Raymond Fismer

Von Gleichberechtigung bis Gender Trouble 

Leicht erweiterte und vom Autor übersetzte Form des Vortrages „From Equal Rights to Gender Trouble“, gehalten auf der Integral European Conference 2023 in Siófok/Ungarn.

 

Wohin bewegt sich die Gleichstellung der Geschlechter? Auf der einen Seite sehen wir weltweit einen Roll-Back, ob beim Abtreibungsverbot in den USA, der Kriminalisierung von Schwulen und Lesben in Kenia, Uganda und anderen afrikanischen Staaten, anti-queerer Hetze in Russland, bis hin zur völligen Verbannung von Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan. Auf der anderen Seite ist in vielen Ländern die rechtliche Gleichberechtigung hergestellt, Mädchen und Frauen sind in Schule und Studium auf der Überholspur, immer mehr junge Männer übernehmen eine aktive Vater-Rolle, und die LGBT-Bewegung ist im letzten Jahrzehnt unüberhörbar geworden.

Woher kommt die starke und offenbar zunehmende Polarisierung, die verbale Eskalation, die das Thema hervorruft? Ich selber merkte, dass ich mich kaum traue, hier eine Position zu beziehen, da überall Fettnäpfchen lauern und ich mich angreifbar mache. Trotzdem, oder gerade deswegen, will ich hier versuchen, mit den Mitteln der integralen Landkarte etwas Licht und Verstehen in dies kontroverse Minenfeld zu bringen, ohne bereits Lösungen anzubieten.

 

Sex, Gender, Identität und Orientierung in vier Quadranten

Beginnen wir mit einer Einordnung und Klärung einiger fundamentaler Begriffe, um das Feld übersichtlicher zu gestalten. Dazu ist die Wilber‘sche Landkarte der vier Quadranten sehr hilfreich: innen und außen, individuell und kollektiv.

Da ist zunächst das biologische Geschlecht: körperlich im rechten oberen (RO) Quadranten zu verorten. Dabei geht es um Gene (XX oder XY), Hormone, Geschlechtsorgane, sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Körpergestalt, Größe, Haarwuchs, Anteil an Muskel- und Fettmasse, aber auch Krankheitsdispositionen, Ausbildung des Zentralnervensystems etc. Wir sehen hier eine klare Polarität von Männlich und Weiblich (Warnhinweis vorweg: dies ist natürlich eine vereinfachte Sicht, zur Ausdifferenzierung kommen wir später noch.)

Zu unterscheiden davon ist die innere, im linken oberen Quadranten (LO) angesiedelte Geschlechtsidentität, also das Bewusstsein, zu welchem Geschlecht jemand sich zugehörig fühlt. Da es sich hierbei um eine innere Realität handelt, kann sie nicht objektiv von außen konstatiert werden, sondern nur durch Selbstaussage des Individuums.quadranten

Ebenfalls LO lokalisieren wir die sexuelle Orientierung, also das hetero-, homo- oder bi-sexuelle Begehren, wenn es um eine intime Partnerschaft geht.

Doch woher weiß eine Person, was es bedeutet, männlich beziehungsweise weiblich zu sein? Dies lernen wir natürlich von klein auf durch die Genderrollen, Normen, Stereotypen, Vorurteile, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, bzw. differenzierter noch in unserer Schicht, unserer Kultur. Hier befinden wir uns im linken unteren Quadranten (LU) des kollektiven inneren Bewusstseins. Da diese kulturellen Konstrukte etwas grundlegend anderes sind als das biologische Geschlecht (RO), verwende ich dafür den mittlerweile eingebürgerten Begriff „Gender“. Er gibt an, was in einem jeweiligen gesellschaftlichen Raum als männlich bzw. weiblich angesehen wird. (Das Englische hat die klare Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“, während das deutsche „Geschlecht“ beides bedeuten kann. Mit dieser sprachlichen Mehrdeutigkeit müssen wir hier leben.)

Die Gender-Normen und -Rollen bleiben nicht innerlich, sie äußern sich in sehr konkreten äußeren Formen. Viele Sprachen (das Deutsche eingeschlossen) haben eine Geschlechtsdifferenzierung tief in ihre Struktur eingebaut, was sie laufend in unserem Denken verankert und das Bemühen um eine geschlechtsneutrale Sprache so schwierig macht.

Das Kleinkind wird in seinen Lebensbedingungen (RO) von Anfang an durch seine Geschlechtszuordnung geprägt: Kurz nach der Geburt erhalten wir von unseren Eltern einen Vornamen, der uns (bis auf wenige Ausnahmefälle) eindeutig einem Geschlecht zuschreibt. Schon früh beginnen Mädchen und Jungen in vielen Punkten unterscheidbares Verhalten an den Tag zu legen; die andauernde Diskussion, wieviel hiervon erlernte Rollen sind und wie groß der Anteil der Biologie ist, ändert nichts an der statistischen Realität. Auch die Kleidung, in die wir gesteckt werden, unterscheidet sich schon früh und zeichnet uns als Junge oder Mädchen aus; die Kleinkindabteilungen sind zwiegespalten in eine rosa und eine blaue Welt.

Das durch die Gender-Rollen geprägte Verhalten setzt sich unser gesamtes Erwachsenenleben hindurch fort; die Forschung spricht von „doing gender“, d.h. indem wir ein Gegenüber als männlich oder weiblich „lesen“ und uns dementsprechend leicht unterschiedlich verhalten, reproduzieren wir beständig die gesellschaftlichen Gender-Rollen. Damit sind wir beim kollektiven Verhalten, also im rechten unteren Quadranten (RU) angelangt.

Hier gibt es darüber hinaus natürlich auch die „hard facts“ der unterschiedlichen Lebensbedingungen von Frauen und Männern. Das reicht von unterschiedlichem Zugang zu Berufen und Positionen, möglicherweise immer noch ungleichen Rechten, Bildungsunterschieden, ungleichem Einkommen, dem Anteil an unbezahlter Care-Arbeit, bis zur Betroffenheit von Gewalt, der Art und Häufigkeit von Krankheiten und Unfällen, der Lebenserwartung, um nur einige zentrale Faktoren zu nennen.

Wir haben also vier deutlich zu unterscheidende Elemente identifiziert: das biologische Geschlecht (RO), die Geschlechtsidentität (LO), die sexuelle Orientierung (LO) und die Gender-Rollen (LU, aber auch RO und RU). Manche mögen andere Begrifflichkeiten dafür verwenden, aber diese Differenzierung scheint mir weithin geteilt zu werden. Diese begriffliche Klarheit kann schon manche Verwirrung auflösen.

So haben wir doch bereits ein schön übersichtliches Verständnis des Themas gewonnen, oder? Dies gilt aber nur so lange, bis wir die Entwicklungsstufen als Spielverderber ins Spiel bringen. Um nicht zu tief einzusteigen, will ich hier ein sehr vereinfachtes Entwicklungsmodell verwenden: ich unterscheide prä-modern, modern und post-modern (und schließlich integral). Unser Modell ist einleuchtend aus einer integral informierten Perspektive.

 

Prä-Moderne

Aus einer prä-modernen Perspektive jedoch ist es purer Unsinn. Denn ein Charakteristikum des prä-modernen Bewusstseins ist, dass es noch keine Differenzierung der vier Quadranten kennt. Das Wahre, das Schöne und das Gute sind ungetrennt, wie es Ken Wilber so schön formuliert. Aus konventioneller Sicht bestimmt das gottgegebene körperliche Geschlecht eindeutig die Identität und die Geschlechtsrollen: man ist als Mann oder Frau in die Welt gestellt und hat seinen Platz auszufüllen, entsprechend den gott- oder natur-gegebenen Normen und Regeln.  Unsere Unterscheidung in die Quadranten löst sich in Nichts auf, Sex, Identität und Gender sind ein und dasselbe.

Einzig bezüglich der sexuellen Orientierung sind nicht alle prä-modernen Gesellschaften einer Meinung. Zwar wird Homosexualität quasi in allen gegenwärtigen prä-modernen Religionssystemen als schwere Sünde verurteilt, aber historisch gab es durchaus Beispiele, wo Homosexualität akzeptiert und öffentlich ausgelebt wurde, wie in den antiken griechischen Stadtstaaten.

Für das prä-moderne Bewusstsein stellt das gesetzeskonforme und gottesfürchtige Ausfüllen der Geschlechtsrolle als Mann oder Frau ein zentrales Element des Wertesystems dar, sie bestimmt maßgeblich die Ordnung in Familie, Gemeinde, Religion, Gesellschaft, und damit auch die persönliche Identität und die Position, die man einzunehmen hat. So können wir bereits verstehen, dass ihr Infragestellen als ein massiver Angriff auf die Grundfesten der Weltordnung wahrgenommen wird.

Und seien wir ehrlich: dies ist nicht nur ein Problem konservativer Hardliner. Wenn wir tief in uns hineinspüren und einen Anschluss an unser eigenes konventionelles, prä-modernes Bewusstsein finden – als wir als junge Menschen nach Richtig und Falsch, nach Dazugehören und Außenseitertum suchten, - dann können wir einen Geschmack der Irritation gewinnen, die das Infragestellen des scheinbar Sicheren hervorruft. Ist es nicht doch vollkommen klar, was Mann und was Frau ist? Auch wenn wir dies nachempfinden können, muss es nicht mehr unser Handeln leiten, dies tun andere Wertesysteme.

 

Moderne

Ein Kernelement des Übergangs zum modernen Bewusstsein besteht darin, dass die Normen und Lebensbedingungen nicht mehr als von Gott oder der Natur gegeben hingenommen werden, sondern als menschengemacht erkannt werden und damit auch von uns Menschen verändert und nach unserem Willen gestaltet werden können.

SuffragettesSo werden zahlreiche tradierte Ungleichheiten in Frage gestellt: Abschaffung der Sklaverei, Bürger- und Wahlrecht, Dekolonisierung, und eben auch: Gleichberechtigung. Ab dem 19. Jahrhundert begann die weibliche Hälfte der Bevölkerung ihren Anspruch auf gleiche Rechte anzumelden. Die sogenannte Erste Welle des Feminismus forderte für die Frauen Wahlrecht, volle Bürgerrechte, freie Berufswahl, finanzielle Autonomie, gleiche Bezahlung, Gleichberechtigung in der Ehe, Abtreibungsrechte… Dieser Kampf hat seitdem in zahlreichen Ländern gewaltige Fortschritte erbracht; allein wenn ich an die Zeit meiner eigenen Kindheit denke, sind die Unterschiede augenfällig. So war etwa bis 1977 in Deutschland die Berufstätigkeit der Ehefrau von der Zustimmung des Mannes abhängig. Trotzdem ist unstrittig, dass es bis zu einer tatsächlichen Gleichstellung immer noch sehr viel zu tun gibt, vor allem, wenn wir die Situation weltweit betrachten. In vielen Ländern sind selbst elementare Frauenrechte noch nicht gesichert. Dies findet einen Ausdruck darin, dass die UN in ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) als Nr. 5 benennt: „Gleichstellung der Geschlechter erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen.“sdg5

Wohlgemerkt geht es hier um gleiche Rechte und Chancen für Frauen und Männer; was Mannsein und Frausein bedeutet, wird nur insofern hinterfragt, als die alten diskriminierenden bzw. privilegierenden Normen infrage gestellt werden. Der Feminismus der ersten Welle erscheint oft so, dass die Frauen einfach das auch wollen, was die Männer haben.

 

Postmoderne

Simone de BeauvoirDekonstruktion ist ein Charakteristikum der Postmoderne; viele scheinbar gegebene Tatsachen werden als gesellschaftlich konstruiert entlarvt und damit als veränderlich hinterfragt. So deckte Simone de Beauvoir 1949 in „Das andere Geschlecht“ die Geschlechtlichkeit als soziales Konstrukt auf und unterschied konsequent zwischen biologischem und sozialem Geschlecht: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. Dies trat die Zweite Welle des Feminismus los; Women’s Lib fragte nach der Identität, danach was es bedeutet, eine Frau zu sein, und schuf eine eigene feministische Kultur, ein neues Selbstbewusstsein als Frau. In viel kleinerem Umfang entstand auch die Männerbewegung, die fragte, was es bedeutet, ein Mann zu sein.womenpower

In den 1990er Jahren entwickelte sich dies auf politischer Ebene weiter zum Konzept des Gender Mainstreaming, einer oft missverstandenen Idee; im Kern bedeutet sie, die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Menschen aller Geschlechter bei allen Entscheidungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu berücksichtigen. Das geht deutlich über Frauenförderung hinaus und schließt auch ein, die Männer zu stärken, wo sie benachteiligt sind, etwa bei der Lebenserwartung, bei aktiver Vaterschaft, beim Lösen von toxischen Männlichkeitsrollen.

Gender Trouble first editionNoch einen Schritt weiter mit der Dekonstruktion ging Judith Butler 1990 mit ihrem Buch „Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter)“. Sie fragte, wer denn das Subjekt des Feminismus sei; wenn wir verallgemeinernd von „den Frauen“ sprechen, ignorieren wir alle sozialen, ethnischen, kulturellen, körperlichen Differenzen.

Die Antworten darauf kann man als die Dritte Welle des Feminismus bezeichnen. Es braucht eine intersektionelle Sichtweise, die alles komplizierter macht. Auch die Anatomie ist kein Schicksal, und die Heteronormativität und das binäre Geschlechterkonzept werden in Frage gestellt. So sehen wir in den letzten Jahrzehnten das Aufblühen der LGBTIQ-Bewegung.

 

LGBTIQ verstehen

Wenden wir unser Quadranten-Schema auf „LGBTIQ“ an, um die verschiedenen Konzepte und Menschengruppen, die damit gemeint sind, näher zu verstehen.

Einfach sind „LGB“ = „Lesbian, Gay, Bisexual“. Diese beziehen sich auf die sexuelle Orientierung (OL), die Forderung lautet auf Anerkennung gleicher Rechte für diese Minderheiten – also Fortsetzung des Projekts der Moderne nach Gleichberechtigung. Auch wenn das vom Prinzip her simpel erscheint, ist es auch in gleichstellungspolitisch fortschrittlichen Ländern wie Deutschland noch ein weiter Weg bis zur vollständigen Umsetzung, denn die homophoben Gefühle sitzen tief, und es werden zahllose althergebrachte und gewohnte Regelungen in Frage gestellt: die gleichgeschlechtliche Ehe zieht weitreichende Änderungen nach sich in Elternrecht, Erbrecht, Namensrecht, Steuerrecht, …

Das „I“ für „Intersexual“ rückt die Tatsache ins Licht, dass das biologische Geschlecht keine vollkommen saubere Trennung der Neugeborenen in Jungen und Mädchen zeigt; es gibt einen (kleinen) Prozentsatz von Babys, die mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen, oder die sich erbbedingt körperlich anders entwickeln als erwartet. Diese Menschen treten heute für das Recht ein, nicht in die binäre Geschlechtlichkeit gezwungen zu werden, was lange Zeit mit geschlechtsangleichenden Operationen gewaltsam durchgesetzt wurde. Indem die Medizin und die Gesellschaft die Existenz des „I“ anerkennt, stellt sie die biologische Binarität (RO) in Frage.

„T“ wie „Transgender“ dagegen setzt bei der inneren Geschlechtsidentität (LO) an. Wenn wir den Begriff weit fassen, so können unterschiedliche Spannungen zwischen Identität, biologischem Geschlecht und äußerer Gender-Rolle zu einem breiten Spektrum von Lösungsbewegungen führen, vom Transvestitismus (zeitweiser oder dauerhafter Wechsel in die Kleidungs-Normen des anderen Geschlechts) über den Wechsel des Namens und des rechtlichen Status bis hin zu gender-angleichenden Operationen. Wo diese Dysphorien ihren Ursprung haben, ist noch weitgehend unverstanden; sie können seit der Kindheit bestehen, oder sich erst in einer späteren Lebensphase zeigen. Aber die betroffenen Menschen verlangen einfach, in ihrer Identität, ihrer inneren Realität ernst genommen zu werden.

Transgender als gesellschaftlich sichtbarer werdendes Phänomen stellt die lange als selbstverständlich geltende Überzeugung in Frage, dass die individuelle Geschlechtsidentität (LO) fest gekoppelt ist an biologisches Geschlecht (RO) und gesellschaftliche Rolle (LU). Damit löst es bei Vielen eine tiefe Verunsicherung aus.

„Q“ wie „queer“ schließlich wird einerseits als Oberbegriff gebraucht für das ganze LGBTIQ-Regenbogenspektrum. Spezifischer bezeichnet es Menschen, die die Norm der Zweigeschlechtlichkeit ablehnen. Sie wollen sich nicht in die Alternative „Mann oder Frau“ einordnen lassen, und sehen Gender als eine Polarität mit allen Übergangsformen, oder sie verwerfen die Binarität komplett und definieren sich als etwas Eigenes, jenseits der bekannten Rollen. Queer stellt das binäre Gender-Konzept nicht nur individuell, sondern als gesellschaftliche Norm (LU) in Frage.

 

Vielfältiger Gender Trouble

Mit diesen Klärungen können wir langsam besser verstehen, warum das Themenfeld Gender dermaßen polarisiert und eskaliert. Hier werden grundlegende Werte des Individuums wie der Gesellschaftsordnung verhandelt. Und das nicht nur zwischen zwei Parteien, sondern mindestens drei Wertesystemen: Prä-modern ist bereits durch die modernen Forderungen nach Gleichberechtigung herausgefordert, und empfindet die postmodernen Infragestellungen nur noch als dekadenten Verfall aller Kultur. Modern kämpft weiterhin vehement gegen traditionelle Normen für die Verwirklichung der Gleichstellung; viele Feministinnen (der ersten Welle) begegnen aber auch den queeren Gedanken und Forderungen mit Unverständnis und fürchten ein Aufgeben feministischer Errungenschaften. Schließlich kann Postmodern kaum verstehen, wieso es heutzutage immer noch so viel patriarchal-repressive Realität gibt, und empfindet feministische Gleichstellungspolitik oft als antiquiert.

davidEinige Beispiele mögen als Illustration der weitgespannten Konfliktlage dienen. Im März diesen Jahres musste eine Schulleiterin in Florida zurücktreten, weil im Kunstunterricht Schüler:innen mit Michelangelos David-Statue konfrontiert worden waren. Der nackte männliche Körper, der aus moderner Sicht den kunsthistorisch bedeutsamen Übergang von der alleinigen Darstellung religiöser Themen zum Fokus auf die natürliche Schönheit des Menschen markiert, kann aus prä-moderner Perspektive nur als Pornografie gelesen werden.

Samia Suluhu Hassan, die Präsidentin von Tanzania, erklärte im Frühjahr in einer Rede vor Studenten, warum die Verfolgung von Homosexualität in ihrem Land verschärft wird: „Diese Menschenrechte haben ihre Grenzen… Wir sollten nicht zu Dingen gezwungen werden, die nicht unseren Sitten und Traditionen entsprechen.“ Sie benennt damit klar die Konfrontation: hie moderne Menschenrechte (mit universalem Gültigkeitsanspruch), dort prä-moderne Sitten und Traditionen. Implizit schwingt hier auch ein Vorwurf des Neokolonialismus mit, fremde Mächte wollten ihrem Land und ihrer Kultur etwas aufzwingen. Allerdings verkennt das, wie Sitten und Traditionen sich ändern. Das Verbot der Homosexualität wurde in Ostafrika erst durch die britische Kolonialmacht eingeführt und durchgesetzt; noch bis 1969 waren homosexuelle Handlungen etwa in Deutschland strafbar. Seitdem haben sich die Werte in den westlichen Ländern entwickelt hin zur Moderne, und diese Werte dominieren auf UN-Ebene. Es geht also keineswegs um einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Traditionen, oder gar um Kolonialmächte gegen Afrikaner – sondern um unterschiedliche Entwicklungsstufen.

2020 gab es eine Kontroverse um Posts von Joanne K. Rowling. Sie hatte beklagt, dass man in der Transgender-Debatte nicht mehr einfach von „Frauen“ reden dürfe, und aus feministischer Sicht Befürchtungen geäußert, dass dadurch mühsam errungene Frauenrechte aufgeweicht werden könnten. Daraufhin wurde sie in den sozialen Medien scharf als TERF = „trans-excluding radical feminist“ angegriffen, bis hin zu Morddrohungen. Ausgerechnet Wladimir Putin griff ihren Fall 2022 auf als Beispiel dafür, wie die „Cancel Culture“ die abendländische Kultur zerstöre (wogegen sich Rowling scharf verwehrte). Hier zeigt sich, wie drei Wertesysteme eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Dinge haben.

Schließlich schwelt spätestens seit 2012 in Deutschland der Konflikt um die (nicht medizinisch begründete) Beschneidung von Jungen. Nachdem das Landgericht Köln eine Beschneidung als Körperverletzung gewertet hatte, legalisierte der Bundestag noch im gleichen Jahr die religiös motivierte Beschneidung im § 1631d BGB. Einige Mediziner und Betroffenenverbände laufen seitdem dagegen Sturm. Hier treffen das aus moderner Sicht fundamentale Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit und das prä-moderne religiös verpflichtende Gebot insbesondere der jüdischen und muslimischen Gemeinden aufeinander. So berechtigt der Schutz der Jungen auch erscheinen mag, er ist dagegen abzuwägen, dass eine strafrechtliche Sanktionierung der Beschneidung faktisch ein Verbot traditionellen jüdischen Lebens in Deutschland bedeuten würde.

 

Integrale Sicht

Ich denke, die Beispiele machen deutlich, dass es selten einfache Lösungen dieser Spannungen geben kann. Eine integrale Sichtweise begreift, dass es nicht ein zeitloses Bild von Männlichkeit, Weiblichkeit und dem Geschlechterverhältnis gibt, sondern dass diese Konzepte sich mit der Evolution der Entwicklungsstufen wandeln. Und die früheren Stufen sind nicht einfach passé, sondern leben in uns weiter – individuell wie gesellschaftlich. Es gilt, sie zu begreifen und mit ihren gesunden Anteilen zu integrieren. Es bleibt eine Herausforderung, prä-moderne Werte mit Respekt zu behandeln, ohne ihnen das Feld zu überlassen. Schließlich bin ich überzeugt, dass die radikal-queere Idee, die Zweigeschlechtlichkeit abzuschaffen, nicht das letzte Wort sein wird. Vielmehr geht es darum, lebendig mit der Polarität von männlich und weiblich zu spielen. 

 

Über den Autor

Tom Habib
Raymond Fismer ist Autor des Buches „Ein ganzer Mann. Entwicklung und Zukunft der Männlichkeit. Eine integrale Perspektive“ www.ein-ganzer-mann.de,

arbeitete 5 Jahre im Bundesforum Männer www.bundesforum-maenner.de,

und ist als Vorstand und in verschiedenen Rollen im Integralen Forum aktiv.

 

Bildnachweis Porträt Simone de Beauvoir: Von Moshe Milner - Crop of File:Flickr - Government Press Office (GPO) - Jean Paul Sartre and Simone De Beauvoir welcomed by Avraham Shlonsky and Leah Goldberg.jpg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39952804

 

 

 

 

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