Michael Habecker
Es war immer das größte Ideal des Verstandes, aus den dunklen und wechselhaften Privatüberzeugungen in die Wahrheit zu entkommen, die für alle denkenden Wesen objektiv gültig ist.
William James
Die drei Augen der Erkenntnis
Der Frage: „Woher wissen wir was wir wissen?“ ist Ken Wilber schon früh in seinem Werk nachgegangen. So unterscheidet er in dem 1983 veröffentlichten Buch „Die Drei Augen der Erkenntnis" drei Stränge der Erkenntnisgewinnung:
Der heilige Bonaventura lehrte, daß der Mensch mindestens über drei Weisen, Erkenntnis zu erlangen, verfügt – „Drei Augen“, wie er sie nannte: das Auge des Fleisches, mit dem wir die äußere Welt des Raumes, der Zeit und der Dinge wahrnehmen; das Auge der Vernunft, das uns Zugang zur Philosophie, zur Logik und zum Geist selbst verschafft; und das Auge der Kontemplation, das uns zur Erkenntnis transzendenter Wirklichkeit erhebt.
Damit stellt sich die Frage des Beweises oder der Beweisführung vor allem für die inneren Erkenntnis“gegenstände“, die ja nicht einfach in der äußeren Welt empirisch[1] zu sehen sind, sondern nur innerlich wahrgenommen werden können. Dazu Wilber in „Die drei Augen der Erkenntnis”:
Wie lassen sich die „höheren“ Formen der Erkenntnis beweisen? Wenn es keine empirischen Beweise für sie gibt, was bleibt dann noch? Wir scheinen hier vor einem Problem zu stehen, weil wir nicht wissen, daß alle Erkenntnis wesentlich strukturverwandt ist und daher auf ähnliche Weise bestätigt oder widerlegt werden kann. Jede stichhaltige Erkenntnis – gleich in welchem Bereich – besteht aus drei Grundkomponenten, die wir Injunktion, Illumination und Konfirmation nennen.
- Injunktion: Wir verstehen darunter eine Reihe von instrumentellen Anweisungen, die einfach oder komplex, innen- oder außengeleitet sein mögen, aber stets die Form haben: „Wenn man etwas Bestimmtes wissen oder erkennen will, muß man dies oder jenes tun.“
- Illumination: Wir verstehen darunter das wahrnehmende Sehen mit jenem spezifischen Auge der Erkenntnis, das durch die Injunktion aktiviert wurde. Was da ein-leuchtet, kann einen selbst er-leuchten, es kann aber auch zur dritten Komponente führen, zur
- Konfirmation: Sie ist das gemeinschaftlich geteilte illuminierende (wahr-nehmende) Sehen derer, die dasselbe Auge benützen. Wenn die anderen die gemeinsame Wahrnehmung bejahen, kommt dies einem gemeinschaftlichen oder konsensuellen Beweis wahrheitsgemäßen Sehens gleich.[2]
Mit diesen drei Strängen erkennt Wilber die drei oben aufgeführten Bereiche (Fleisch, Vernunft, Kontemplation) als gleichberechtigt an. Er schreibt dazu in „Naturwissenschaft und Religion”:
Wir haben gesehen, daß die drei Stränge tiefer Wissenschaft (als eine Wissenschaft des Inneren und Äußeren) nicht nur für die äußere Erfahrung gelten, sondern das Kriterium dafür sind, ob eine bestimmte innere Erfahrung einen echten Erkenntnisgehalt hat oder bloß halluzinatorisch, dogmatisch, falsch, idiosynkratisch oder eine persönliche Vorliebe ist. Jede innere Erfahrung, die den Test der tiefen Wissenschaft besteht, kann vorläufig als echte Erkenntnis gelten, sagt also etwas Wirkliches, etwas Faktisches über die Konturen des Kósmos in jeder beliebigen seiner zahlreichen Dimensionen) aus.
Das bedeutet auch, dass wir über alle drei Bereiche nicht nur epistemologisch etwas wissen können, sondern dass sie alle auch ein ontologisches Sein haben, das heißt, sie existieren und sind real. Diesen Gedanken führt Wilber explizit und unter Bezugnahme auf das Modell der acht Hauptperspektiven innerhalb eines „Integralen Methodenpluralismus“ wie folgt aus:[3]
Dies sind zwei ganz grundlegende, historisch vorherrschende Sichtweisen, Epistemologie und Ontologie, und wir sehen Beispiele von ihnen in allen vier Quadranten, als die Innenansicht und die Außenansicht der Zonen in jedem der Quadranten. Die integrale Aussage dazu ist, dass sie alle Recht haben und alle richtig sind, soweit sie adäquat ihre jeweilige Zone beschreiben. Dabei ist die Innenansicht die autopoietische subjektive Sichtweise mit den Zonen 5 und 7, während die objektive Außenansicht des Realismus sich auf Zonen bzw. Horizonte wie die Zonen 6 und 8 konzentriert.
Jede Sichtweise ist richtig, wenn sie sich auf ihren spezifischen Erkenntnisbereich konzentriert und richtig durchgeführt wird. Wenn dies der Fall ist, dann erhalten wir eine wahre und partielle Wirklichkeit. Und diese muss in einen integralen Gesamtansatz mit aufgenommen werden. Sichtweisen sind dann falsch oder unrichtig, wenn sie andere Sichtweisen kritisieren für das, was diese angeblich falsch machen, d. h. wenn beispielsweise eine Innenansicht alle Außenansichten eines ontischen Trugschlusses beschuldigt oder wenn eine Außenansicht alle Innenansichten eines epistemischen Trugschluss beschuldigt. Für die integrale Metatheorie liegt ein epistemischer Trugschluss nur bei einer Überbetonung der Innenansicht vor, was der Fall ist, wenn bestehende, objektive Aspekte der Außenansicht von Wirklichkeit verneint werden oder wenn gesagt wird, dass sie in Gänze von menschlicher Erkenntnis abhängen. Der epistemische Trugschluss ist, mit anderen Worten, die Vorstellung, dass es ausschließlich eine innere, hervorgebrachte Welt gibt und alle Objekte ausnahmslos Ergebnis von Hervorbringungen sind. Doch das ist nicht wahr. Jeder Quadrant hat, klar und eindeutig, ein Innen und ein Außen. Demgegenüber liegt – für die integrale Metatheorie – ein ontischer Trugschluss nur bei einer Überbetonung der Außenansicht vor, wenn die bedeutenden Hinzufügungen, Erschaffungen und Hervorbringungen der Strukturen des erkennenden Subjektes verneint werden und ihr hervorbringender Einfluss als epistemischer Trugschluss bezeichnet wird.
Objektivität
Wie sieht es nun in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Objektivität aus, der ja einen starken Bezug zur Wissenschaftlichkeit hat? Anders gesagt, was nicht objektiv feststellbar ist, gerät sehr schnell in den Verdacht von Unwissenschaftlichkeit. Hier scheint Ken Wilber im Verlaufe seines Werkes unterschiedliche Positionen einzunehmen bzw. eine Entwicklung durchzumachen. Beginnen wir mit einem Zitat aus „Die Drei Augen der Erkenntnis“:
Wissenschaft muss also ganz allgemein jede Disziplin heißen, die ihre Erkenntnisansprüche offen, ehrlich und gewissenhaft den drei Bedingungen[4] stichhaltiger Datenakkumulation und -verifizierung unterwirft... In einem solchen Fall können wir mit vollem Recht nicht nur von der Wissenschaft der Sensibilia – Physik, Chemie, Biologie, Astronomie, Geologie – sondern auch von der Wissenschaft der Intelligibilia – Linguistik, Mathematik, experimentelle Phänomenologie, introspektive und interpersonale Psychologie, hermeneutische Geisteswissenschaft, Logik, interpretierende Soziologie, kommunikative Philosophie – und von der Wissenschaft der Transzendelia – eindeutig experimentelle und kontemplative Disziplinen wie Zen, Vedanta, Vajrayana und so weiter sprechen.
Hiermit stellt Wilber Natur- als auch Geisteswissenschaften auf eine Stufe der Erkenntnis (sowie auch die Sozialwissenschaften ebenso wie „spirituelle Wissenschaften). Sie alle betreiben Wissenschaft, wenn sie entsprechend „offen, ehrlich und gewissenhaft“ vorgehen.
Doch wie steht es dabei mit der Objektivität? Bezieht sich diese lediglich auf äußere Wahrnehmungsobjekte oder auch auf innere Wahrnehmungsobjekte?[5] Wenn sie sich nur auf äußere Wahrnehmungsobjekte bezöge, dann hätten wir mit den Geisteswissenschaften eine Wissenschaft ohne Objektivität. Für mich ist so etwas schwer vorstellbar.
Wilber formuliert dazu in „Die Drei Augen der Erkenntnis" wie folgt:
Im Deutschen gibt es einen schönen Begriff – und einen typisch hässlichen Ausdruck – für unsere erweiterte Wissenschaft[6]: Geisteswissenschaften. „Geist“ ist seinerseits ein glücklicher Ausdruck, da er den Verstand, die Vernunft, den gewöhnlichen und den höheren Geist umfasst und schlicht all das bezeichnet, was nicht bloß physikalisch-sinnlich und empirisch ist. Wilhelm Dilthey, der den Begriff einführte, machte einfach darauf aufmerksam, dass sich neben den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften, die verstandesmäßigen und spirituellen Wissenschaften, entwickelt haben, zu denen ‚die Geschichte, die Nationalökonomie, die Rechts- und Staatswissenschaften, die Religionswissenschaften, die Literaturwissenschaft, die Kunst- und Musikwissenschaft, die Wissenschaft der philosophischen Weltanschauungen und Systeme und die Psychologie’ gehören. Es war Diltheys geniale Leistung, uns klarzumachen, daß, obwohl sich die Naturwissenschaften mit der rein objektiven, natürlichen Welt und die Geisteswissenschaften mit der kulturellen, historischen und spirituellen Welt befassen, dennoch der Geist selbst es ist – des Menschen Verstand, Vernunft und höherer Geist –, der die objektive Welt materieller Sinnesdinge formt und informiert, d. h. ihnen Bedeutung beilegen, sie gestalten und verändern kann und es tatsächlich tut.
Hier ordnet Wilber den Begriff „objektiv“ der natürlichen Welt zu, was ich im Hinblick auf das oben Gesagte einer Wissenschaft ohne Objektivität für problematisch halte. Wie wissenschaftlich kann etwas sein, was nicht „objektiv“ ist?
In „Integral Spirituality” sowie auch in anderen Veröffentlichungen von Wilber erscheint „objective“ im oberen rechten Quadranten:
Aus: Integral Spirituality
Objektivität in den „excerpts“
In den Jahren 2001 bis 2003 hat Ken Wilber eine Reihe von Auszügen (excerpts) veröffentlicht, als einen Vorgriff auf seinen (immer noch nicht veröffentlichten) Band 2 der „Kosmos-Trilogie”.[7] Hier zeigt sich eine interessante Bedeutungsverschiebung. In den Auszügen A und B verwendet Wilber den Begriff „objective“ für den oberen rechten Quadranten – wie in obiger Abbildung. Im Auszug C taucht dann aber unter der Überschrift Das Innere eines Ich (The Insides of an I) folgender Satz auf: „Die natürliche Sprache drückt diesen Horizont (hori-zone) sowohl als eine erste Person singular subjektiv (oder „ich“) [I] als auch als eine erste Person singular objektiv (ich objektiv, mir) [me] aus. Jetzt erscheint Objektivität über die Perspektive einer dritten Person plötzlich auch auf der linken Seite des Quadrantenmodells, im oberen linken Quadranten. Oder weiter, im Zusammenhang mit einer integralen Mathematik: „Natürlich kann ich mich mit deinem Bewusstsein als ein Subjekt im Dialog beschäftigen, und ich kann es auch als ein Objekt studieren – das bedeutet, ich kann mir deiner als einer erste Person (1-p) bewusst sein, oder als einer dritten Person (3-p) …“ Hier wird Bewusstsein auch als ein Objekt gesehen, was (wissenschaftlich) studiert werden kann.
Noch deutlicher wird Wilber dann im Auszug D. Unter der Überschrift „Das Aussehen eines Gefühls” [Look of a feeling] schreibt er: „Diese Außenansicht auf innere Wirklichkeiten geschieht andauernd, beispielsweise in dem Versuch, mich selber objektiver zu sehen, oder mehr so zu sehen wie andere mich sehen, oder auch in der Betrachtung einer Freundschaft.“
Man selbst betrachtet sein eigenes Inneres oder eine Freundschaft objektiv, d.h. Objektivität tritt nun in beiden linksseitigen Quadranten auf. „Ich kann ein Gefühl objektiv betrachten …“ schreibt Wilber. Und weiter: „Zone 2 ist eine 3p x 1p: eine 3te-Person-Perspektive einer ersten Person, – ein objektiver oder beschreibender Ansatz gegenüber Wirklichkeiten, die ich durch Vertrautheit kenne (oder kennen kann).“ „Ich bleibe nahe bei meinen eigenen gefühlten Wahrnehmungen, doch ich beginne, sie zu beschreiben und zu konzeptualisieren im Sinne einer ‚inneren Objektivität‘“. „ … eine Art Ansatz einer dritten Person (objektiv) gegenüber Wirklichkeiten einer ersten Person (subjektiv).“
Diese Auszüge wurden seinerzeit von Wilber als „vorläufig“ bezeichnet. Zwischenzeitlich sind 15 Jahre vergangen, und es bleibt für mich spannend zu sehen, wie Wilber das Thema dann im Band 2 der Kosmos-Trilogie behandeln wird.
Hierzu passt gut, was der bereits von Wilber erwähnte Wilhelm Dilthey 1883 in „Die Geisteswissenschaften” schreibt:
„Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu der Naturerkenntnis kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem transzendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Bedingungen des Bewusstseins steht, und dem objektiv empirischen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese Aufgabe bildet die eine Seite des Erkenntnisproblems. Isoliert man dies Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; ...“
Dieser „Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung“ wäre eine geisteswissenschaftliche Leistung mit objektivem Erklärungsanspruch. Als Bedeutungserklärungen und Synonyme für den Begriff „objektiv“ führt der Online-Duden auf[8]:
- unabhängig von einem Subjekt und seinem Bewusstsein existierend; tatsächlich
- nicht von Gefühlen, Vorurteilen bestimmt; sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch
Synonyme: frei von Vorurteilen, nüchtern, parteilos, sachlich, unbeeinflusst, unparteiisch, unvoreingenommen, vorurteilsfrei, vorurteilslos, wertfrei, wertneutral
(Wissenschaftliche) Erkenntnis und Gültigkeitsansprüche
Eine wichtige Differenzierung, welche Wilber in diesem Zusammenhang vornimmt, ist die von wissenschaftlicher Erkenntnis und Gültigkeitsansprüchen. Hierzu sagt Wilber in den Gesprächen zu seinem Buch „Integrale Spiritualität”, veröffentlicht auf integrallife.com unter Ken Wilber, a deeper cut, folgendes:
Ich bin auch wissenschaftlich ausgebildet, auch wenn ich den meisten Teil meines Lebens in kontemplativer Praxis verbracht habe. Die Haltung dabei ist eine des nicht-wissenden Geistes. Da ist kein Objekt, und das hat mit dem vollständig Unmanifesten zu tun, wie immer man sich das vorstellen möchte. Es ist definitiv etwas, was zu keinem Gedankenobjekt oder irgendeiner Art von Erfahrung gemacht werden kann. Das ist etwas sehr anderes, speziell in der Zen Soto Praxis. Shikantaza ist jenseits allen Vertrauens und aller Mehrdeutigkeit. Ich habe diese zwei Seiten immer betont. In dem, was ich schreibe, versuche ich Menschen darauf hinzuweisen, nehme dabei gerne Zen als ein Beispiel und bringe dort die Wissenschaft hinein, weil sie in unserer Kultur eine große Rolle spielt, mit den drei Strängen der Erkenntnis von Injunktion, Praxis/Datengewinnung und Bestätigung/Zurückweisung. Doch was ich damit wirklich beschreibe, sind die Regeln, um in die Gegenwart und die Gegenwärtigkeit zu kommen. Das ist das, was Zen tut: Es gibt Injunktionen, die führen zu Wahrnehmungen als unmittelbaren Erfahrungen und die lassen sich bestätigen oder verwerfen.
Doch ich betone dabei auch, wenn auch nicht oft, die Gültigkeitsansprüche als die vier Quadranten. Dabei wird deutlich, dass wissenschaftliche Wahrheit nur ein Gültigkeitsanspruch ist, überwiegend im oberen rechten Quadranten, und Wahrhaftigkeit ist der Gültigkeitsanspruch des Ich, des oberen linken Quadranten, und normative Gerechtigkeit ist im unteren linken Quadranten und funktionelles Passen ist im unteren rechten Quadranten. Darüber spreche ich also auch. Man kann noch zusätzlich zu einer kognitiven, einer ästhetischen und einer normativen Beurteilung viele weitere Beurteilungen nennen, die ein menschlicher Geist gegenüber einem Ereignis oder Phänomen machen möchte, wie z. B. religiöse oder spirituelle Beurteilungen. Auch wenn ich das [in meinen Büchern] nicht so betont habe, bin ich mir dessen bewusst.
Die vier Quadranten haben Gültigkeitsansprüche, die sich grundlegend voneinander unterscheiden, und die drei Stränge [der Erkenntnis] erscheinen auf ganz unterschiedlichen Weisen in den vier Quadranten. Es gibt davon eine wissenschaftlich-kognitive Weise, eine ästhetische Weise, eine normative Weise, und dies sind keine Versionen von Wissenschaft, es sind Versionen und Weisen von Gegenwärtigkeit, um in die Gegenwärtigkeit von Phänomenen zu gelangen einschließlich nicht-instrumenteller Phänomene.
Wir sollten daher aufpassen, dass wir mit der wissenschaftlichen Form der drei Stränge nicht auf unangemessene Weise über die Beurteilungen anderer Einschätzungen Aussagen machen. Die drei Stränge sind unterschiedlich in den Quadranten, welche fundamental und grundlegend sind mit ihren Gültigkeitsansprüchen, und sie unterscheiden sich von den drei Strängen der Erkenntnis.
Wissen, Erfahrung und Meinung
Der wichtige Unterschied dabei ist: Wissen ist etwas anderes als Erfahrung. Worüber wir im Zusammenhang mit den Gültigkeitsansprüchen reden, ist, in der Lage zu sein zu demonstrieren, dass etwas ist oder existiert. Man kann dabei jede Art von Erfahrung haben, real oder auch nicht real, und man braucht dafür nicht notwendigerweise eine bestimmte Injunktion – viele Dinge geschehen einfach spontan und anderes ist geplant. Man kann planen, in der Gegenwärtigkeit eines Ereignisses zu sein – ich kann mir z. B. vornehmen, heute Abend zum Tanzen zu gehen. Wenn ich die Erfahrung mache, dass es regnet, ist das das eine, doch wenn ich sage: „Es regnet draußen.“, dann behaupte ich, dass das so ist, und das ist etwas anderes. Hier habe ich nicht nur eine Erfahrung, sondern ich weiß mit einer Art von Gewissheit, dass es sich hier um etwas Reales handelt und mache diese Aussage gegenüber jemandem anderen. Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung. Und es gibt noch einen weiteren Aspekt dabei. Wenn jemand eine Wissensaussage macht, wenn zum Beispiel Genpo Roshi sagt: „Es gibt Big Mind.“, dann fügt er noch die Injunktionen des Big Mind Prozesses hinzu, und die können gemacht werden. Man kann diesen Prozess, der eine oder mehrere Stunden dauert, als eine Reihe von Injunktionen betrachten, und diese Injunktionen sind darauf ausgerichtet, einen in die Gegenwärtigkeit des Big Mind zu bringen, in die Erfahrung. Wenn man diese Erfahrung macht, dann kann man darüber Aussagen treffen wie: „Oh, das ist schön.“, oder „Das ist nicht schön.“ oder „Was fangen wir jetzt damit an?“ als eine normative Wertung. Beim Wissen und den drei Stränge guten Wissens geht es nicht nur um Erfahrungen, es geht darum, gute Aussagen machen zu können, Aussagen die einen Wahrheitsgehalt für andere Menschen haben. Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung. Und dann, wenn ich eine Wissensaussage mache, gibt es weiterhin den traditionellen Unterschied, der immer noch stimmt, zwischen Wissen und Meinung. Man kann eine Meinung haben und das ist ok, aber das ist noch kein Wissen. Die drei Stränge des Wissens bedeuten: was muss man tun, um im Angesicht und der Gegenwärtigkeit eines Phänomens zu sein, über das man eine Aussage macht oder machen möchte. Das ist etwas ganz Grundlegendes, und zwar, was müssen Menschen, die keinen Zugang zu einer Erfahrung haben, tun, um diesen Zugang zu bekommen, und um in der Gegenwärtigkeit dieses Phänomens zu sein? Ist man in der Gegenwärtigkeit eines Phänomens, kann man als das Mindeste die drei Beurteilungen machen und man kann noch weitere hinzufügen, wie eine religiöse Beurteilung oder eine rechtliche Beurteilung, die sich von einer moralischen Bewertung unterscheidet, und manche differenzieren noch zwischen moralischen und ethischen Bewertungen. All das ist möglich, wenn man sich in der Gegenwärtigkeit von dem befindet, worüber man spricht oder sprechen möchte. Gleichzeitig kann man, in dieser Gegenwärtigkeit, Tausende anderer spontaner Erfahrungen machen. Ich sage daher nicht, dass die drei Stränge die Voraussetzung dafür sind, um Erfahrungen zu machen, doch es ist das, was man tun muss, um sagen zu können, dass etwas wahr für andere ist, und so zu einer Art von öffentlichem Wissen wird.
Hier noch ein Textauszug von Wilber zum gleichen Thema[9]:
Man kann zwei unterschiedliche Standpunkte unterscheiden gegenüber endlichen und manifesten Phänomenen, die man einnehmen kann (und natürlich gibt es noch andere Arten der Unterscheidung). Der erste betrifft die Frage, was zu tun ist – und manchmal ist nichts zu tun – um in der Gegenwart eines bestimmten Ereignisses oder Phänomens zu sein. Der zweite ist, wenn man sich dann dem Phänomen gegenüber sieht, gibt es mindesten drei Beurteilungen oder Einschätzungen, die man vornehmen kann. Die erste Beurteilung ist: „Ist das wirklich vorhanden und real oder halluziniere ich bloß“, als eine kognitive Beurteilung – und die Beurteilung kann sensorisch, mental oder kontemplativ sein. Die zweite Beurteilung ist: „Gefällt mir das, was ich wahrnehme, ist es schön, angenehm oder nicht“ – als eine ästhetische Beurteilung. Die dritte Beurteilung ist die Frage oder Einschätzung gegenüber dem Phänomen oder Ereignis: „Was kann/soll ich oder wir diesbezüglich tun?“, und das ist eine ethische oder normative Beurteilung. In der Gegenwart eines Ereignisses zu sein und sich dabei zu vergewissern, dass dies wirklich vorhanden ist, bevor andere Einschätzungen darüber getroffen werden, das nenne ich im weitesten Sinn „gutes Wissen“. Bei den drei Strängen der Erkenntnis (Injunktion, Praxis, Verifikation/Zurückweisung) geht es darum, mich in die Gegenwart dessen zu bringen, worüber ich sprechen möchte oder was ich verändern oder beurteilen möchte. Dazu kann man vieles sagen, doch ganz einfach gesprochen kann man sagen, dass diese drei Stränge auch verwendet werden können, um etwas noch genauer zu spezifizieren. Worum es geht, ist, Menschen an Bereiche und Phänomene heranzuführen, die sie bisher nicht wahrgenommen oder verleugnet haben, und sie dazu einzuladen, sich damit vertraut zu machen.
Die drei Beurteilungen, die ich benannt habe, haben unterschiedliche Arten von Verifikationsabläufen. Was man dabei nicht macht, ist, dass man die kognitiven oder wissenschaftlichen Beurteilungen nimmt und diese mit den ethischen oder ästhetischen Beurteilungen und Verifikationsprozeduren verwechselt. Natürlich gibt es noch weitere Beurteilungen, die man treffen kann, aber diese drei sind die wichtigsten. All das basiert jedoch darauf, sich dessen gegenwärtig zu sein, worüber man sprechen oder was man einschätzen möchte. Wissenschaftliche Betrachtung hat die Tendenz zu objektivieren und Dinge zu einem „Es“ zu machen, wohingegen Ästhetik die Tendenz hat zu subjektivieren, als die Schönheit im Auge des Betrachters (als einem Ich), und normative Einschätzungen drehen sich um das Wir: „Was sollten wir im Angesicht dieser Dinge tun?“ Dies alles ist in Ordnung, das sind die Quadranten, die wir hier anwenden können. Was wir dabei nicht tun wollen, ist, sie aufeinander zu reduzieren. Ich bezeichne dies als Gültigkeitsansprüche und ich spreche davon, dass die vier Quadranten jeweils ihre eigenen Gültigkeitsansprüche haben, und zwar Wahrheit [OR Quadrant], Wahrhaftigkeit [OL Quadrant], Gerechtigkeit [UL Quadrant] und funktionelles Passen [UR Quadrant]. Dies sind vier Arten von Beurteilen im Angesicht welchen Phänomens oder Ereignisses auch immer. Worum es mir dabei geht, ist, Menschen darauf hinzuweisen, dass es diese unterschiedlichen Phänomene in den unterschiedlichen Quadranten gibt und diese anzuerkennen. Das Gemeinsame und ganz Grundlegende bei all diesen Verifikationsprozeduren ist ein: „Lasst uns dies untersuchen und schauen, ob wir begreifen, was hier vor sich geht.“
[1] Der Begriff „Empirie“ ist für diese Abhandlung in seiner Bedeutung exemplarisch. Auf Wikipedia (19.7.2018) findet sich: „Empirie ist eine methodisch-systematische Sammlung von Daten. Auch die Erkenntnisse aus empirischen Daten werden manchmal kurz Empirie genannt.“ Der online Duden erklärt (19.7.2018): „empirisch: aus der Erfahrung, Beobachtung, auf dem Wege der Empirie gewonnen, auf ihr beruhend.“ Die entscheidende Frage ist: bezieht sich das nur auf Objekte der äußeren Welt oder auch auf Erfahrungsgegenstände im Inneren? Anders gefragt: Gibt es Empirie nur in den Naturwissenschaften oder auch in den Geisteswissenschaften?
[2] Bei einer Verneinung wäre das Ergebnis eine Zurückweisung der Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis.
[3] Quelle: integrallife.com, Being vs. Knowing: Ending the Debate Between Epistemology and Ontology, Integral Theory Conference Keynote Address.
[4] Anmerkung: das sind die oben aufgeführten drei Stränge der Erkenntnis.
[5] Eine persönliche Definition von mir (mh), wie ich sie in dem Buch Wissen, Weisheit, Wirklichkeit unter Bezugnahme auf Wilbers drei Erkenntnisstränge formuliert habe, lautet: „Objektivität wird erreicht, wenn eine ausreichende kompetenter Menschen auf der Basis von Injunktion, Praxis und Verifikation in der Beurteilung eines Sachverhalts übereinstimmen.“
[6] Wilber unterscheidet enge (narrow) und weite (broad) Wissenschaft. Erstere ist im Wesentlichen die „empirische“ Naturwissenschaft.
[7] Dies sind die Auszüge A, B, C, D und G.
[8] Am 20.7.2018.
[9] Aus: https://integrallife.com/good-true-beautiful/, siehe dazu auch den Beitrag Das Wahre, Schöne, Gute – Geltungsansprüche und Beurteilungen im Online Journal Nr. 67.
Lesen Sie weitere Beiträge zum Thema:
- Spiritualität und Wissenschaft – Geschwister oder Fremde? – Michael Habecker
- Wissenschaft & Spiritualität – Michael Habecker
- Wissenschaft und Spiritualität – Michael Habecker