Als entscheidungsfähige Wesen leben wir gemeinsam durch unsere Geschichten. Sie sind die Brille, durch die wir die Wirklichkeit betrachten. Sie formen sowohl was wir als Gesellschaft wertschätzen, als auch die Institutionen, durch die wir die Machtverhältnisse strukturieren.
Doch wenn wir eine schlechte Geschichte erzählen, dann steht uns eine schlechte Zukunft bevor.
Wir befinden uns in einer globalen Krise, weil die uns definierende Geschichte, die wir uns erzählen, destruktiver Natur ist. Verführt durch die fabrizierte Geschichte heiligen Geldes und heiliger Märkte leben wir im Abhängigkeitsverhältnis geldgieriger Unternehmen und behandeln die Erde, als sei sie ein toter und zum Verkauf stehender Felsbrocken.
Kommunikationstechnologien geben uns als Spezies aber die Möglichkeit, ganz bewusst eine gemeinsame Geschichte zu wählen. Jetzt haben wir die Möglichkeit, eine Zukunft zu erschaffen, die mit unserer wahren Natur und unseren Möglichkeiten als lebende Wesen, die auf der lebendigen Erde in einem lebendigen Kosmos geboren wurden, übereinstimmt.
Eine authentische Geschichte des heiligen Lebens und der lebendigen Erde zeichnet sich ab. Ihre Wurzeln liegen in der uralten menschlichen Weisheit. Wenn wir dies anerkennen, verändert sich alles.
Ändere die Geschichte, ändere die Zukunft!
1. UNSER GESCHICHTSPROBLEM
Ökonomen diskutieren darüber, wie man das wirtschaftliche Wachstum beschleunigen kann. Wissenschaftler beschäftigt die Frage, wie lange die menschliche Spezies einer Wirtschaft trotzen kann, die letztlich die Kapazität der Erde zerstört, das Leben zu unterstützen. Und soziale Aktivisten gehen der Frage nach, wie man die wachsende Kluft zwischen Verschwendung und Verzweiflung überwinden kann.
Währenddessen kämpfen Unternehmen um die monopolartige Kontrolle des informationellen Allgemeinguts und das, was von den Ressourcen an Frischwasser, Mineralien, fossilen Brennstoffen und fruchtbaren Böden noch übrig geblieben ist. Der steigende Bedarf der energieintensiven Wirtschaften nach fossilen Brennstoffen führt zu umweltbelastenden Fördermethoden wie Fracking, Tiefseebohrungen und Bergbau. Der Wettbewerb um Nahrung und Frischwasser im Angesicht des Bevölkerungswachstums verschärft sich; es gibt immer häufiger extreme Dürreperioden und Überschwemmungen. Die Umwandlung, Zerstörung von landwirtschaftlichen Flächen, deren Raubbau sowie die Verunreinigung von Frischwasserquellen nehmen zu.
Politiker, die von Geldspenden abhängig sind, um ihre Wahlfeldzüge zu finanzieren, fördern politische Strategien, die die Interessen des Geldes anstatt die des Lebens im Sinn haben. Die Ökonomen wiederum beruhigen das Gewissen jener Politiker durch das Argument, dass solche Strategien das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beschleunigen, denn dies verringere wiederum die Armut und stelle Geld für Technologien bereit, die uns von unserer direkten Abhängigkeit von der Natur befreien sollen.
Das Geld floriert. Das Leben verwelkt. Wir können Geld nicht essen, trinken oder atmen. Unabhängig davon, wie gut gefüllt unsere Bankkonten sind oder wie fortschrittlich unsere Technik ist, hängen wir doch von der Gesundheit der Erde ab, um Nahrung, Frischwasser, klare Luft und ein stabiles Klima zu erhalten.
In der verwirrten und verzweifelten Öffentlichkeit leugnen einige einfach diese Widersprüche. Andere suchen nach Wegen, finanziell von diesen Konsequenzen zu profitieren. Wieder andere hoffen auf eine Art göttlichen Eingreifens.
Die wirkliche Hoffnung aber liegt bei den Millionen von Menschen, die mutig daran arbeiten, unsere menschlichen Beziehungen zueinander und zur Natur ins rechte Lot zu bringen, um den Verlauf unserer menschlichen Geschichte zu verändern. Durch Wort und Tat arbeiten sie an einer neuen Geschichte, die neuen Sinn und Möglichkeiten schafft. Es ist an sich eine uralte Geschichte, die tief greifende Implikationen für unsere Wirtschaft hat.
DIE WESENTLICHE ROLLE EINER HEILIGEN GESCHICHTE
Viele Urvölker nutzen den Begriff des Heiligen, um das zu bezeichnen, was für das Wohlergehen der Gemeinschaft und seiner Mitglieder sowohl am wichtigsten als auch am unentbehrlichsten ist, und was deshalb besonderer Achtung und Fürsorge verdient. In genau diesem Sinne spreche ich hier von ‚heiligen‘ Geschichten.
Wir Menschen leben mit und durch Geschichten. Eine miteinander geteilte Geschichte ist die Basis, um als eine organisierte Gesellschaft zusammenleben zu können. Auch die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich als eine sichere und gedeihende Gemeinschaft zu organisieren, hängt von der Authentizität und Gültigkeit ihrer Geschichten ab. Authentische Geschichten sind für gewöhnlich das Resultat von geteilten Erfahrungen und nehmen durch einen unbewussten Prozess, der sich über Generationen erstrecken kann, Formen an.
Es gibt auch unauthentische heilige Geschichten, die von der herrschenden Klasse fabriziert werden, um den eigenen Interessen auf Kosten der Anderen zu dienen. Gegenwärtig organisieren wir uns heute als globale Gesellschaft durch so eine Geschichte, und dafür müssen wir die tragischen Konsequenzen tragen.
HEILIGES GELD UND HEILIGE MÄRKTE
Wenn ich abends das Essen zubereite, höre ich mir Marketplace an, eine Radiosendung, die sich hauptsächlich ums Geld dreht. Dort geht es darum, ob und warum das Bruttoinlandsprodukt ansteigt oder fällt und ob und warum die Hauptbörsenwerte fallen oder steigen.
Jeden Tag konzentrieren sich die wichtigen Nachrichtenmagazine, Zeitungen und Sendungen darauf, wie es in der Wirtschaft zugeht. Jede Erwähnung des Menschen oder der Natur findet tatsächlich nur im Kontext der Implikationen des Bruttoinlandsprodukts und des Aktienmarktes statt – finanzielle Indikatoren, die darüber Aufschluss geben, wie es dem Geld und den gut Betuchten geht. Wenn man diesem Programm folgt, möchte man annehmen, dass der Sinn der Menschen und der Natur darin liegt, dem Geld zu dienen.
Diese Nachrichten haben eine durchgängig einheitliche Struktur. Ich nenne es die Geschichte des heiligen Geldes und der heiligen Märkte. Sie lautet folgendermaßen:
Zeit ist Geld. Geld ist Wohlstand. Verbrauch und Konsum ist der Pfad zur Glückseligkeit. Geld verdienen erzeugt Wohlstand, steigert den Verbrauch und damit das Glück und ist der sinnstiftende Aspekt von Menschen, Unternehmen und der Wirtschaft.
Jene, die Geld verdienen, sind die Wohlstandserzeuger der Gesellschaft. Wohlhabend zu sein ist die gerechte Belohnung für den geleisteten Beitrag. Armut ist die Konsequenz von Faulheit.
Menschen sind ihrer Natur nach individualistische Konkurrenten. Dies ist ein Segen, denn befreit von störender Regulation führt die unsichtbare Hand des freien Marktes zu Entscheidungen, die das wirtschaftliche Wachstum und dadurch den Wohlstand und das Wohlergehen von Allen vergrößern.
So, wie eben auch das Einkommen einer Person das Maß ihres Wertes und ihres Beitrags zur Gesellschaft darstellt, ist der Gewinn eines Unternehmens ein Maß seines Wertes und seines Beitrages. Als Rechtsträger, welches Talente und Interesse bündelt, um seine wirtschaftliche Effizienz zu steigern, ist das Unternehmen angemessenerweise als eine juristische Person zu bezeichnen und hat dieselben Rechte wie jede andere Person.
So wie Unternehmen Wohlstand erzeugen, verbrauchen die Regierungen ihn. Die Funktion der Regierung sollte dahin gehend begrenzt werden, sich um die Landesverteidigung zu kümmern, Rechtssansprüche geltend zu machen und Verträge durchzusetzen.
Wirtschaftliches Ungleichgewicht und Umweltschäden sind ein bedauernswertes und doch notwendiges und unvermeidbares Resultat davon, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Das Wachstum des BIP verringert die Armut, regt technische Innovationen an und führt zu allgemeinem und beständigem Wohlstand für alle. Es gibt keine wirkliche Alternative zu einer gewinnorientierten freien Marktwirtschaft.
Wirtschaftswissenschaftler der renommiertesten Universitäten lehren diese Geschichte als gesicherte Erkenntnis. Die durch Unternehmen gesteuerten Medien wiederholen sie immer und immer wieder. Nach und nach wurde gesellschaftlich aus dem Geld ein Gegenstand der Verehrung. Geld zu verdienen ist heute unser Lebenssinn, Shopping eine Bürgerpflicht, Märkte sind unser moralischer Kompass, Finanzinstitute unsere Tempel und Ökonomen die Priester, die Absolution für unsere persönlichen und kollektiven Sünden dem Leben gegenüber erteilen. Papst Franziskus nannte es zurecht einen Götzendienst.
Aufmerksame Leser werden bemerkt haben – oder zumindest vermuten – dass letztlich jede einzelne Behauptung dieser Geschichte falsch oder zumindest irreleitend ist. Die Geschichte basiert auf einer schlechten Moral, einer fehlerhaften Wissenschaft und einem schlechten Wirtschaftsverständnis. Wir alle können mittlerweile die Umweltzerstörung, die wirtschaftliche Verzweiflung, die soziale Ausgrenzung und die moralische und politische Korruption beobachten, die diese unheilvolle und mangelhafte Geschichte erzeugt hat.
Profit selbst ist nicht das Problem. Ein bestimmter Gewinn ist wichtig für die Gesundheit und das Überleben jedes privaten Unternehmens. Die Wirtschaft aber dafür auszurichten, den Gewinn der finanziellen Oligarchie zu maximieren, ist hingegen ein Rezept für ein wirtschaftliches, soziales und umweltbedingtes Desaster.
WENN GELDGIERIGE AUTOMATEN DIE WELT REGIEREN
Ein häufig genutzter Science-Fiction-Plot dreht sich um Roboter, die durch einen inneren Defekt zu einer Bedrohung für ihre menschlichen Herren werden. Unglücklicherweise ist das nicht nur eine erfundene Geschichte. Es ist die Realität.
In der US-Präsidentschaftswahl 2012 verkündete der republikanische Kandidat Mitt Romney, dass Unternehmen als Personen gelten. Offenbar kannte er nicht die Unterscheidung zwischen einem Unternehmen als einer sich selbst-regulierenden juristischen Einheit und den lebendigen Menschen, die es beschäftigt. Die Unfähigkeit des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, diese Unterscheidung anzuerkennen, gibt dem Ausdruck ‚Die Justiz ist blind‘ eine ganz neue Bedeutung.
Menschen sind lebendige Wesen. Wir haben Körper. Wir essen, atmen, lieben und pflanzen uns fort. Wir leben in einer Gemeinschaft, verhalten uns moralisch und empfindsam anderen gegenüber. Wir müssen die Verantwortung für unsere Verbrechen tragen. Wir sterben.
Ein Unternehmen hat keinen physischen Körper, kein Gewissen oder moralische Sensibilität. Es braucht keine Luft, Wasser oder Nahrung. Es liebt nicht, pflanzt sich nicht sexuell fort, und es hat keine natürliche Lebenszeit. Es fürchtet nicht, für Verbrechen bestraft zu werden oder eingesperrt zu werden.
Die einzige Sache, die ein Unternehmen mit einem lebenden Wesen gemein hat, ist die rechtliche Auffassung, die ihm zum Teil die gleichen Rechte gewährt, die auch auf natürliche Personen zutreffen – ohne aber die dazugehörenden Verantwortlichkeiten übernehmen zu müssen.
Börsenunternehmen sind rechtlich geschützte Unternehmenszusammenschlüsse. Sie kümmern sich nicht um die Kollateralschäden, die dem Leben wiederfahren. Die Menschen, die sie beschäftigen (Geschäftsführer eingeschlossen), sind bezahlte Beschäftigte, von denen erwartet wird, dass sie ihre persönlichen Werte an der Eingangstür zurücklassen.
Die wesentliche Verantwortlichkeit des Unternehmens besteht nur in Bezug auf die globalen finanziellen Märkte, die von Hochgeschwindigkeitshandel angetrieben werden (der seinerseits von Hochleistungscomputern durchgeführt wird), um mit den finanziellen Märkten auf eine Weise zu spielen, die kein Mensch vollkommen verstehen kann. Die finanziellen Institutionen (die Unternehmen), die diese Computer besitzen und programmieren, sind die perfekten, nach Geld strebenden corporate robots.1 Es gibt jedoch mittlerweile gut dokumentierte Fälle von Täuschung und Kriminalität in Bezug auf dieses Streben nach unverdienten Gewinnen. Diese Institutionen bevorzugen finanzielle Spekulation gegenüber tatsächlichen Investitionen, ermutigen und belohnen Betrug, treiben die sich immer wiederholenden Kreisläufe von Aufschwung und Pleiten voran, bringen sowohl Menschen als auch Regierungen in Schuldverhältnisse, die sie nicht zurückzahlen können, und halten die nationalen Regierungen als Geisel der Interessen der globalen Kapitalgeber.
Wenn diese Unternehmen tatsächlich Personen wären, dann säße ein Großteil der global agierenden Banker längst im Gefängnis.
Die tatsächlichen Besitzer der Unternehmen haben nur selten einen direkten Einfluss auf die Geschäfte der Unternehmen, die sie ‚besitzen‘. Was auch immer ihre Beteiligung ist, so sind sie als Eigentümer explizit von den Strafen für die Vergehen ausgeschlossen, die ihre Unternehmen begehen.
Mit diesem System floriert die Geldwirtschaft. Die corporate robots nutzen ihre Profite, um sich noch mehr Rechte an dem Reichtum der Erde zu sichern. Nur ein paar wenige unter den Privilegierten, die den Automaten dienen, erfreuen sich verschwenderischer Belohnungen. Jene, die sich nicht im inneren Zirkel der Begünstigten befinden, kämpfen darum, ihren Job nicht zu verlieren. Ihnen wird eine angemessene Entlohnung versagt, und ihre Schulden nehmen zu. Der Wettkampf über das, was von dem natürlichen Vermögen übrig bleibt, wird größer.
Die Wirtschaftswissenschaftler zeigen auf das wachsende BIP und die Finanzanlagen und behaupten, dass die Gesellschaft an sich reicher wird. Sie bemerken nicht, dass sich der lebendige Reichtum der Erde – das wahre Vermögen, auf dem das Leben basiert – zusehends verringert.
In den vergangenen Jahrzehnten haben die corporat robots und ihre außerordentlich gut bezahlten Günstlinge ihre Kontrolle über die Medien, Bildung und Politik ausgeweitet, um eine gemeinsame öffentliche Geschichte zu erzeugen. Eingeschläfert durch die steten Behauptungen, dass Geld und Shopping die Schlüssel für unsere Gesundheit und zu unserem Glück sind, haben wir uns der Herrschaft der Unternehmen gebeugt. Solange wir es den geldgierigen corporate robots ermöglichen, unsere gemeinsame Geschichte und unsere wirtschaftlichen Prioritäten zu formen, solange bestimmen sie auch unsere gemeinsame Zukunft.2
GLOBALES ERWACHEN
Die Kluft zwischen der Geschichte der Geldwirtschaft und der wirtschaftlichen Realität von Mensch und Natur ist mittlerweile so groß und offensichtlich geworden, dass die Geschichte des heiligen Geldes und heiliger Märkte langsam ihren Zugriff auf die öffentliche Meinung verliert. Die Menschen realisieren zunehmend, dass sie als lebendige Wesen auf einer lebendigen Erde in einem lebendigen Universum geboren wurden. Es ist leicht zu erkennen, dass die Geldwirtschaft ein durch Computer gesteuertes Zahlenspiel ist, welchen von eigenständigen corporat robots gespielt wird, und für die das Leben nichts mehr als eine Handelsware ist. Dieses Spiel wäre an sich irrelevant, wenn damit nicht eine Steigerung von nichtverdienten finanziellen Vermögenswerten, und dadurch eine reelle wirtschaftliche und politische Macht der gewinnenden Automaten, einhergehen würde.
Wir zerstören die Kapazität der Erde, menschliches Leben zu unterstützen. Das Wachstum der menschlichen Bevölkerung und der individuelle Verbrauch verstärkt die Konkurrenz um das, was vom tatsächlichen Reichtum der Erde übrig geblieben ist. Die Unternehmen mit überschüssigen finanziellen Mitteln kaufen das verbleibende Vermögen der Erde auf, um Profite von den Menschen zu erwirtschaften, deren Leben von eben diesem Vermögen abhängen. Je größer die finanziellen Einkünfte der corporate robots und der wenigen, die sie begünstigen, sind umso größer wird auch die Fähigkeit, ihre monopolartige Kontrolle auszudehnen, um mehr Profite zu machen und ihre wirtschaftliche und politische Macht zu vergrößern. Doch die Erde stirbt. Das menschliche Leid nimmt zu. Öffentliche und private Institutionen verlieren ihre Glaubwürdigkeit, das soziale Geflecht zerfranst und das globale System wird zusehends instabil.
Für viele von uns sind diese Entwicklungen keine Überraschung. Der immer schneller werdende Systemkollaps spielt sich genau so ab, wie sie von den Computermodellen in The Limits to Growth3 vorhergesagt wurden, jener kontroversen Studie des MIT Systems Dynamics Lab von 1972 als Bericht des Club of Rome. Die Zukunft ist hier.
Durch die Geschichte des heiligen Geldes und heiliger Märkte gesteuert haben wir eine globale Geldwirtschaft erzeugt, deren Sinn es ist, Geld ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für das Leben zu erwirtschaften. Wenn unser Ziel darin besteht, ein kurzfristiges Wachstum des finanziellen Vermögens einer kleinen finanziellen Oligarchie zu ermöglichen, dann ist das System ein überragender Erfolg.
Die meisten Versuche, den weiteren Kollaps zu verhindern, konzentrieren sich darauf, die Symptome mit geringfügigen Veränderungen zu behandeln: neue Verordnungen, neue Steuern und neue Subventionen. Solche Anpassungen wären nützlich, würden wir es mit einem kaputten System zu tun haben. Wenn wir es aber mit einem selbstzerstörerischen System zu tun haben, welches durch eine falsche Geschichte gespeist wird, so besteht die einzige Lösung in einem grundsätzlich anderen System, welches in einer anderen Geschichte wurzelt.
Glücklicherweise sind die Elemente einer neuen Geschichte am Horizont erkennbar. Der Wandel ähnelt einer Transformation von einer Raupe zum Schmetterling. Umso schneller und deutlicher wir diese neue Geschichte unterstützen, umso schneller werden wir auch unseren Weg zu einer gerechten und tragfähigen menschlichen Zukunft finden.
DAS HEILIGE LEBEN UND DIE LEBENDIGE ERDE
Hier sind einige der definierenden Aspekte der neu entstehenden Geschichte. Ich nenne es die Geschichte vom heiligen Leben und der lebendigen Erde:
Wir Menschen sind lebendige Wesen, die auf einer lebendigen Erde geboren und aufgezogen werden. Wahrer Reichtum ist lebendiger Reichtum. Zeit ist Leben. Geld ist nur eine Zahl, die als ein Tauschmedium in gut regulierten Märkten nützlich ist.
Leben besteht nur in der Gemeinschaft. Wir Menschen sind Geschöpfe, die über ein Gewissen verfügen und die nur als Mitglieder einer Gemeinschaft überleben und gedeihen können. Die Hauptaufgabe jeder lebendigen Gemeinschaft besteht darin, die Bedingungen zu bewahren, die für das Leben seiner Mitglieder essenziell sind. Uns geht es am besten, wenn wir in einer Welt leben, die für alle funktioniert.
Eine Verbindung zur Natur und Gemeinschaft ist für unsere körperliche und geistige Gesundheit und unser Wohlergehen notwendig. Es liegt in unserer Natur, uns um das Wohl von Allen zu kümmern und zu sorgen. Individualistische Gewalt, Gier und skrupellose Konkurrenz sind Anzeichen von individuellen und sozialen Störungen. Umweltschäden und extreme soziale Ungleichheiten sind Anzeichen von einem schweren Systemfehler.
Der Sinn von menschlichen Institutionen – sei es in der Wirtschaft, Politik oder auch in der Gesellschaft – liegt darin, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ein gesundes und sinnvolles Leben in einer ausgeglichenen und koproduktiven Beziehung mit der Weltbevölkerung zu führen. Institutionen, die so aufgebaut sind, dass sie ihre Entscheidungsgewalt auf das Streben nach rein finanziellen Erfolgen bündeln und die von dem menschlichen Gewissen losgelöst sind – wie im Falle der meisten öffentlich gehandelten Unternehmen – haben keinen Platz in einer gesunden Gesellschaft.
Menschliche Institutionen sind menschliche Schöpfungen. Und das, was wir Menschen erschaffen, können wir auch verändern.
Umweltverträglichkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine lebendige Demokratie sind untrennbar miteinander verbunden. Sie gehören zusammen.
Wie wir auf den kommenden Seiten ausführlicher sehen werden, bezieht diese Geschichte ihre Kraft aus dem Umfang des menschlichen Wissens; sie würdigt unsere wechselseitige Beziehung zueinander und unsere Beziehung zur Natur; sie erkennt die Verantwortlichkeit an, die mit unserem Dasein und unserer Existenz einhergeht, einschließlich die Ausübung unserer freien Entscheidungen; sie gibt unserem Leben Sinn und ebnet unseren Weg zu einer gerechten, tragfähigen und demokratischen menschlichen Zukunft. Und sie ermöglicht eine Vision für eine lebendige Ökonomie, die:
- eine koproduktive Balance zwischen den Menschen und der Natur aufrechterhält
- eine gesunde und sinnvolle Lebensgrundlage für alle ermöglicht, basierend auf einer gerechten Verteilung von wirklichem Reichtum
- jeder Person eine Stimme in Bezug auf Entscheidungen verleiht, auf denen ihr Wohlergehen und das Wohlergehen des Ganzen basieren.
Ich glaube, dass sich die wichtigen Elemente dieser Geschichte in jedem menschlichen Herz finden lassen. Unausgesprochen hat sie aber keine öffentliche Wirkung. Um uns zu einer tragfähigen und gedeihenden menschlichen Zukunft zu führen, muss es unsere gemeinsame Geschichte werden. Wir haben genau jetzt die Möglichkeit, dies zu tun.
DER MOMENT DER HOFFNUNG UND DER MÖGLICHKEIT
Die institutionellen Strukturen der Unternehmensoligarchie waren noch niemals stärker als jetzt. Und doch waren sie in vielerlei Hinsicht auch nie gefährdeter.4 Die Grundlage für ihre Macht zersetzt sich zusehends in dem Maße, wie die verführerischen Versprechen der Geschichte des heiligen Geldes ihre Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft verlieren.
Obwohl es bei all den täglichen Nachrichten über Gewalt, Umweltkatastrophen und politischen Stillstand kaum wahrnehmbar ist, und es auch von den von Unternehmen gesteuerten Medien nicht erwähnt wird, taucht eine neue Geschichte in den Worten und Taten der Millionen von Menschen auf, die damit beschäftigt sind, eine neue Lebensweise umzusetzen.
Eine einfache Lebensführung, kleine Häuser, Gemeinschaftsgärten und kommunale Landwirtschaft erfreuen sich steigernder Beliebtheit. Die Living Building Challenge, welches die Speerspitze der ‚grüne Gebäude‘-Bewegung darstellt, verschiebt den Fokus des Bauens dahin gehend, uns miteinander und mit der Natur zu verbinden, anstatt uns abzugrenzen. Die New Economy-Bewegung, die sich dem Neu-Aufbau von lokalen Gemeinschaften auf den Prinzipien lebender Systeme widmet und einer Wirtschaft, die für alle gut ist und im Einklang mit der Natur steht, erfährt immer mehr Unterstützung, auch durch die Gemeindeverwaltungen.
Wissenschaftler wissen mittlerweile, dass Tiere über eine Form von Bewusstsein verfügen und Gefühle erfahren können.5 Kampagnen gegen Massentierhaltung gewinnen an Momentum. Regionale Initiativen arbeiten an der Rückgewinnung der Natur.
Trotz massiven Widerstands durch die machtvollen Unternehmen ist die Umweltbewegung gut aufgestellt. Es gibt eine breite öffentliche Unterstützung für Regierungspläne, um die natürlichen Systeme zu beschützen. Ernsthafte Kampagnen, den Unternehmen einerseits das Recht als Personenschaft zu entziehen und andererseits per Gesetz die Rechte der Natur zu verankern, gewinnen an Kraft.
Der US-Kongress begründete 1902 das Büro für Landgewinnung, um große Staudämme zu bauen und um damit die Natur unserem Willen entsprechend zu unterwerfen. Der Name des Büros legt absurderweise nahe, Land zurückzugewinnen, was uns mal genommen wurde. Mittlerweile entfernt das Büro für Landgewinnung nun die Dämme, um die Flüsse wieder herzustellen.
In den Jahrzehnten, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, wurden die Unternehmen von einer privilegierten weißen Mittelklasse, die ihren Wohlstand durch die allgemeine Wirtschaftslage begründete, mit einer breiten politischen Basis unterstützt. Die Institutionen der Geldwirtschaft, die mittlerweile systematisch die weiße Mittelklasse erodieren, erodieren nun auch ihre politische Basis und ermöglichen eine Bürgerbewegung, die die Ausgeschlossenen wieder integriert.
Fünftausend Jahre lang konnten die herrschenden Klassen ihre Macht dadurch aufrechterhalten, indem sie die andere aufgrund ihrer Rassen-, Geschlechts-, Religions-, Sprach- und Ethnizitätszugehörigkeit ausgrenzten. Doch dies ändert sich. Das Bildungswesen ermöglicht, dass jeder Lesen und Schreiben lernen und sein Wissen erweitern kann. Kommunikationstechnologien ermöglichen heute Verbindungen zwischen Graswurzelbewegungen. Und ein interkultureller Austausch ermöglicht eine Wertschätzung für die Vielfalt kultureller Traditionen.
Zieht man die lange Geschichte der Rassen- und Geschlechterdiskiminierung in Betracht, so ist der Wandel in der Haltung und der Gesetze in Bezug auf Rassen und Geschlecht im Verlaufe der letzten sechzig Jahre ziemlich dramatisch. Trotz der starken und giftigen Untertöne einiger amerikanischer Politiker wurde ein Afroamerikaner, der noch in meiner Jugend im Süden des Landes im hinteren Teil des Busses Platz nehmen musste, nun Präsident. Die Gesellschaft betrachtet mittlerweile Eingeborene, die einst als Wilde betitelt wurden, als eine Quelle der Weisheit und Einsicht dafür, wie wir alle eigentlich leben sollten.
Erniedrigende Rassen- und Geschlechterstereotypen, die noch vor sechzig Jahren weitestgehend als unveränderliche Wahrheit akzeptiert wurden, existieren zwar immer noch, doch ihre öffentliche Kundgebung führt zu unmittelbarer Ablehnung und sozialer Sanktion.
Das menschliche Bewusstsein verändert sich grundlegend. Die Elemente einer neuen Geschichte setzen sich durch. Und doch muss sie noch eine kohärente, einheitliche Form annehmen.
CHANGE THE STORY, CHANGE THE FURURE
Wir können uns als eine Gesellschaft ohne eine miteinander geteilte Geschichte nicht kohärent verhalten. Sie definiert unsere geteilten Werte und Prioritäten, die Fragen, die wir stellen und die Optionen, die wir erwägen. Sie formt unsere politischen Debatten, unsere Institutionen und unsere Interpretationen gegenwärtiger Ereignisse. Aus diesem Grund – und unabhängig davon, wie diskreditiert eine etablierte Geschichte ist – halten wir an ihr fest, bis sie von einer überzeugenderen Geschichte ersetzt wird.
Die Unternehmen wiederholen und bestätigen kontinuierlich die Geschichte heiligen Geldes und heiliger Märkte. Sie nutzen sie als Rahmen, um Nachrichten und politische Debatten zu erzählen. Sie ist die Basis für ihre rechtlichen Argumente. Sie lehren sie in den Schulen und Universitäten. Solange wir an ihr festhalten, solange definiert sie unsere Zukunft.
Jene von uns, die für Gerechtigkeit, Tragfähigkeit, Frieden und eine demokratische Regierung kämpfen, organisieren sich um ganz individuelle Themen, die durch die Identitätspolitik definiert werden. Wenn wir dies tun, bestärken wir jedoch die vorherrschende Geschichte und spielen der politischen Elite mit ihrer Strategie des ‚Teile-und-herrsche‘ direkt in die Hand.
Wenn wir darüber hinaus unsere Argumente innerhalb einer größeren Rahmenerzählung darlegen, so geschieht dies meist im Kontext der Geschichte des heiligen Geldes. Daher tun wir mehr als nur jener Geschichte zuzustimmen, die die Institutionen legitimiert, die für wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische Fehler verantwortlich sind. Wir bestärken sie. Wir mögen gelegentlich kleine Siege erringen, aber wir verlieren unsere Zukunft an das Geld.
Um unsere Zukunft sicherstellen, müssen wir uns um eine überzeugende und vereinheitlichende Gegengeschichte kümmern. Wir müssen die Geschichte des heiligen Lebens und der lebendigen Erde zum Brennpunkt unserer Gespräche in unseren Wohnzimmern, Schulen, Kirchen und öffentlichen Zentren machen. Wir müssen diese Geschichte zum Kontext all unserer Social-Media-Aktivitäten, Gemeinschaftsinitiativen und politischen Pläne machen. Wir müssen sie in die Lehrpläne der Universitäten bringen. Wir müssen sie nutzen, wenn wir die Indikatoren auswählen, nach denen wir die Wirtschaft bewerten wollen. Wir müssen uns dazu anhalten, die fabrizierte Geschichte des heiligen Geldes zu erkennen und herauszufordern, wo immer wir auf sie treffen – in Wirtschaftsnachrichten, im Bildungswesen, in politischen Debatten und in Gesprächen mit Kollegen. Bringe die Gewinner des Geldes dazu, ihre Argumente im Kontext der Geschichte des heiligen Lebens darzulegen.
Auf den folgenden Seiten werden wir die vielen Dimensionen der Herausforderung untersuchen, was es bedeutet, die Welt, die sich die Geschichte des heiligen Gelds dreht, dahin gehend zu verändern, dass sie auf den Säulen der Geschichte des heiligen Lebens stehen kann. Wenden wir uns zunächst also den Kosmologien zu, die unsere tiefsten Glaubenssätze über das Wesen der Realität sowie über unseren menschlichen Ursprung, unser Wesen und Lebenssinn definieren.
Fußnoten
- ‚Corporate robots‘ im Original. Dieser häufig in diesem Buch auftauchende, absichtlich vage Kunstbegriff, der u.a. ein letztlich automatisches System bezeichnet, dass eine gewisse Autonomie erlangt hat, wird nach Absprache mit dem Autor weitestgehend im Original belassen. (Anm. d. Ü.)
- Dieser Prozess ist kein Unfall. In The Crash of 2016 (New York, Twelve, 2013) beschreibt Thom Hartman die Geschichte des Versuchs der reichen Oligarchen, aus den Vereinigten Staaten eine Oligarchie zu machen, und untersucht dabei besonders die letzten drei Jahrzehnte.
- Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers, und William W. Behrens III, The Limits to Growth: A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind (New York: Universe Books), 1972.
- Für einen Überblick der Anfälligkeit des existierenden Systems siehe Nafeez Ahmen, ‚The Open Source Revolution Is Coming and It Will Conquer the 1%— ex CIA Spy‘, Earth Insight (blog), in The Guardian, 19. Juni, 2014, http://www.theguardian.com/environment/earth-insight/2014/jun/19/open-source-revolution-conquer-one-percent-cia-spy.
-
Philip Low, ‚The Cambridge Declaration on Consciousness‘, Jaak Pansksepp, 2012, http://fcmconference.org/img/CambridgeDeclarationOnConsciousness.pdf.
Podcast von Tom Amarque mit David C. Korten
David C. Korten ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ökonomie, ist Club-of-Rome Mitglied, Besteller-Autor und erfüllt im Wesentlichen alle Kriterien dafür, als 'weise' zu gelten. Im Podcast sprechen Tom Amarque und David Corten über sein neues Buch, über Kosmologien und Geschichten sowie über mögliche Zukünfte.
Über den Autor
David C. Korten ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ökonomie, ist Club-of-Rome Mitglied, Besteller-Autor und erfüllt im Wesentlichen alle Kriterien dafür, als 'weise' zu gelten. Ich bin ganz froh, dass er sich die Zeit genommen hat, mit mir über sein neues Buch, über Kosmologien und Geschichten sowie über unseren möglichen Zukünfte zu sprechen.
David C. Korten
Change the Story, Change the Future: A Living Economy for a Living Earth
Taschenbuch: 200 Seiten
Berrett-Koehler Publishers (2. Februar 2015)
Sprache: Englisch
ISBN-10: 1626562903