Helmut Dörmann

Was sind die drei Gesichter Gottes?

In seinem Buch Integrale Spiritualität (2006) spricht Ken Wilber erstmals von Gott in der zweiten Person. Damit rückt er das zweite Gesicht Gottes neu in das Zentrum der Betrachtung.

Das erste Gesicht Gottes ist das große ICH BIN, der GEIST in uns, und kann als SEINSZUSTAND in uns erfahren werden.

Das zweite Gesicht Gottes ist das große DU, die strahlende lebendige Gottheit, der ich mich hingebe. Das zweite Gesicht ist auch die Hinwendung und Liebe zu dem Göttlichen im Menschen. Bedeutet: Nicht nur ich bin göttlichen Ursprungs, sondern auch der „Nächste“ ist göttlichen Ursprungs.

In der Einheitserfahrung spiegeln sich die drei Gesichter Gottes wider.

Das dritte Gesicht Gottes ist das große ES. Die große Vollkommenheit der Existenz. Das dritte Gesicht wird häufig als Naturmystik bezeichnet.

Im Christentum, aber auch in verschiedenen spirituellen Traditionen, finden wir die „Dreiheit“ oder „Trinität“ wieder:

Christus sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und Gott über alles.“ Der jüdischer Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) benennt drei Möglichkeiten, wie Gott erfahren und verstanden werden kann. Er spricht von „Naturhaftigkeit“, die sich in allem darstellt (drittes Gesicht), von „Personhaftigkeit“ (zweites Gesicht) und „Geisthaftigkeit“ als Ursprung von allem (erstes Gesicht).

Damit es keine Missverständnisse und Irritationen gibt, sei an dieser Stelle ganz deutlich gesagt: Die drei Gesichter sind nicht GEIST/Gott oder das Urlicht selbst, sondern die Fenster, die darauf hinweisen. Sie sind also Betrachtungsweisen (wie dieser Artikel) und gleichzeitig erfahrbare Zustände, die jeder von uns erreichen kann. Und die Kontemplation bzw. Meditation ist ein Weg, um Erfahrungen des ersten und zweiten Gesichtes zu machen und mündet in die Unio Mystica, die Einheitserfahrung mit Gott.

Erleben wir eine Einheitserfahrung, übersteigt diese natürlich das Bild (oder Gesicht) eines ersten, zweiten und dritten Gottes. Eine solche Erfahrung ist sowohl Kern (oder das Licht) als auch das Ganze und unbenennbar. Wie stehen nun die drei Gesichter Gottes im Bezug zur Einheitserfahrung? Ich möchte dies mit einer Gleichung erklären:

Erstes Gesicht + zweites Gesicht + drittes Gesicht = Einheitserfahrung.

In der Einheitserfahrung spiegeln sich letztlich die drei Gesichter wieder. Die Gleichung ist natürlich stark vereinfacht.

Eine Einheitserfahrung kann letztlich nicht mit dem Verstand erfasst werden. Und tut man es doch,so die Negativtheologie, ist man auf dem Holzweg. Menschen, die solch eine Erfahrung hatten, kommen nicht umhin, dieses Erleben für sich zu deuten. Man muss im ganz normalen Alltag damit leben und möchte verstehen, was nicht zu verstehen ist.
In der Einheitserfahrung spiegeln sich die drei Gesichter Gottes wider.

Lebendige Verbindung zum DU

Ich möchte mich in diesem Artikel auf das zweite Gesicht Gottes konzentrieren und an den Artikel von Tilmann Haberer „Gottesbilder im Wandel der Bewusstseinsentwicklung“ (Integrale Perspektiven 23) anknüpfen. Beim zweiten Gesicht Gottes geht es um eine gefühlte Hingabe und Verbindung zu dem, was in unserer westlichen Gesellschaft „Gott“ genannt wird. Der deutsche Mystiker Meister Eckhart spricht von Gott als die strahlende und lebendige Gottheit. Diese Gottheit in allen Wesen zu erkennen, zu lieben und zu verehren, scheint mir das Gebot unserer heutigen Zeit zu sein.

Martin Buber hat eine Du-Mystik (wie mein Freund Michael Habecker es nennt) entwickelt. 1923 erschien dazu sein Buch Ich und Du, das bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Buber drückt sich in der Beziehung zu Gott folgendermaßen aus:

„Der wirkliche Gott ist der anredbare, weil anredende Gott.“

Bezogen auf Gott im „Nächsten“ meint Buber:

„Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du ...“

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“

„… wechselseitiges Fluten von Ich und Du“

Lassen Sie uns hinschauen, wie wir zu Gott stehen. Wie wirken die Verse von Buber auf uns? Fühlen wir uns davon angezogen oder erzeugen sie Widerstand. Es geht mir dabei nicht um Moral oder Richtig und Falsch, sondern um eine kurze Wahrnehmung dessen, was ist. Ich möchte mit Ihnen über diese Zeilen in einen Dialog kommen und Sie einladen, die eigene Position kurz wahrzunehmen. Wenn Sie mögen, nehmen Sie die verschiedenen Stimmen in sich wahr, die sich hierzu äußern. Das kann eine spannende Angelegenheit werden.

Von Angesicht zu Angesicht – die Beziehung zu Gott ist eine Liebesbeziehung.

Machen wir uns bewusst: Auch wenn wir vielleicht nie darüber nachgedacht haben, unsere Beziehung zu Gott muss eine Liebesbeziehung sein. Gott ist schließlich Liebe. In Gott zu erwachen bedeutet: Mit Gott im Dialog zu sein. Von Angesicht zu Angesicht. Um es noch einmal zu sagen: Wir können mit dem Schöpfer im Hier und Jetzt kommunizieren. Wir sollten uns also für diesen GEIST der Liebe öffnen und uns ihm ganz und gar hinwenden. Denn wenn man sich dem zweiten Gesicht nicht öffnet, entsteht ein Vakuum, eine Leere, weil etwas ganz Wesentliches auf unserem spirituellen Weg einfach nicht vorhanden ist. Ich spreche von gefühlter Hingabe.

Angst vor der Hingabe

Viele spirituell Praktizierende beschäftigen sich überwiegendmit dem ersten Gesicht Gottes und tun sich mit dem zweiten Gesicht schwer. Obwohl gleichzeitig eine Sehnsucht in diese Richtung existiert. Das spiegeln viele Gespräche mit spirituell Praktizierenden wider. Häufig wird mit Gott einfach ein personaler Gott (Mann mit Bart) verbunden.

Dass dies für postmoderne Menschen nicht mehr verständlich und nicht akzeptierbar ist, liegt auf der Hand. Unglücklicherweise ist in unserer postmodernen Welt das zweite Gesicht Gottes – als ein „DU“ – auf der Entwicklungsstufe einer fundamentalistischmythischen Gruppenzugehörigkeit größtenteils stecken geblieben. Deshalb schrecken viele moderne Christen davor zurück, sich auf ein „neues“ Gottesbild (z. B. rationales, pluralistisches oder integrales Gottesbild) einzulassen. Gerade ein rationales Gottesbild macht regelrecht Angst. Denn damit scheinen wir Gott zu verlieren.

Die moderne Welt hat nicht nur die Grausamkeiten, die mit einem mythischen Gott in Verbindung stehen, verworfen. Die moderne Welt hat Gott als zweite Person (oder zweites Gesicht) insgesamt über Bord geworfen und so einkostbares Kind zusammen mit dem Bad ausgeschüttet – und damit auch ein Drittel von Gottes immer gegenwärtigem Gesicht verworfen. Um ganz offen zu sein: Auch ich tue mich mit dem zweiten Gesicht Gottes immer noch schwer. Auch ich habe Gott „verworfen“.

Ohne Demut vor dem DU verfallen wir allzu leicht in spirituelle Egozentrik und Arroganz.

Doch ich spüre sehr deutlich: Die Hinwendung zum zweiten Gesicht ist von absoluter Bedeutung. Denn ohne die die Seele reinigenden Eigenschaften wie extreme Demut, Gnade, Dankbarkeit und Liebe, welche eine Gottheit als zweites Gesicht uns schenkt, können sich die Launen des Egos in unsere spirituellen Erfahrungen einschleichen. Wir halten uns dann für etwas ganz Besonderes, weil wir ja so tolle Erfahrungen gemacht haben. Ohne Hingabe und Kapitulation unseres Egos entstehen spirituelle Egozentrik und Arroganz. Dann begegnen wir uns auf höheren Ebenen nur selbst – und halten das vermutlich für höchst spirituell.

Das zweite Gesicht Gottes wieder erfahren

Wie können wir uns nun dem zweiten Gesicht Gottes (wieder) nähern? Keine einfache Frage. Denn wir haben uns in unserem Verständnis von Gott in der ersten Person gut eingerichtet. Ich möchte einige kurze Anmerkungen geben, die zum Nachdenken und Tun anregen mögen.

VERSTAND: Ich halte eine intellektuelle Auseinandersetzung zu diesem Thema für absolut notwendig. Das kann jeder für sich tun und gleichzeitig auch mit anderen. Wir können in Integralen Salons, Meditationskreisen, Gemeinschaften oder Linien, zu denen wir gehören, dieses Thema ansprechen oder uns mit dem Lehrer darüber auseinandersetzen (wenn er es denn hören will).

SPIRITUELLE PRAXIS: Möglichkeiten der spirituellen Praxis sind alle Methoden der formlosen Meditation sowie das innere und gesprochene Gebet. In der christlichen Mystik gibt es ein wunderbares Mantra, das innerlich gesprochen wird: „Ich in dir und du in mir“. Wir können heilige Lieder singen oder chanten. Vielleicht haben wir keinen Bezug mehr dazu. Aber in allen spirituellen Traditionen gibt es Gebete und heilige Lieder. Nicht zu vergessen: die Praxis des Tonglen – eine Transformationsübung für die Nöte anderer.

SCHATTEN: Wie schon erwähnt, haben wir möglicherweise im Bezug auf das zweite Gesicht unsere Widerstände. Sich diese anzuschauen und damit in Kontakt zu gehen, scheint mir unabdingbar. Ohne ein Erkennen unserer Verdrängungsmuster werden wir kaum Hingabe entwickeln können.

HINGABE: Wir können uns üben in Niederwerfungen. Diese Praxis finden wir u.a. im Zen, im tibetischen Buddhismus und in der christlichen Mystik. Die Praxis besteht darin, sich Gott zuzuwenden, sich emotional für Gott zu öffnen, sich hinzugeben und die Abwehr des Verstandes gegen Gott aufzugeben.

LIEBE: Wir können uns auch üben im Zulassen von Liebe, Hingabe, Ehrfurcht, Demut und Gnade. Wir sollten uns nach besten Kräften bemühen, grenzenlos zu lieben. So, dass dieses liebende Gefühl – das wir manchmal empfinden – sich unendlich ausdehnt und alle leidenden Wesen liebend umschließt.

INTEGRALE LEBENSFEIER: Weiter möchte ich anregen, Gottesdienste aus einer integralen Weltsicht heraus zu gestalten. Es braucht nicht nur eine neue Kultur, um Menschen der heutigen postmodernen Zeit einzuladen, mitzunehmen und teilhaben zu lassen. Es braucht schlichtweg einen integralen Ansatz, um eine „Integrale Lebensfeier“ (statt/oder Gottesdienst) zu gestalten. Und dies können nur wir entwickeln. Wer soll es sonst tun? Man könnte auf den Jahrestagungen des Integralen Forums eine solche „Integrale Lebensfeier“ gemeinsam feiern.

Abschließend einige Worte von Ken Wilber:

Im Angesicht von GEIST im zweiten Gesicht, im Angesicht Gottes, der reine Liebe ist, kann ich nur eines tun: Um Gott in diesem Augenblick zu finden, muss ich lieben, bis es schmerzt; lieben bis in alle Ewigkeit, lieben, bis es mich irgendwo nicht mehr gibt; nur dieses leuchtende, lebendige DU, das allem Glanz verleiht,das Quelle allen Guten ist, allen Wissens, aller Gnade und mir meine eigene Manifestation, die anderen unweigerlich Leid zufügt, verzeiht, heilt und ganz macht …; aber nur wenn ich mich im innersten Kern meines Wesens hingeben kann, durch Liebe, Anbetung und Anteilnahme.

Verändern wir uns und die Welt im evolutionären Sinne!

Drei Gesichter Gottes - Lichtpraxis

Eine kurze Reflexion zum Wort „GOTT“:

Die Worte GOTT, GOTTHEIT oder das GÖTTLICHE können ersetzt werden durch das, was für die praktizierende Person für das Höchste steht, z. B.: GEIST, „BUDDHANATUR, CHRISTUSBEWUSSTSEIN, ALLAH, das EINE oder SEIN.

Vorbereitung

Wir nehmen zunächst eine bequeme Meditationshaltung ein. Wenn wir diese Übung ausführen, sitzen wir so bequem wie möglich. Als erstes bringen wir unseren Geist zur Ruhe. Wir tun das, indem wir unsere Gedanken, Bilder und Emotionen loslassen und uns auf unseren Atem sammeln. Wir versuchen uns dabei völlig zu entspannen.

Das zweite Gesicht Gottes (das große DU, die strahlende, lebendige Gottheit)

Wir rufen vor uns im Raum die Verkörperung Gottes in Form von strahlendem Licht an.

Wir können als Gestalt ein erleuchtetes Wesen oder einen Bodhisattva, zu dem wir eine enge Verbindung haben, nehmen.

Wenn wir praktizierender Christ sind, spüren wir von ganzem Herzen die lebendige Gegenwart von Christus oder eines lichtvollen Engelwesens.

Wenn wir uns von keiner bestimmten spirituellen Gestalt angezogen fühlen, stellen wir uns einfach reines und klares Licht – als Lichtpunkt – unmittelbar im Raum vor uns vor.

Das erste Gesicht Gottes (das Große ICH, das ICH BIN, der GEIST in uns)

Wir stellen uns nun vor, dass Lichtstrahlen – aus dem Herzen der Lichtgestalt (oder aus dem Lichtpunkt) kommend – sich über uns ergießen und uns ganz und gar umhüllen und reinigen.

Unser ganzer Körper ist nun von heilendem Licht erfüllt. Die bloße Berührung mit dem segensreichen Licht befriedet alle unsere Unruhe, Angst, Verwirrung und Qual und erfüllt uns mit Frieden, Kraft und Weisheit.

Nun stellen wir uns vor, wie unser Körper sich in Licht auflöst und mit diesem heilenden Licht verschmilzt...

Gleichzeitig ist uns bewusst, dass wir im tiefsten Inneren Licht sind. Es ist das Licht unserer inneren Gottheit.

Das dritte Gesicht Gottes (das große ES, die große Vollkommenheit der Existenz selbst)

Wir vergegenwärtigen uns, dass die Atmosphäre rings um uns herum in eine Welt aus Licht verwandelt worden ist und wir in höchsten Frieden und die reinste Freude eingetaucht sind.

Wir stellen uns vor, dass dieses Licht ausstrahlt in diesen Raum, diesen Ort, die Gegend hier, die Stadt, unser Land, die Erde, den Himmel, den Kosmos ...

Wir werden uns bewusst, dass alles Sichtbare und Wahrgenommene ein Ausdruck Gottes ist.

Wir spüren, wie das Licht Gottes ausstrahltin diese „geschaffene“ Welt.

Wir verweilen und entspannen uns in diesem Gefühl.

 

 

Helmut Dörmann, Jahrgang 1957, ist Gestalttherapeut und arbeitet als Koordinator für einen ambulanten Hospizdienst. Er ist spiritueller Lehrer für integrale Mystik im Würzburger Forum der Kontemplation.
In seinem Wirken kombiniert er die Tradition der Christlichen Mystik mit integraler Philosophie.
Er absolvierte ein dreijähriges Training in buddhistischer Psychologie. Seit einigen Jahren ist er von der Idee einer Integralen Lebenspraxis begeistert und gibt dazu Kurse und Seminare.

Quelle: IP 24 – 2/2013

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