Otto Laske

Vor zehn Jahren habe ich in zwei Büchern des Titels Measuring Hidden Dimensions (2005, 2008) über die Komplexität des Menschen wie auch die seiner Organisationen geschrieben. Die dabei formulierte These beinhaltet, dass sich das psychologische Dasein des Menschen aus drei grundlegenden, innerlich miteinander verbundenen Dimensionen zusammensetzt, die ich als sozial emotional, psychologisch und kognitiv bezeichnete. In dem zweiten dieser Bücher lag der Schwerpunkt auf einer Theorie der Arbeit (2008). Ich beschäftigte mich damit, wie der innere Arbeitsplatz aussieht, aus dem heraus Menschen gegenüber und zusammen mit ihrer sozialen Umwelt verfahren. (Dies im Unterschied zum äußeren Arbeitsplatz, der Marx‘ Thema war). Das führte mich zu einer neuen Theorie organisatorischer Arbeit, in der die inneren Hindernisse sichtbar wurden, welche effektiver Arbeit bei komplexen Zielstellungen entgegenstehen.

 

Ich zeigte damals, dass sich innerhalb jeder der drei genannten Systemdimensionen weitere drei oder vier Unterbereiche unterscheiden lassen, die entweder gegeben sind (Selbstbegriff, Aufgabenfokus, emotionale Intelligenz), bzw. sich in Stufen oder Phasen über die Lebensspanne hin entwickeln (als dem Entwicklungsbereich). Ich konnte im Detail die Komplexität dieser Unterbereiche und ihre wechselseitige Beziehung untereinander aufzeigen. Dabei wurde klar, dass in Coaching und Beratung nur ein integrales Denken der systemischen Komplexität des Menschen gerecht werden kann.

Schaue ich mich nun in meinem gegenwärtigen kulturellen Umfeld um, so finde ich, dass dieser systemischen Komplexität der menschlichen Natur nur wenig Rechnung getragen wird. Es ist bisher bei Politikern und Beratern kaum zu erkennen, dass sie ihren Blick auf die menschliche Natur und die damit verbundene menschliche Arbeitsweise entsprechend erweitert hätten.

Es ist an der Zeit, sich klarzumachen, dass wir heute im Anthropozän leben. Dies bedeutet, dass sich unsere Aktivitäten unmittelbar nicht nur in unserem Klimasystem niederschlagen, sondern Einfluss haben auf das Gleichgewicht unseres Planeten, also die Grundlage unseres Lebens. Das betrifft unsere Nahrungsversorgung, die Versorgung mit Wasser und mit Atemluft – ganz zu schweigen von dem Gleichgewicht der unterschiedlichen Kulturen untereinander. Doch gibt es leider nur ganz wenige Anzeichen dafür, dass die Erkenntnisse, von denen ich gesprochen habe, beispielsweise in unseren Bildungs- und Erziehungssystemen Berücksichtigung finden.

Wenn ich über mögliche Gründe nachdenke, um deretwillen die Komplexität der menschlichen Psychologie sowohl in der organisatorischen und psychologischen Beratung wie auch in Lehrprogrammen vernachlässigt wird, dann ist der für mich wahrscheinlichste Grund der, dass die individuelle kognitive Entwicklung durch die bestehenden Bildungs- und Erziehungssysteme stark gehemmt wird. Nur sehr wenige Bildungsangebote berücksichtigen und fördern das menschliche Potenzial für komplexes und systemisches Denken, zu einer Zeit, in der fast nichts wichtiger scheint. Dies hat außer ökonomischen auch kulturelle Gründe.

Im zweiten Band von Measuring Hidden Dimensions (2008) zeigte ich, dass es speziell in der westlichen Welt eine systemisch bedingte Schwierigkeit gibt, die verhindert, dass Menschen sich über formal-logisches Denken hinaus entwickeln, welches ihnen von Anfang an in den Schulen und Hochschulen vermittelt wurde. Dieses Denken, aus dem heraus auch unsere gegenwärtige Vorstellung von empirischer Wissenschaft stammt, ist derart vorherrschend, dass es zunehmend schwieriger wird, die reale, sich in ständiger Transformation befindliche Welt holistisch und systemisch zu erfassen und entsprechend zu handeln.

Obwohl die empirische Entwicklungsforschung von Basseches (1984) und mir selbst (2008) klar zeigt, dass alle Erwachsenen ein Potenzial für dialektisches Denken besitzen, das formale Logik überschreitet, scheint dieses Potenzial heute zu verkümmern. Oder es kapituliert vor den Attacken der logisch basierten Algorithmen, die heute unsere soziale Welt zu beherrschen scheinen – sind doch die sozialen Medien zusätzlich zu einer Quelle der Verbreitung formal-logischen Denkens und Downloadens geworden. Sowohl Hass als auch Mitgefühl lassen sich buchstäblich grenzenlos herunterladen, jedoch ohne ein Verständnis der systemischen Auswirkungen solchen Verhaltens. Fügt man sich diesen Algorithmen, die darauf gerichtet sind, kurzfristig Ergebnisse zu erzielen, so ist das Resultat potenziell katastrophal, nicht nur für das Individuum, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.

Durch das Downloaden entfernen sich die Menschen immer mehr von der realen Welt, von der ihr (Über)Leben abhängt, sowie auch von der Erfahrung ihres eigenen Denkens in dieser Welt – ist doch die „reale“ Welt durch eine unablässig-kreative Strukturbildung gekennzeichnet, welche mit den natürlichen Gegebenheiten verschmilzt, was jedoch nur erfasst werden kann, wenn man sich in seinem eigenen Denken mit neuen Denkstrukturen, wie den vier Momenten der Dialektik beschäftigt (Bhaskar 1993). Dialektisches Denken (wie z. B. von Roy Bhaskar entwickelt) wird jedoch heute nirgendwo gelehrt und so ist man ständig fabelhaft vereinfachenden Initiativen und Ideologien ausgesetzt.

Das ist alarmierend!

Bis zur gegenwärtigen Zeit war diese Situation nicht notwendigerweise katastrophal, weil die menschliche Technologie noch nicht so weit entwickelt war, um großen Einfluss auf die Gesetzlichkeiten der Natur ausüben zu können, die der realen Welt zu Grunde liegen. Doch jetzt sind wir in ein neues geologisches Zeitalter eingetreten, das Anthropozän, in dem menschliches Handeln massiv auf die Gesellschaft und ihre physische Umgebung Einfluss nimmt. Wenn nun zusätzlich die in schwachen Denkweisen (Epistemologien) begründete Entfremdung von den Gesetzen der realen Welt wirksam wird, dann hat dies möglicherweise katastrophale Auswirkungen.

Und einige dieser Auswirkungen zeigen sich schon zu meinen Lebzeiten.

Meine Schlussfolgerung daraus für das Anthropozän ist die Notwendigkeit einer völligen Neuausrichtung unserer Bildungs- und Erziehungssysteme, in welchen derzeit die Sozialisation als wichtiger angesehen wird als das Denken. Davon ausgehend, dass der menschliche Geist ein integraler Teil der realen Welt ist – und von dieser ebenso geformt ist wie er sie selbst formt – können die höheren Stufen systemischen Denkens, wie wir sie in der Dialektik finden, der Schlüssel dafür sein, im Zeitalter des Anthropozän verantwortlich zu leben.

Eine zentrale Frage unserer Zeit ist daher: wie können unsere Bildung und Erziehungssysteme reformiert werden, damit wenigstens ein Schimmer dieser Überlegungen Zugang erhält zur Ausbildung individuellen Denkens? Zurzeit bereiten alle diese Systeme den Menschen lediglich auf die Erreichung kurzfristiger Erfolge vor. Mir scheint es so, dass die gegenwärtigen Vorstellungen von Lehren, Beraten und Coaching kläglich anachronistisch sind, weil sie nach wie vor davon ausgehen, dass kurzfristiger Erfolg und nicht langfristiges Überleben das eigentliche Thema sei.

Eine langfristige Perspektive, welche uns die Entwicklungswissenschaften anbieten, ist hierbei in der Tat ein sehr praktisches Werkzeug. Dieses Werkzeug, das uns die individuelle Denkentwicklung über die menschliche Lebensspanne hin verstehen lässt, ist allerdings vorrangig auf die Zukunft gerichtet. Folgen wir aber den Einsichten der Klimaforscher, so wird klar, dass was wir zukünftig erreichen können stark beeinflusst ist von der Art und Weise, wie wir in den letzten 200 Jahren mit Energie umgegangen sind. Und diese Vergangenheit ist etwas, das wir nicht mehr rückgängig machen können.

Bibliographie

Basseches, M. 1984. Dialectical thinking and adult development. Norwood, NJ: Ablex.

Bhaskar, R. 1993. Dialectic: The pulse of freedom. London, UK: Verso

Jacques', E. 1998. Requisite Organization. Arlington, VA: Cason Hall & Co.

Jacques', E. 2002. The life and behavior of living organisms. Westport, CT: Praeger.

Laske, O. 2005. Measuring hidden dimensions, volume 1. Medford, MA: IDM Press.

(Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Potenziale in Menschen erkennen, wecken und messen: Handbuch der entwicklungsorientierten Beratung, IDM Press, 2005; 

Laske, O. 2008. Measuring hidden dimensions, volume 2. Medford, MA: IDM Press.

Laske, O. 2015. Dialectical thinking for integral leaders: A Primer. Tucson, AZ: Integral Publishers.

(aus: Online Journal Nr. 57)

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