Beate Klutmann

Während meines Studiums der Psychologie, das schon einige Zeit zurückliegt, empfand ich die Persönlichkeitspsychologie als Durcheinander von Einzelergebnissen. Mir fehlte so etwas wie die Anatomie der Seele.

Sehr viel später las ich Ken Wilber, der seinen ganz eigenen Weg in die Psychologie hinein geschaffen hat. Für mich als Psychologin war es zunächst nicht möglich, den psychologischen Ansatz von Ken Wilber so ohne weiteres zu übernehmen. Ich suchte etwas Handhabbares für meinen beruflichen Alltag als Coach und Trainerin. Und ich wollte mich mit meinem bisherigen Wissen in Wilbers AQAL-Modell wieder finden.

Hilfreich waren dafür die Ausbildung zum Integral Master Coach, mein Kurs bei Susan Cook-Greuter (Development Intensiv for Professionals) und ein Forschungssemester, bei dem ich mich vertieft mit dem Thema befassen konnte.

Was hier erreicht werden soll

Ich möchte im Folgenden einzelne Bereiche der Persönlichkeitsforschung vorstellen und danach auf die Modelle der Psychologie eingehen, die Ordnung in die Sammlung bringen. Ziel ist ein Modell zu entwerfen, das jemandem, der weder Psychologie studiert noch Wilber gelesen hat, einen ersten Eindruck gibt, wie man sich die menschliche Persönlichkeit vorstellen kann. Ich starte mit einer Begriffsklärung.

 

Persönlichkeit – die Art, wie wir uns unterscheiden

Unsere Persönlichkeit ist das individuelle Muster von Eigenschaften, Fähigkeiten und inneren Prozessen eines Menschen. Mit diesen Eigenschaften etc. sind wir im Austausch mit der Umwelt, was uns ebenfalls prägt. Die Persönlichkeit macht einen Menschen zu einem einzigartigen Individuum.
Der Begriff Persönlichkeit umfasst die Beschreibung und Erklärung des individuellen Musters von Eigenschaften eines Menschen. Unter Persönlichkeit kann man die psychischen Kräfte verstehen, die einen Menschen zu einem einmaligen Individuum machen.

Im Gegensatz zu anderen Forschungsgebieten in der Psychologie, wo danach gesucht wird, wie Menschen „funktionieren“ und was bei allen gleich ist, befasst sich die Persönlichkeitspsychologie mit dem, was uns unterscheidet.

Einzelne Bereiche der Persönlichkeitsforschung

Womit hat sich also die Persönlichkeitspsychologie befasst? Untersucht wurden z.B. Motive, Kognitionen, Eigenschaften oder Intelligenz als Teil der Persönlichkeit. Emotionen wurden zu meiner Zeit etwas ignoriert, schließlich konnte man sie nicht „anständig“ messen. Andere Forscher hatten eher biologische Grundlagen als Gegenstand ihrer Forschung. Früher war dabei die Zwillingsforschung z.B. eine Grundlage der Erkenntnis. (Heute sind es auch die Neurowissenschaften.) Die Interaktion mit anderen Menschen wurde untersucht, Wahrnehmung und Attributionen – um nur einiges zu nennen. Als ich studierte, habe ich all das als verwirrendes Sammelsurium empfunden.

Einige Modelle, die Ordnung in die Sammlung bringen

Die Persönlichkeit des Menschen wurde je nach psychologischem Forschungsansatz unterschiedlich gesehen und erforscht. Als Beispiele:

  • Einmal standen die Kognitionen des Menschen im Vordergrund (Denken, Interpretationen, Wahrnehmung, Attribution etc.). Die psychoanalytischen Schulen boten Ausführungen zum Unbewussten an, das Bewusstsein selber war selten Gegenstand der Forschung in der Psychologie. Andere Forscher sahen das Individuum als eine Sammlung spezifischer Eigenschaften, Fertigkeiten und Prädispositionen. Die Humanisten betrachteten auch eine spirituelle Dimension. Das war ein Weg, Ordnung herzustellen.
  • Ein anderer Ansatz unterteilt die Forschung zur Persönlichkeit des Menschen in Struktur und Prozesse. Dabei gehören zur Struktur die Merkmale und Dispositionen des Menschen (physische Merkmale, kognitive Fähigkeiten, Interessen, Eigenschaften etc.) und zum Prozess werden charakteristische Anpassungsprozesse gerechnet (Wertvorstellungen, Kompetenzen in verschiedenen Lebensbereichen, Kontrollüberzeugungen etc.). Diese Logik habe ich für meine Darstellungsweise ausgewählt.
  • Ein weiteres Modell kam meiner Absicht nahe, die Forschungsergebnisse der Persönlichkeitsforschung in das Quadrantenmodell von Ken Wilber einzuordnen. Das Modell von McAdams und Pals ist durch 5 Prinzipien gekennzeichnet. Ziel der Autoren war ein integrativer Ansatz, der Eigenschaften mit Anpassungsfähigkeiten kombiniert. In Kürze:
    • Das erste Prinzip betrachtet die biologischen Wurzeln und die menschliche Natur.
    • Das zweite Prinzip hat die dispositionellen Eigenschaften als Thema
    • Das dritte Prinzip bezieht sich auf Anpassungsleistungen des Menschen
    • Beim vierten geht es um Identität und Sinnerleben eines Menschen
    • Im fünften Prinzip wird der kulturelle Einfluss gewürdigt.

Zwischenschritt

Aus dem Vergleich der Ordnungssysteme und ihrer Gemeinsamkeiten und mit einem Blick für das Alltagstaugliche entstanden für mich fünf relevante Bereiche:

  1. Die Persönlichkeit ist durch Vererbung, physische Merkmale etc. geprägt.
  2. Eigenschaften, Motiv- und Interessendispositionen werden im Leben geformt.
  3. Menschen verfügen über die Fähigkeit zur Anpassung an die Umwelt, sie haben Kognitionen, Kompetenzen, Einstellungen und sind damit in Interaktion mit der Umwelt.
  4. Das Selbst verarbeitet die Informationen, die von außen und innen kommen, schafft ein Selbstgefühl und strebt nach Selbsterfüllung. Zum Selbst gehören die Begriffe Bewusstsein und Unbewusstes.
  5. Kulturelle Faktoren beeinflussen vor allem die kontext-abhängigen Teile der Persönlichkeit (nicht Eigenschaften).

Die Bereiche 1., 2., 3. und 5. bilden die Struktur der Persönlichkeit. Punkt 4 zeigt die Anpassungsprozesse (und Wachstumsmöglichkeiten) des Menschen.

Einordnung in die Quadranten

Unsere Persönlichkeit steht also unter dem Einfluss innerer und äußerer Impulse: Wir bekommen Informationen von unserem Körper (Empfindungen und Wahrnehmungen verschiedenster Art) und aus der Außenwelt (das Verhalten anderer, Grenzen durch Gesetze etc.). Alles wird ständig aufgenommen und verarbeitet oder (scheinbar) aussortiert und bewegt uns mitunter zu Handlungen.

Die Einzelergebnisse psychologischer Forschung möchte ich nun so zusammenfassen, dass sie die Quadranten des AQAL-Modells füllen. In einem ersten Schritt soll die Struktur betrachtet werden:
Die Persönlichkeit beruht auf biologischen Grundlagen und sie ist durch Vererbung, physische Merkmale, unsere Physiologie und biologische Dispositionen geprägt.

Wir haben Kognitionen, Emotionen, Wahrnehmungen, Einstellungen und so weiter und können verschiedene (Bewusstseins)zustände erleben.
Unsere Anlagen sowie die Kognitionen können durch andere Menschen beeinflusst werden, durch Erziehung, soziale Einflüsse über Jahre und so weiter. Wir werden durch die Kultur, in der wir aufwachsen, geformt.
Außerdem haben die Bedingungen Einfluss, die uns umgeben: das politische System, die Religion oder das Wertesystem, mit dem wir aufwachsen, die Natur und was daraus resultiert (Leben wir in der Wüste, in der Großstadt oder auf dem Land?), also alle objektiven Umgebungsbedingungen.

Klutmann Persoenlichkeit Abbildung 1

Abb. 1: Modell der Struktur der Persönlichkeit


Struktur und Prozesse

Kommen wir nun zu den Prozessen, die zu unserer Persönlichkeit gehören. Die Anpassung an neue Gegebenheiten zeigt sich in den Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, horizontal in Form von Lernen und vertikal als Transformation der Identität. Das Modell der Quadranten möchte ich daher um das „Selbst“ erweitern: den Ort, in dem Denken, Handeln und Fühlen strukturiert und verarbeitet werden.

Das Selbst kann als Steuerungszentrum gesehen werden. Das Selbst verarbeitet die Informationen, die von außen und von innen kommen, schafft ein Selbstgefühl und strebt nach Selbsterfüllung. Hier sehe ich unsere Fähigkeiten und Kompetenzen mit ihrer Anpassungsfähigkeit (Abb. 2). Wir sind in der Lage, uns zu verändern, uns an eine sich ändernde Umwelt anzupassen. Es findet ein Austausch zwischen dem Selbst und dem Inhalt der vier Quadranten statt.

Klutmann Persoenlichkeit Abbildung 2

Abb. 2: Struktur der Persönlichkeit und das Selbst als Ort der Prozesse

 

Von dem „Selbst“ schwer zu trennen sind die Begriffe Bewusstsein und Unbewusstes. Vieles wissen wir über uns selber, es ist in unserem Bewusstsein. Anderes können wir nicht so ohne weiteres erfassen, weil wir „mitten drin stecken“, daher ist es dem Zugriff des Bewusstseins verschlossen. Wir stehen mitten in einem Prozess, einem Erleben oder einem Ereignis und können nicht erkennen, worum es geht, da wir darin eingebettet sind. Aber je bewusster wir werden, desto mehr können wir über uns wissen.

Anwendung in der Praxis

Um als Coach und Trainerin mit Menschen arbeiten zu können, die weder von Ken Wilber noch von der Persönlichkeitspsychologie etwas wissen, ist es heute für mich hilfreich, mit den oben gezeigten Abbildungen zu arbeiten, und je nach Thema und Zielgruppe der Veranstaltung kann ich dann weiter einsteigen oder an der Oberfläche bleiben.

Die beiden Modelle sind hilfreich, da mit Abb. 2 der Übergang zu „Entwicklung“ gelegt wird. Bei Vorträgen oder Seminaren kann man die Erfahrungen diskutieren, wie stabil oder beweglich die einzelnen Facetten der Persönlichkeit sind.
Gruppen können die Antwort auf die Frage: „Was ist Persönlichkeit?“ selber erarbeiten und ihre Stichworte auf Karten schreiben. Die kann man dem leeren Modell zufügen oder sie werden erst einmal beiseite gelassen und später erläutert.
Man hat eine einfache Möglichkeit, Persönlichkeit zu erklären. Der Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erfüllt, aber ein gemeinsames Verständigungs-Modell ist dann vorhanden.

 

Klutmann BeateDr. Beate Klutmann

Nach Lehr- und Wanderjahren in Hochschulen und in der Industrie bin ich nun freiberuflich als Coach und Trainerin tätig. Zum Integralen Ansatz kam ich, nachdem ich mich zunächst mit „Ego-Development“ befasst und Ausbildungen in England und den USA dazu gemacht habe. Persönlichkeitsentwicklung, vertikal und horizontal, ist das Thema, das mich in den letzten Jahrzehnten am stärksten bewegt und beschäftigt hat. Ich möchte heute meine Erfahrungen weitergeben und Menschen begleiten, die etwas ändern wollen in ihrem Leben oder innerlich zur Ruhe kommen möchten. Dabei greife ich unter anderem auf meine Ausbildung zum Integral Master Coach (ICC) zurück. Mehr zu mir, meinen Angeboten und meinem Blog finden Sie auf der Website www.beate-klutmann.de.