn dies üblicherweise so geschieht...

Integral Methodischer Pluralismus

In den im Sommer 2002 bei www.shambhala.com veröffentlichten "Excerpts from Volume 2 of the Kosmos Trilogy" erläutert Wilber in "Part V. Integral Methodological Pluralismus" beispielhaft für alle vier Quadranten, wie eine methodische Untersuchung jeweils für jeden Quadranten aussieht.

Einführung
Ich glaube wir haben nun genügend Hintergrundinformationen, um eine schnelle Rundreise zu einigen der allgemein verbreiteten Methodiken zu machen, welche die verschiedenen Dimensionen von Holons aufhellen, hervorbringen und darstellen. In jedem dieser Fälle - vom Empirismus zur Phänomenologie zur Hermeneutik zur Systemtheorie - können wir fragen, was wird durch die Injunktion dieser speziellen Untersuchung enthüllt oder hervorgebracht? Das heißt was werden wir finden, wenn wir diese spezielle Untersuchung durchführen? Was zeigt uns diese Untersuchung? Und warum ist sie wichtig?

Dabei werden in der Lichtung, welche durch eine bestimmte Untersuchung geschaffen wird, verschiedene Dinge dargestellt und beleuchtet, einschließlich Gegebenheiten der Vergangenheit, gegenwärtigen konkreten Ereignissen, und zukünftigen Potentialen

  1. wir haben schon über eine der wichtigsten gesprochen - und zwar können einige dieser Untersuchungen (wie Physik, Biologie, Entwicklungspsychologie, Systemtheorie, Ökologie) viele der permanenten Merkmale von Gegebenheiten der Vergangenheit enthüllen, die immer noch in der Gegenwart als faktische Gegebenheiten gegenwärtig sind, als Fakten welche prä-existent sind für die Interpretation dieses Augenblicks (wenn auch unvermeidlich gefärbt durch die Interpretationen dieses Augenblicks, und auch als sie erstmals als Fakten festgelegt wurden, hatten sie selbst einen intrinsischen Augenblick interpretativer Freiheit).

  2. Einige dieser Untersuchungen (wie Hermeneutik, gemeinschaftliche Untersuchungen, Meditation, künstlerische Kreativität) können auch konkrete Ereignisse erhellen (bzw. Fakten-und-Interpretationen) die ihrerseits in diesem Augenblick emergieren.

  3. Und - ebenso wichtig - können einige von ihnen verschiedene zukünftige Potentiale enthüllen, die gerade emergieren, mit ihrer eigenen wilden kreativen Schlagartigkeit. Diese Emergenzen sind keine Gegebenheiten - jedenfalls noch nicht - sondern treten gerade jetzt, in diesem Augenblick spielerischer Unbestimmtheit, ins Sein. Wenn irgendwelche dieser kreativen Emergenzen den Selektionsdruck in allen Quadranten überleben, und dann in der Folge durch mehr und mehr Holons ihrer Kategorie wiederholt werden, dann werden sie sich schließlich als Tiefenmuster und fest verwurzelte Kosmische Gewohnheiten etablieren, welche an alle Mitglieder ihrer Klasse in Zukunft weitergegeben werden.
Dies sind einige der Ereignisse, welche unseren gegenwärtigen Untersuchungsformen zugänglich sind. In einer wichtigen Anmerkung werden wir einige der andere Dinge diskutieren, die durch menschliche Untersuchungen entdeckt werden können (Dinge wie involutionäre Gegebenheiten, oder echte archetypische Muster, von denen angenommen werden kann dass sie vor dem Beginn der Evolution bereits existierten). [siehe Grundlagenkonzept Involution/Evolution, in Vorbereitung] Und erinnern wir uns daran, dass das was wir jetzt erkunden verschiedene Formen von Untersuchungen sind, oder Wege wie wir nach Wahrheit, Bedeutung, Information, Gefühlen, Einsichten, gemeinschaftlicher Teilhabe und so weiter Ausschau halten. In allen Formen der Untersuchung, in allen Quadranten suchen wir nach etwas. Und so stellen wir die Frage: welche Art des Schauens oder der Untersuchung gibt es in den verschiedenen Quadranten? Und was bringen sie hervor? Unnötig dabei zu betonen, dass die Form der Untersuchung nicht die einzige Art menschlichen Fühlens, Wissens, Seins, oder Verlangens ist - es ist einfach diejenige Form, welche einer wiederholbaren Methodik am zugänglichsten ist.
Schauen wir uns die Konturen einige dieser Methodiken an, in dem wir eine schnelle, allgemeine, einfache Darstellung einiger der verbreitetsten angewendeten Untersuchungen machen, und ein wenig von ihrer jüngeren Entwicklung betrachten.

Untersuchungen Oben-Rechts
Die vielleicht einfachste Art irgendeiner Untersuchung ist die des sensorischen Empirismus

(welcher, theoretisch aufgebauscht, als Behaviorismus erscheint, und, noch mehr aufgebauscht, als Positivismus - ich werde sie generell gemeinsam behandeln). Sensorischer Empirismus hat - ausgehend von einer Reihe von einfachen Annahmen - die größte naive Anziehungskraft,: ich sehe sensorimotorische Objekte da draußen; diese Objekte (und wahrscheinlich nur diese Objekte) sind real; und deshalb besteht wahres Wissen darin, das Verhalten dieser Objekte so sorgfältig wie möglich zu betrachten: das heißt, wahres Wissen besteht in einer genauen Landkarte eines vorgegebenen objektiven Territoriums.

Es ist nicht so dass diese Annahmen in jeder Weise absolut falsch wären. Es ist so, dass, selbst wenn wir ihre wahren Aspekte anerkennen, sie lediglich ein nur sehr kleines Stück vom Kosmischen Kuchen ergeben. Doch die wahren Aspekte dieses Ansatzes (auf welche wir uns jetzt konzentrieren) drehen sich um folgendes:

In dem Versuch, den Standpunkt einer unparteiischen wissenschaftlichen Sicht von Objekten einzunehmen, erhelle ich die Dimension der dritten Person des in-der-Welt-seins. Diese Dimensionen der dritten Person sind vorhanden, sie sind real, sie sind relativ objektiv (d.h., viele der Aspekte gegenwärtiger Ereignisse werden der Gegenwart als Whitehead'sche vergangene Ereignisse überreicht, faktisch vererbt oder wahrgenommen durch diesen Augenblick. Aus diesem Grund schneidet ein Diamant Glas, und das war, ist, und wird so sein in einer prämodernen, in einer modernen und in einer postmodernen Kultur: so weit zur kulturellen Relativität) Diese Fakten sind einfach da, aber sie stehen weder für sich alleine, noch konstituieren sie eine Wirklichkeit getrennt von, oder unverändert durch, die anderen Quadranten und Dimensionen des in-der-Welt-seins. Zum Desaster - und es erübrigt sich fast das zu betonen - kommt es dabei, wenn die Untersuchung dieses Quadranten (dem oberen rechten Quadranten) - bzw. die Untersuchung des objektiven Verhaltens sensorimotorischer Ereignisse - als die einzige Art von Untersuchung angesehen wird, welche wahres Wissen enthüllt (eine unreife Annahme, die nur dann auftritt wenn ich - im Widerspruch zu der Fülle verfügbarer Evidenz - voraussetze, dass die einzigen realen Ereignisse sensorimotorische Ereignisse sind - was zu einer Verabsolutierung des naiven Standpunktes unreflektierter Bewusstheit führt. "Die Verneinung der Reflektion ist Positivismus" - Jürgen Habermas). Diese Blindheit ist einfach nur ein weiterer Fall von Quadrant Absolutismus.

Dennoch ist die Untersuchung der dritten Person des Verhaltens der sensorimotorischen Dimension von Holons ein wichtiges Werkzeug in jedem integralen Instrumentarium. Diese empirische Untersuchungsmethode erhellt die Dimension der dritten Person des in-der-Welt-seins. Sie hilft entscheidend dabei mit, einige der faktischen Aspekte dieses Augenblicks zu enthüllen (die ererbten Formen der quadrantischen Vergangenheit, welche in diesem Augenblick immer noch aktiv sind, UND die objektiven bzw. rechts-seitigen Korrelate des linksseitigen Bewusstseins und der Interpretationen, welche in diesem Augenblick auftauchen). Die Existenz dieses wichtigen Quadranten wird natürlich von den Postmodernisten geleugnet, doch nur deshalb, weil sie, wie wir gleich sehen werden, selbst in einem Quadrant-Absolutismus verwickelt sind.

Wichtige Untersuchungen umfassen hier die meisten der Naturwissenschaften die sich auf das einzelne Verhalten konzentrieren, wie Physik, Chemie, Molekularbiologie, Biochemie, evolutionärer Behaviorismus/Psychologie, Neuropsychologie, Neurowissenschaften, und die kognitiven Wissenschaften. Wie begrenzt sie bei der Erfassung des Kosmos auch immer sein mögen, sie bilden doch einen wichtigen Eckstein eines jeden wahrhaft integralen methodischen Pluralismus.

Untersuchungen Oben-Links
Die Untersuchungen oben-links, bzw. die Untersuchungen der Modi der ersten Person des in-der-Welt-seins ist die für jeden Menschen am direktesten verfügbare Untersuchungsmethode: ich schaue einfach in meinen eigenen Geist [mind], mein eigenes Bewusstsein. Natürlich werden die Dinge dann sehr schnell kompliziert - was ich "meinen eigenen Geist" nenne ist zum Teil das Produkt von Kultur, sozialen Systemen, etwas unverdautem Essen, und was auch immer sonst noch (was lediglich wieder einmal bedeutet, dass kein Quadrant von den anderen getrennt ist). Dennoch ist "Introspektion" in einer ihrer zahlreichen Formen nicht ein gänzlich illusionäres Spiel; ebenso wenig wie Empirismus und all die Untersuchungsmethoden der anderen Quadranten dies sind; sie kann viele wichtige Ereignisse enthüllen - Gegebenheiten der Vergangenheit, gegenwärtige Ereignisse, und zukünftige Potentiale - welche durch andere Vorgehensweisen nicht enthüllt oder hervorgebracht werden.

Die einfach Tatsache ist die, dass wenn ich den Standpunkt des in mich Hineinfühlens einnehme, ich die Dimension der ersten Person des in-der-Welt-seins erhelle. Das was ich finde hängt natürlich von einem ganzen Bündel von Variablen ab, einschließlich - am wichtigsten - sowohl den Wellen des Bewusstseins wie auch den Strömen des Bewusstseins in die ich mich hineinfühle. Doch eine entsprechende Untersuchung der ersten Person steht hinter einer Vielzahl wichtiger Methodiken quer über das gesamte Bewusstseinsspektrum - einschließlich verschiedener Arten der Meditation und Kontemplation, introspektiver Psychologie, psychoanalytischen Unternehmungen, schamanischen Reisen, der Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Traumanalyse und Körperarbeit.

Die meisten der Konflikte zwischen Ansätzen in diesem Quadranten drehen sich darum, welche der vielen Bewusstseinsebenen die einzig wahre Bewusstseinsebene ist - ein Fall von - wie wir sehen werden - Wellen-Absolutismus, und nicht Quadrant-Absolutismus. Und wir werden ebenso eine hitzige Debatte unter den Theoretikern finden die glauben, dass nur ein Strom in diesem Quadranten wirklich real ist - z.B. diejenigen die glauben dass der Piaget'sche kognitive Strom, oder der Grave'sche Wertestrom, oder der vipassana Meditationsstrom der einzig wirkliche tiefe Strom ist, demgegenüber alle anderen nur Oberflächenströmungen darstellen - ein Beispiel für Strom-Absolutismus.

Dessen ungeachtet ist die Phänomenologie der ersten Person in ihren vielen Formen - spirituell, mental, körperlich - ganz frei von jeder Art von Wellen- oder Strom- oder Zustands- oder Typen-Absolutismus, sie ist eindeutig eine wichtige Ressource in jedem integralen methodischen Pluralismus...

Untersuchungen Unten-Rechts
Natürlich sind sowohl die Untersuchungen oben-links sowie auch die Untersuchungen oben-rechts in gewisser Weise naiv. Sie tendieren beide zu der Annahme, dass Individuen für sich stehen. Ich schaue in meinen eigenen Geist (OL), und nichts was ich dort sehe sagt mir dass diese Inhalte von meiner Kultur zutiefst geformt, ja manchmal sogar von ihr erschaffen wurden. Und ich betrachte objektive Dinge dort draußen (OR), und sie erscheinen mir als reale Objekte welche aus sich selbst heraus existieren - nichts in meinen Sinnen sagt mir, dass sie ein intrinsischer Teil von größeren Ganzen sind.

Der erste Schritt über den Standpunkt naiven Individualismus hinaus erfolgt allgemein (und erfolgte historisch) durch das Verständnis, dass der sichtbare Organismus (oben rechts) intrinsisch mit der sichtbaren Umwelt (unten rechts) in Systemen von gegenseitiger Interaktion verbunden ist. Mit anderen Worten, eine differenzierte Verfolgung des sensorimotorischen Verhaltens von einzelnen Objekten zeigt (einer Wahrnehmung des zweiten Ranges) sehr bald, dass individuelle Objekte systematischen Verhaltensmustern folgen, die durch nichts in den individuellen Objekten gegeben sind. Individuelle Objekte scheinen zu größeren Systemen zu gehören, welche zu einem gewissen Grad das Verhalten dieser Objekte als Komponenten des Systems regeln. Die Evolution eines individuellen Organismus zum Beispiel kann nicht getrennt von dem ökologischen System, in das es eingebettet ist, verstanden werden. In gewisser Weise existieren individuelle Organismen nicht aus sich selbst heraus; was tatsächlich existiert ist ein Organismus-Umwelt System, ein ökologisches Gewebe - selbst wiederum eingebettet in noch größere Gewebe - und es ist das Verständnis dieser Systeme und Gewebe, welches bedeutendes Wissen schafft. Und daher ist es nicht das Verhalten von Objekten, sondern das Verhalten von Systemen welches im Blickpunkt dieser Untersuchungsmethode steht.

Historisch betrachtet resultierte aus dieser Perspektive vielerlei, vom Entwicklungsstrukturalismus zur genealogischen Antropologie zur evolutionären Systemtheorie zu den ökologischen Wissenschaften und den Gewebe-des-Lebens Theorien bis zu der großen Bandbreite der dynamischen Systemtheorien (von Kybernetik zu allgemeinen Systemtheorien zu Funktionalismus zu Chaos- und Komplexitätstheorien). All dies sind immer noch wichtige Untersuchungen der dritten Person, doch jetzt durchgeführt mit einem Augenmerk auf den Plural und das Kollektive, anstatt auf das Singulare und Atomistische. In der Systemtheorie findet man nichts von Berichten der ersten Person über Verlangen, Gefühle, Visionen, Dichtung, Träume, satori, und so weiter (jedenfalls nicht in ihren eigenen, nicht-reduktionistischen Begriffen); und man findet ebenso keine authentischen (bzw. nicht-reduktionistischen) Berichte der zweiten Person von gegenseitigem Verstehen, Hermeneutik, gemeinsam geteilten Sichtweisen; noch irgendeinen inneren Bericht über Bewusstseinszustände, Bewusstseinsstufen, Bewusstseinströme und so weiter. Manchmal werden diese Dinge anerkannt, doch sie alle werden in dynamischen Systemen miteinander verwobener Es-heiten auf ihre äußere Erscheinung reduziert. Trotz der Versuche einer Einführung einer "weichen Systemtheorie" sind die große Mehrheit der einflussreichen System-Ansätze - beginnend mit Bertalanffy und weiter über Parsons und Merton zu Maturana, Luhmann, Prigogine, Goertzel, Warfield, Laszlo, Wolfram - alle überwiegend Formen der Untersuchung der dritten Person Plural, welche, sofern sie von jeglicher Form von Quadrant-Absolutismus befreit werden, eine entscheidende Ressource in jedem integral methodischen Pluralismus darstellen. Wenn ich mich - mit anderen Worten - in systemtheoretischen Untersuchungen engagiere, erhelle ich die dritte Person Plural Dimension des in-der-Welt-seins. Diese Dimensionen sind real, es gibt sie, und sie stellen - genau so wie es die Systemtheorie behauptet - relativ objektive Fakten über Systeme in der Welt dar. Sie enthüllen den unteren rechten Quadranten, bzw. die objektive Dimension kommunaler Holons.

Mehr und mehr anerkennen die führenden Schulen dynamischer Systemtheorie, dass der Organismus oben-rechts nicht nur einfach seine vorgegebene Umwelt unten-rechts reflektiert, sondern sie eher darstellt und miterschafft (das enaktive Paradigma). Dies ist sicher wahr; doch es ist immer noch ein Bericht der dritten Person über diese Wirklichkeiten... Dies macht autopoietische Theorien nicht ungültig, es stellt sie lediglich in den größeren Zusammenhang eines integralen methodischen Pluralismus.

All diese interobjektiven Ansätze - es gibt buchstäblich duzende von anderen - stoßen auf die Tatsache, dass alle Holons einen unteren rechten Quadranten haben, ein holistisches Gewebe von sich gegenseitig durchdringenden Mustern durch Zeit und Raum, welches aus einer Perspektive der dritten Person heraus beschrieben werden kann - und was, obgleich weit davon entfernt die ganze Geschichte zu sein, einen entscheidenden Aspekt einer integraleren Sicht darstellt.

Untersuchungen Unten-Links
Historisch betrachtet, und im Gefolge der Erkenntnis dass individuelle Organismen nur als untrennbare Aspekte eines Gewebes ökologischer Interaktion existieren, wurde entdeckt dass solche interobjektiven Gewebe tatsächlich auch eine Innerlichkeit haben, welche sich nicht reduzieren lässt oder erklärt werden kann durch die Gewebe selbst. Das bedeutet, soziale Systeme (Es-heiten der dritten Person) besitzen innerliche Wirklichkeiten der ersten und zweiten Person, die sich einer Entdeckung durch die ökologischen Systemwissenschaften entziehen. Und, noch schlimmer, die objektiven und interobjektiven Wissenschaften selbst erscheinen immer nur als ein untrennbarer Aspekt ausgedehnter Felder kultureller Interpretation: Intersubjektivität berührt alle anderen Unternehmungen. Und so machte die moderne Systemtheorie Platz für den postmodernen Kontextualismus - und beide werden transzendiert und beinhaltet in einer nun führenden integralen Theorie.

Doch konzentrieren wir uns auf die große postmoderne Entdeckung: jedes Holon hat eine intersubjektive Dimension, jedes Holon hat einen unteren linken Quadranten. Darüber hinaus ist dieses intersubjektive Feld wahrhaft nicht-reduzierbar; es ist nicht irgendeine Art von Produkt der Interaktion von ursprünglich getrennten Subjekten die irgendwie zusammen kommen, interagieren, und eine gemeinsame intersubjektive Anschauung miteinander teilen. Nein, Intersubjektivität ist da, von Anfang an, als ein intrinsischer Aspekt der tetra-Entfaltung von diesem und jedem Augenblick.

Selbst die evolutionären Wissenschaften unterstützen diese Schlussfolgerung, indem sie alle in der Tatsache übereinstimmen (selbst wenn sie diese selbst nicht erklären können) dass es keine ersten Beispielfälle in der Evolution gibt. Wenn eine neue Spezies erstmalig auftritt - zum Beispiel die ersten Säugetiere - erscheint sie nie durch sich selbst; was sich als erstes zeigt ist eine Säugetierpopulation. Und das macht Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Damit eine neue Spezies erscheinen kann, müssen duzende von erfolgreichen Hauptmutationen erfolgen. Die Wahrscheinlichkeiten dass so etwas geschieht sind natürlich astronomisch; und schlimmer noch, die gleichen duzenden Mutationen müssen ebenso in einem anderen Tier des anderen Geschlechts auftreten; und dann müssen diese zwei sich auf diesem großen Planeten finden, paaren, und ihre Nachkommen müssen dann überleben und sich paaren - die Wahrscheinlichkeit dass dieses alles geschieht ist jenseits jeder Vorstellung und Möglichkeit. Nein, auf eine geheimnisvolle Art und Weise tauchen komplette Populationen einfach auf - und das bedeutet, dass das Innere und Äußere von Einzahl und Mehrzahl zusammen auf der Bühne erscheint: die vier Quadranten tauchen simultan auf und tetra-evolvieren gemeinsam, wie wir es gesagt haben.

(Wie können komplette Populationen gemeinsam auftauchen? Welcher "Mechanismus" steht dahinter? Die Antwort ist: Eros... Doch wie immer wir uns für das "wie" entscheiden, das faktische "was" besteht darin, dass das Innere und das Äußere der Einzahl und der Mehrzahl simultan auf der Bühne erscheint: die Quadranten tetra-evolvieren.)

Zu der Zeit, als die intersubjektive Dimension unten-links in selbst-reflexiven menschlichen Wesen zur Entfaltung kommt, sind ebenso Untersuchungsmethoden evolviert, welche dabei helfen diese intrinsische Dimension des in-der-Welt-seins dazustellen, zu enthüllen und zu erhellen. Führend unter diesen intersubjektiven Untersuchungsmethoden ist die Hermeneutik - die Kunst und Wissenschaft der Interpretation - in ihren vielen Formen. Natürlich existiert Hermeneutik in ihren präreflexiven Modi "bis ganz hinab" - selbst Holons auf der subatomaren Ebene sind mit der Interpretation ihrer Umwelt beschäftigt. Signalsysteme und Austausch von Partikeln/Energie/Kräften existiert selbst auf den fundamentalsten Ebenen. Weil die kreative Neuheit der fundamentalsten Holons gegen Null geht (ohne jemals gleich Null zu sein), scheint es unglücklicherweise und irrtümlicherweise so zu sein, dass die interpretative Freiheit auf den unteren Ebenen vollständig abwesend ist, wohingegen, wie Whitehead schon wusste, sie lediglich an ihrem Tiefstpunkt ist. Die intersubjektive Dimension der Evolution kann von ihren bescheidenen Anfängen in den fundamentalsten Holons (wie Systemen der proto-Wahrnehmung) zu ihren verfeinerten Formen in pflanzlichen und tierischen Signalsystemen (chemisch, biologisch, hormonell) verfolgt werden - aber bei allen geht es nicht nur um einen Austausch von Signifikanten in einem System der Syntax, sondern auch um ein Hervorrufen und die Darstellung von Signifikanten in einer gemeinschaftlich geteilten Semantik: die vier Quadranten erscheinen simultan auf der Bühne und tetra-evolvieren...

In menschlichen Wesen erscheint diese gemeinschaftlich geteilte Semantik als ausgedehnte Netzwerke kultureller Hintergründe, präreflexiver geteilter Wahrnehmung, gegenseitigen Verstehens, und sich überlappende Anschauungen der Intersubjektivität. Diese gemeinschaftlich geteilten Augenblicke konstituieren einen wesentlichen Bestandteil nicht nur des gegenseitigen Verstehens zwischen Subjekten, sondern das Auftauchen der Subjektivität selbst: das ist die Essenz der großen postmodernen Entdeckung. Agenz ist immer Agenz-in-Kommunion, sowohl in ihrer äußeren oder ökologischen Form, wie auch in ihrer inneren oder kulturellen Form.

Die genaue Untersuchung der vielen Nuancen kultureller Intersubjektivität ist der Kern der Methoden des unteren linken Quadranten. Hermeneutik, gemeinschaftliche Untersuchungen, partizipatorischer Pluralismus und Aktions-Untersuchungen sind einige der wenigen Modi dieser Darstellung und Enthüllung. Der wichtige Punkt dabei ist, dass wenn ich mich mit Hermeneutik und gemeinschaftlicher Untersuchung beschäftige, ich dann die Modi der zweiten Person des in-der-Welt-seins erhelle. Diese Modi sind real, sie sind da, und sie sind ein entscheidender Bestandteil in jedem integralen methodischen Pluralismus.

Alle diese intersubjektiven Ansätze - es gibt buchstäblich duzende weiterer - stoßen auf die Tatsache dass alle Holons einen unteren linken Quadranten haben, ein holistisches Gewebe sich gegenseitig durchdringender Wahrnehmungen durch Zeit und Raum, welche aus einer Perspektive der zweiten Person (und ersten Person Plural) heraus erspürt und beschrieben werden können - und welche, wenngleich weit davon entfernt die ganze Geschichte zu sein, ein wesentlicher Aspekt einer integraleren Sicht sind.