Ken Wilber

Die erste Manifestation ist sowohl unendliche Freude und unendlicher Schmerz, beides geht zusammen. Man kann nicht das eine ohne das andere haben. Hat man nur Leere und unendliche Freude, dann verpasst man die Hälfte von dem, was Gott tut. Beides gehört dazu – kannst du den unendlichen Schmerz fühlen? Irgendjemand fühlt ihn ja – die höchste erste Person fühlt ihn, und diese Perspektive der ersten Person ist ein Teil des Yogas der ursprünglichen Perspektiven, bei dem man in diesen unendlichen, unendlichen Schmerz hineinfühlt.

Ken Wilber

Incline Village ist eine Kleinstadt von vielleicht siebentausend Einwohnern, am Nordostufer des Lake Tahoe gelegen ... 1985 wehte eine bizarre Krankheit in dieses Nest und infizierte zweihundert Menschen; die Krankheit – sie hatte etwas von einer milde verlaufenden Form der multiplen Sklerose – machte die Befallenen weitgehend kampfunfähig. Die Hauptsymptome waren: schwaches Dauerfieber, sporadische Muskeldysfunktionen, Nachtschweiß, schmerzhaft geschwollene Lymphdrüsen und schwere Erschöpfungszustände. Über dreißig der zweihundert Opfer mussten stationär versorgt werden, weil sie buchstäblich nicht mehr stehen konnten. Computertomografien zeigten zahlreiche kleine Gehirnläsionen, ähnlich wie bei MS. Besonders merkwürdig an dieser Krankheit war, dass sie offenbar nicht von Mensch zu Mensch übertragen wurde: Erkrankte Männer gaben sie nicht an ihre Frauen weiter, Frauen nicht an die Kinder. Niemand wusste, wie sie übertragen wurde, und schließlich einigten sich die Fachleute auf irgendein Umweltgift oder sonstige Umweltfaktoren. Aber was auch immer da plötzlich in den Ort geweht worden war, ein Jahr später war es ebenso plötzlich wieder verschwunden. Seit 1985 wurde in der Gegend kein einziger neuer Fall mehr bekannt. Treya und ich zogen 1985 nach Incline Village. Ich war einer von den zweihundert Glücklichen. Ein Drittel der Befallenen schlug sich etwas sechs Monate damit herum, ein weiteres Drittel zwei bis drei Jahre; das letzte Drittel hat die Krankheit bis heute (und viele von ihnen befinden sich nach wie vor in Krankenhäusern). Ich war im mittleren Drittel, mir standen also zwei bis drei Jahre bevor. Ich hatte Muskelkrämpfe, ein manchmal fast schon konvulsivisches Zittern, chronisches Fieber, geschwollene Drüsen, war nachts schweißgebadet und obendrein über alle Maßen erledigt. Wenn ich aufgestanden war und mir die Zähne geputzt hatte, fühlte ich mich schon wie nach einem Tag schwerer Arbeit. Die Treppe kam ich nur mit häufigen Pausen hinauf ...“

aus: Mut und Gnade, 1991

  

Was ich habe nennt man RNase [Ribonuclease] Enzym-Mangelerkrankung. Man nimmt an, dass diese Krankheit ganz oder teilweise verantwortlich ist für eine ganze Reihe von Erkrankungen wie multiple Sklerose, myalgische Encephalomyelitis, ALS [amyotrophic lateral sclerosis], entzündliche rheumatische Arthritis, Golfkrieg-Syndrom und Fibromyalgie, um nur ein paar zu nennen ...
Eigenartigerweise schreibt mein Geist [mind] dabei weiterhin Bücher. Auch während dieser letzten wirklich schwierigen Phase (im Verlauf der letzten sechs Monate) gelang es mir, etwa 800 ziemlich gute Seiten zu produzieren, oft im Bett geschrieben, aber was macht das schon? …

Verbringe ich viel Zeit damit, mir über die „Lektion“ Gedanken zu machen, die ich mir durch diese Erkrankung selbst erteilt habe? Treya und ich haben fünf Jahre damit verbracht Leuten zuzuhören, die ihr erklärten, weshalb sie Krebs bekommen hatte. Sie sagten ihr, was sie spirituell falsch gemacht hätte. Das Problem dabei war, dass sie alle unterschiedlicher Meinung waren, außer in ihrer arroganten Anmaßung genau zu wissen, was Treya wirklich bewegte. Sie projizierten ihre eigenen tiefsitzenden Ängste auf Treya und schrieben sie ihr zu, als Ursache für ihren Krebs. Natürlich gibt es spirituelle, mentale und emotionale Faktoren bei jeder Erkrankung. Wenn du wissen möchtest, welche meine sind, dann frage mich bitte, anstatt es mir zu sagen.
Ich danke euch allen für eure freundlichen Wünsche, Gebete, das Geben und Nehmen und die anteilnehmende Zuwendung. Ehrlich: Wenn ich als Ich-Ich ruhe, dann bin ich frei und erfüllt, das kann ich euch versprechen. Das physische, körperliche Leben ist nicht so toll, da gibt es nichts zu beschönigen und manchmal ist es mehr, als ich meine ertragen zu können.
Noch einmal vielen Dank für eure Liebe und Besorgnis. Ich fühle euch wirklich bei mir und mit mir.

aus: RNase Enzyme Deficiency Disease, Wilber’s statement about his health Oktober 2002