Zusammenfassung
Die Wirtschaftswissenschaften haben sich in ihrer Methodik an die klassischen Naturwissenschaften angelehnt. Für diese gibt es nur eine „dingliche“ äußere Welt – auf die man „zeigen“ kann. Die Reduktion auf die Dinglichkeit der Welt bringt die Wirtschaftswissenschaften in größte Schwierigkeiten. Um aus der Sackgasse herauszukommen, bietet sich Wilbers Schema der vier Quadranten an: diese öffnen den Raum der Wissenschaft auch für den „inneren Raum“. Wendet man seine Methodik auf die Wirtschaft an, ergeben sich völlig neue Perspektiven, vor allem für eine Theorie des Geldes, das, obgleich die zentrale ökonomische Kategorie, im ökonomischen Mainstream nur ein Schattendasein führt.
Wilber weist erstens darauf hin, dass Realität und daher Gegenstand unseres Wissens nicht nur äußerliche Dinge sind, sondern auch innere Welten erfassen. Zweitens unterscheidet Wilber zwischen der individuellen und kollektiven Dimension unseres Daseins. Aus beiden Unterscheidungen ergeben sich vier Quadranten, als vier Aspekte bzw. vier Formen des Seins.
Die äußeren Gegenstände sind solche, auf die man „zeigen“ kann: sie haben eine gewisse räumliche Ausdehnung, etwa das menschliche Gehirn. Wo mein Gehirn ist, kann nicht zugleich deines sein. Ganz anders steht es mit dem Bewusstsein. Bewusstsein ist ein innerlicher Vorgang, der keinen (geographischen) Ort und keine bestimmte Ausdehnung hat. Man kann auf das Bewusstsein nicht mit dem Finger zeigen. Zu den inneren Welten gehören auch Gefühle, Emotionen, Werte, Bewertungen, Normen, das Denken, Denksysteme wie Theorien, ja selbst die höchsten spirituellen Erfahrungen. Mathematik ist ein logisches Konstrukt, mit dem der Mensch versucht, sich die äußere Welt zu erschließen. Er vertraut darauf, dass die inneren, logischen Operatoren die tatsächlichen Verknüpfungen der äußeren Welt abbilden. Der äußeren Welt steht also eine innere gleichsam gegenüber. Die innere Welt ist selbst aber auch zum Gegenstand unserer Welt geworden. Der Mensch ist nur Mensch, weil er sich selbst zum Objekt seines Denkens und seiner Gefühle machen kann. Wir benützen einerseits die Sprache, um uns über die äußere Welt zu verständigen. Zugleich sind aber Sprache und sprachlicher Ausdruck ganz selbstverständlicher Teil unsere Welt geworden. Sprache ist uns zu unserer zweiten Natur geworden. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, was wir ohne Sprache wären – wären wir überhaupt Menschen? Ähnliche Überlegungen können wir über Wirtschaft und Geld anstellen.
Zuzüglich unterscheidet Wilber zwischen einer individuellen und kollektiven Dimension. Diese Unterscheidung ist zum Verständnis des Verhältnisses des Einzelnen zum Gesamten – etwa bei der Herleitung des Gestaltbegriffs – unerlässlich, mit dem z.B. der Biologe ganz selbstverständlich zu tun hat. Aber sie gewinnt ihr ganzes Gewicht im Bereich der Kultur, zu der auch die Wirtschaft als Subsystem gehört. Denn Wirtschaft ist keine naturgegebene Einheit, wie z.B. das menschliche Individuum, sondern ein (holistisches) Ganzes, dessen Existenz sich nur aus einem Prozess wechselseitiger Beziehungen seiner Teile (der Individuen) ergeben kann, welches dank dieser Wechselbeziehungen (emergente) Eigenschaften aufweist, die sich nicht auf diese Teile zurückführen lassen.
Vier Grundelemente
Ich möchte die Bedeutung der Wilber‘schen Quadranten am Beispiel der Wirtschaft und insbesondere in Bezug auf ihre konstituierenden Elemente Tausch und Geld nachvollziehen.[1] Dabei bieten sich zwei unterschiedliche Ansätze an. Erstens kann man versuchen, wirtschaftliche Phänomene oder häufig verwendete Begriffe, durch die wir Wirtschaft beschreiben (Begehren, Gut, Knappheit, Geld, Preise, Kapital, usw.) den Quadranten zuzuordnen. Dieses Verfahren stößt aber auf die Schwierigkeit, dass jedes Phänomen oder jeder Begriff, mit dem wir wirtschaftliche Tatbestände beschreiben, das „Produkt“ auch anderer Elemente aus den Wilber‘schen Quadranten ist. Eine eindeutige Zuordnung ist daher gar nicht möglich. Wir müssen anders vorgehen, sozusagen „von unten nach oben“. Ich möchte daher zunächst nachvollziehen, wie das Gebilde Wirtschaft entsteht und aus welchen „Bauelementen“ es besteht. Dabei kommen uns ebenfalls die Wilber‘schen Quadranten entgegen, denen ich – gewissermaßen idealtypisch – folgende Elemente zuordne.
Wirtschaft als Zusammenspiel der vier Grundelemente
Unterscheidungen | Innen | Außen | |
Individuell | [OL] Der Mensch als geistiges Wesen |
[OR] Das (objektive) Knappheitsproblem |
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Kollektiv | [UL] Der Binnenraum der Gesellschaft: der Tausch (Tauschbeziehungen) |
[UL] Geld Die „Lösung“ des Knappheitsproblems |
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Wirtschaft ergibt sich aus dem Zusammenwirken dieser vier konstituierenden Elemente. Bei der Transformation vormoderner Zustände in die Moderne leistet Geld dabei die entscheidende Rolle.
Ich betrachte diese „Elemente“ gewissermaßen als Bausteine, aus denen sich das, was wir gemeinhin als Wirtschaft bezeichnen, bildet. Dieser liegt folgendes „Strickmuster“ zugrunde: In der Sorge um ihr Überleben (oder ein jeweils komfortableres Leben) kommunizieren Menschen über knappe Objekte. Diese Definition enthält drei Elemente, die in gewissem Sinne „von Anfang an“ vorhanden sind.
- Die Welt der Materie. Gegeben die Bedürftigkeit der Menschen nach Gütern ist sie oder gelten die Güter als „knapp“. (OR)
- Die Kommunikation und Kooperation der Menschen untereinander. Der Mensch konnte nur überleben, weil er kommunizierte und kooperierte. (UL)
- In der Auseinandersetzung mit der Natur und als sozial-kooperierendes Wesen entwickelte der Mensch seine Intelligenz. Der Mensch ist ein geistiges Wesen. (OL)
Damit sich aber Wirtschaft bilden kann, muss ein vierter Baustein – das überpersönliche Gebilde Geld – hinzukommen. Dieses hat sich erst sehr spät in der Geschichte der Menschheit fest etabliert und macht Wirtschaft zu dem, was wir heute unter ihr verstehen. - Geld (UR): Obwohl kein Bestandteil der Natur – es ist als ein Artefakt Teil der menschlicher Kultur -, steht es gleichwohl den Menschen als ein systemisches „Es“ gegenüber. Georg Simmel bezeichnet es daher folgerichtig als „überpersönliches Gebilde“.
Geld ist das Symbol der Moderne schlechthin. Erstens setzt es die vorgenannten drei Bauelemente voraus. Menschen müssen bedürftig, Güter knapp sein. Würde dieser Tatbestand nicht zutreffen, müssten Menschen nicht „wirtschaften“. Menschen, denen die „gebratenen Tauben in den Mund fliegen“, müssen auch nicht kooperieren. Und sie könnten weder eine technische, noch eine soziale Intelligenz entwickeln. Dass Güter knapp sind, dass wir als Menschen kooperieren, um die Knappheit zu mildern, und in diesem Prozess die menschliche Intelligenz entwickelten, das zeigt die anthropologische Forschung. Zweitens aber ist Geld dafür verantwortlich, dass sich die vorgenannten Grundelemente, ja auch Geld und Geldgrößen, ausdifferenzieren und sich nach ihrer eigenen Logik entwickeln, eine Eigenschaft, die für die Moderne typisch ist.
Beziehungen
Nachdem wir die Grundelemente benannt haben, können wir nun versuchen, deren Beziehungen zueinander nachzuvollziehen, um dadurch zu verstehen, wie Wirtschaft entsteht.
Beginnen wir mit dem Quadranten oben rechts. Der Mensch steht Dingen (materiell und immateriell) gegenüber, die knapp sind. Will er eines genießen, muss er auf ein anderes verzichten. Das begründet ganz objektiv den Tatbestand der Knappheit. Diesen Tatbestand – er äußert sich als Spannungsverhältnis zwischen Bedarf und vorhandenen oder verfügbaren Gütern – wollen wir im oberen rechten Quadranten verorten. Die ökonomische Theorie bewegt sich nur in diesem Quadranten (OR), und versucht, die Knappheitspreise allein aus gegebenen Nutzenfunktionen und beschränkten Gütern abzuleiten. (Der Lösung des Knappheitsproblems für die Gesellschaft entsprechen dann die Knappheitspreise.) Das aber kann nicht gelingen. Denn weder sind die Nutzenfunktionen a priori gegeben, noch die Güter, auf die sie sich beziehen, bekannt. Ich mache in meinem Buch Geld und Schuld darauf aufmerksam, dass Menschen nur via Tausch und das Medium Geld die Knappheit der Güter sichtbar machen und anderen kommunizieren können. Auf gesellschaftlicher Ebene ist die „Lösung des Knappheitsproblems“ auf Geld angewiesen. Nun gehört es zur Paradoxie des Geldes, sowohl Voraussetzung dafür zu sein, die Knappheit der Güter darzustellen, als auch die ursprünglich vorhandene Knappheit (Mangelsituationen) durch eine ungeheure Vermehrung von Gütern erträglich zu machen. Geld stellt zwar „alles“ als knapp dar, erlöst aber die Menschheit von der Tragödie physischen Mangels, welche die Masse der Menschheit in der Vormoderne ganz selbstverständlich plagte.
Der linke obere Quadrant enthält das individuelle Bewusstsein (mit seinen Inhalten, Strukturen und Dynamiken), das die Vorgänge, die sich im Individuum selbst und in seiner Umgebung abspielen, begleitet und verarbeitet. Der Mensch ist nicht nur ein Triebwesen, das nach Dingen verlangt, sondern ein geistiges, sich entwickelndes Wesen. Schon die Bedürfnisse sind nicht nur einfach vorhanden, sondern werden stets – falls sie dem Individuum bewusst sind/werden – vom Individuum bewertet, d.h. als gut, als angemessen oder als nicht angemessen, usw. empfunden. Er ist Kulturwesen, weil zu einem gewissen Grad entscheiden kann, welche Bedürfnisse er haben soll. Er wird Mensch, indem er sich zum Objekt seiner Überlegungen macht, d.h. in Distanz zu sich zu sich selbst geht. Außerdem: Es gibt nur ein Ich, weil es ein Du gibt, dessen Existenz es lernt, anzuerkennen und mit dem es in ständiger Beziehung steht, ökonomische Tauschbeziehungen eingeschlossen. Gleichermaßen beobachtet und bewertet jedes Individuum seine Partner und weiß sich von ihnen beobachtet. Man zahlt nicht nur einen Preis, sondern schätzt ab, ob er günstig oder ungünstig ist, usw. Man beurteilt auch das Geschäft selbst und Chancen seiner Anschlussmöglichkeiten. Mit der Existenz von Geld gelingt ein großer Schritt in Richtung Individualisierung bzw. Personalisierung des Subjekts. Wirtschaftliche Autonomie (Freiheit) erlangt der Mensch schließlich nur, weil es Geld gibt (Geld macht frei). Mit Geld vereinfachen sich die Informationen. Es erhöht sich die Sicherheit jeder einzelnen Operation. Daher wird der Mensch in die Lage versetzt, sich auf viel komplexere Operationen einzulassen, Großgesellschaften zu bilden und sich sogar global zu vernetzen.
Im unteren linken Quadranten – dem gemeinschaftlich Innerlichen – verorten wir die Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftsbildung: die Herstellung des Wir. Jede Kommunikation und Kooperation trägt zu dieser bei.[2] Den Unterschied von Gemeinschaften und Gesellschaften macht im Wesentlichen Geld aus. Ohne Geld kann es nur zu Gemeinschafts-, aber nicht zur Bildung von (Groß-)Gesellschaften kommen. Denn ohne Geld gibt es keinen sofortigen Ausgleich; der Empfänger bleibt eine unbestimmbare Leistung schuldig, von der der Leistende annehmen kann, dass sie der Empfänger später irgendwie abträgt, weil er in den Kreis der Gemeinschaft eingebunden ist. Alle helfen allen irgendwie, und allen wird irgendwie geholfen. Gemeinschaften beruhen daher auf der „Reziprozität“ einer wechselseitigen Schuldgemeinschaft. Selten wachsen sie über eine Größe von 100-150 Mitgliedern hinaus, und meistens beruhen sie auf Blutsverwandtschaft. Erst Geld öffnet den Kreis, macht den Fremden zum Partner, freilich auch den Bruder zum Fremden. Geld erlaubt globales Kommunizieren und Kooperieren. Jeder Tauschakt trägt dazu bei. Die nationalen Grenzen sind längst überschritten.
Im Bereich der modernen Wirtschaft ist der Hauptoperator des Verknüpfungsgeschehens der Tauschakt. Die Verknüpfung durch den Tausch wird durch andere Formen der Vergesellschaftung begleitet oder ergänzt, etwa die staatliche Administration, das Rechtswesen, erlernte gemeinsame Werte, usw. Um aber tauschen zu können, und zwar in einer derartigen Dichte, dass sie uns berechtigt, von Gesellschaft zu sprechen, müssen die Subjekte Geld erfunden haben und es allgemein verwenden. Erst wenn Geld in diesem Sinne „funktioniert“, wird es als Gut begehrt. Es wird sogar zum begehrtesten wirtschaftlichen Gut.
Damit sind im rechten unteren Quadranten angelangt – dem gemeinschaftlich Äußerlichen. Geld ist das „unbeabsichtigte“ Ergebnis des Tauschhandelns vieler, die Verkörperung des Austauschprozesses, wie Georg Simmel (1900) es bezeichnet. Geld als kollektives Symbol emergiert aus dem (üblicherweise paarweise stattfindenden) Tauschdialogen zwischen Individuen. Als „überpersönliches Gebilde der Kultur“ ist es ein quasi-Es, an dem sich die Individuen wie an einem naturhaften Phänomen orientieren und gleichzeitig an den Vorteilen der Arbeitsteilung partizipieren. (Nur Geld macht gesellschaftsweite Arbeitsteilung möglich.) So wie das Sprechen die Sprache hervorgebracht hat, ohne welche Denken unmöglich wäre, so verlangt auch der Tausch nach Geld. Wir könnten ohne Geld weder in hinreichender Leichtigkeit tauschen, noch könnten wir Aufwand und Ertrag vergleichen. Geld, das liquideste aller Güter, erhöht auch die Zugriffsgeschwindigkeit auf Dinge und macht die Welt selbst liquide – und damit veränderbar. Die Welt wird durch Geld und nur durch Geld einerseits vielfältig, andererseits aber wächst sie zusammen. Da jeder eine Beziehung zu Geld hat, haben alle zumindest eine virtuelle Beziehung zueinander. Auf diese Weise bringt Geld wirtschaftliche Aktivitäten in einen großen kohärenten Zusammenhang. Auch die allgemeine Beschleunigung des Lebenstempos lässt sich auf Geld zurückführen.
Geld als transformierendes Medium
Wie schon gesagt: Geld katapultiert die Menschheit auf ein neues Niveau, da es die Eigendifferenzierung der genannten Bauelemente und die Komplexität ihrer Beziehungen untereinander entscheidend erhöht. In der Geldwirtschaft ändert sich z.B. das menschliche Bewusstsein (OL). Geld fördert räumliches Denken. Es führt auch zum Denken in der Zeit. Denken bezieht sich schließlich nicht nur auf Objekte und Kommunikationen, sondern auf sich selbst. Der Mensch denkt über sein Denken nach. Es gibt sogar eine Geschichte des Denkens, und Geschichten über Geschichten des Denkens. Oder die Technik: die Entwicklung der einen verlangt nach einer weiteren, weitgehend unabhängig davon, ob man sie „wirklich“ benötigt. Ähnliches lässt sich auch für die Kommunikationen sagen: man kommuniziert oft des Kommunizierens wegen. Man will sich vergewissern, dass es noch funktioniert. Das gilt auch für Märkte. Man veranstaltet Transaktionen, allein um zu wissen, wo die Preise stünden, falls echte Transaktionen stattfänden. Schließlich Geld selbst. Es hat stets ein Verhältnis, wenn nicht schon zu sich selbst – es macht keinen Sinn, Euro gegen Euro zu tauschen – so doch zu erwarteten Geldgrößen. Das liegt letztlich an der zeitlichen Dimension des Wirtschaftens. Jeder Investitionsprozess beginnt mit Geld und endet beim Geld. Man muss heute Geld investieren, um morgen zu produzieren und übermorgen zu verkaufen. Geld „will“ verwertet werden. (Investives) Geld ist daher immer auch Kapital – rückbezügliches Geld. Die Anwendung der Tauschoperation auf Geld ist daher eine kapitalistische Operation. Solange die Verwertungsabsicht mit Produktion (=Realtransformation) von Gütern zu tun hat, lässt sich von Realkapital sprechen. Bezieht sich die Verwertungsabsicht aber nur auf Geldvermögenswerte – man kauft zwecks Geldvermögensvermehrung Aktien oder Derivate – handelt es sich um eine finanzkapitalistische Operation. Auch sie gehört gewissermaßen zur Natur des Geldes und zur funktionalen Normalität der Wirtschaft. Allerdings sollte man auch wissen, dass die Finanzmärkte nicht die Fähigkeit besitzen, sich von sich aus auf eine bestimmte Größenordnung, die zur Wirtschaft passt, zu kalibrieren, oder, um es anders auszudrücken: Die Finanzindustrie neigt zu parasitärem Größenwachstum.
Wir haben nun die Grundelemente, aus denen die Wirtschaft entsteht, den Wilber’schen Quadranten zugordnet: die unbestreitbare, weil durch Naturtatsachen gegebene Knappheit von Gütern (OR), den Menschen als geistiges Wesen (OL), den Tausch und die Austauschbeziehung als gesellschaftsbildendes Element (UL) und schließlich Geld als ihren medialen Träger (UR). Schließlich haben wir gesehen, wie die Elemente – unter der erst spät entstandenen „Herrschaft“ des Geldes – zusammenwirken und die Wirtschaft als „Objekt“ hervorbringen. Geld katapultiert den Menschen aus vormodernen Zuständen in die Moderne. Es ist, wie Simmel betont, daher das Symbol der Moderne schlechthin.
Kritik am Mainstream
Aus der Verortung des wirtschaftlichen Geschehens sehen wir aber auch deutlich, wo der Mainstream steht, was er ausblendet und wo er daher versagen muss. Wilbers Hauptkritik am wissenschaftlichen Mainstream besteht darin, dass dieser sich bloß auf die beiden rechtsseitigenn Quadranten konzentriert, und die übrigen Welten, die ja auch Realität darstellen, ausblendet. Dass diese Kritik auch auf die Wirtschaftswissenschaften zutrifft, darf nicht verwundern, weil diese ein Kind des 19. Jahrhundert sind und ihr Bestreben danach ging, die Wirtschaft ganz im Sinne der Klassischen Physik bloß als mechanisches System zu modellieren – gleichsam als „Logik der Dinge“ (Schumpeter). Diese Logik materialisiert sich in „Gleichgewichtslagen“, die materiell durch die Maximierung individueller Nutzen definiert sind. In einem solcherart konstruierten Gleichgewicht wäre auch die sachliche Struktur der Wirtschaft (hinsichtlich Produktion, Verwendung, Arbeitskräften, Knappheitspreise etc.) festgelegt (UR). Während aber das Ausblenden der anderen Teile der Welt (etwa der inneren Dimensionen) für die Klassische Physik durchaus akzeptabel ist, ja deren Fortschritt sogar förderte, liefen die Wirtschaftswissenschaften durch das Ausblenden und die bewusste Abstraktion der Welten, die wir nur in den anderen Quadranten adressieren können, in eine Sackgasse, aus der sie sich bis heute nicht befreien konnten und die zu fatalen Irrtümern führt. (Dietz 2015b) Meine Kritik an den Wirtschaftswissenschaften geht also nicht nur dahin, dass sie an einer Einseitigkeit leiden und der Ergänzung durch andere Wissenschaften bedürfen, sondern dass sich ihr Erkenntnisobjekt – die Wirtschaft – nur aus der gleichzeitigen Emergenz jener vier Felder rekonstruieren lässt.[3]
Das Innere von Wirtschaft
Die Ausblendung der inneren Welten (des individuellen Bewusstseins und der Kommunikationen) macht die Ökonomik für die Wirkungen, die von dieser Welt ausgehen blind. Das hat fatale Folgen. Man erklärt diese inneren Welten für nichtexistent, muss also ihre Wirkungen leugnen. Die Folge ist die Behauptung, Geld sei neutral. Marx, der einzige Ökonom, der sich (in seiner Wertformanalyse) überhaupt für die Binnenraum der Gesellschaft – er verwendet dafür den etwas unglücklichen Ausdruck „Produktionsverhältnisse“ – interessierte, hielt die Wertform (Geld, Geldpreise, usw.) für eine vorübergehende Krankheit (die, aber eben nur im Vorübergehen, ihre nützliche Wirkungen entfaltet). Er wollte aller Welt weismachen, dass man ohne Tausch und ohne Geld eine viel vernünftigere Gesellschaft würde bauen können. Dieser Idee hatte der ökonomische Mainstream (groteskerweise) nichts entgegenzusetzen. Man fürchtete daher Jahrzehnte lang, von den realsozialistischen Ländern überholt zu werden, und wurde, nachdem man die Welt im Rüstungswettlauf einige Male an den Rand ihrer eigenen Vernichtung gebracht hatte, vom Absturz des Sozialismus ziemlich überrascht. Dass sich Geld – die Verkörperung der Tauschrelation – durch Stalin nicht ersetzen lässt, hätte man (mit Georg Simmel und Wilber) wissen müssen.[4] Man wusste es aber nicht, weil man vom Binnenraum glaubte, abstrahieren zu müssen.[5]
Man muss sich allerdings nicht nur vor der wahnwitzigen Idee der Beseitigung von Tausch & Geld hüten, sondern auch vor einer zum Selbstzweck ausgewachsenen Entwicklung des Finanzsystems. Dass man die Gefahren, die sich aus der Hypertrophie des Finanzsystems ergeben, nicht erkannte, liegt aber ebenfalls an der Verleugnung des Quadranten UL (Kommunikation, Interaktion) und von Geld als dessen emergentem Es (UR). Man schlitterte naiv in die Finanzkrise hinein.
Adam Smiths Anspruch, die „Ursachen des Reichtum der Nationen“ zu verstehen, wird von der modernen Ökonomik, die sich bloß auf der rechten Seite der Quadranten bewegt, nicht eingelöst. Der Mainstream behauptet z.B., das Tauschen würde den Wohlstand nicht hervorrufen, sondern sei nur ein Mechanismus der Allokation produzierter Güter auf die berechtigten Personen. Aus der instrumentalistischen Perspektive der Wirtschaftswissenschaften scheint es ja auch so zu sein: Der Tausch erhöht weder die Menge noch die Qualität tatsächlich produzierter Güter. Zu dieser Feststellung gelangt man aber nur, wenn man sich bloß in der Welt der Dinge bewegt. Aus systemisch/kultureller Sicht (unter Einbeziehung der unteren Quadranten UL und UR) stellt sich das Verhältnis von Tausch und Welt der Dinge ganz anders dar: Erst das Tauschen macht die Produktion möglich. Kein Produzent würde auch nur für eine Sekunde seine Maschinen einschalten, würde er nicht mit dem Verkauf seiner Produkte auf Märkten rechnen können. Insofern ist der Tausch (das Wir mit Unterstützung des kollektiven Mediums Geld) die Voraussetzung für stattfindende Produktion, die wir im Quadranten UR messen. Die Ursache des Reichtums lässt sich weder mit der Gier der Menschen oder aus einem effizienten Ressourceneinsatz, sondern nur aus dem Binnenraum der Gesellschaft – aus ihrer zivilen Kultur erklären.
Für die bürgerliche Gesellschaft ist ein völlig neues Verhältnis von Teil und Gesamten bezeichnend, das sich gerade im Spannungsfeld der Quadranten OL und UR zeigt. Der autonome, zunehmend sensible, empathische Bürger/die Bürgerin steht einer weitgehend objektivierten Kultur gegenüber. Subjektivität der Person und Sachlichkeit der ökonomischen Welt bedingen sich wechselseitig. Ist im Quadranten OL das subjektive Erleben zu Hause, thematisiert der Quadrant UR die objektive Kultur, das System. Das Problem ist das immer größer werdende Spannungsverhältnis zwischen den beiden – Georg Simmel spricht von einer Auseinanderentwicklung von subjektiver und objektiver Kultur; sein Zeitgenosse Sigmund Freud vom Unbehagen an der Kultur. Eine der großen Aufgaben der Postmoderne wäre die Versöhnung der beiden Felder, die allerdings nur unter einer integralen Perspektive, die alle Dimensionen des Seins einschließt, gelingen kann.
Literaturverzeichnis
Dietz, R. (2015). Geld und Schuld – eine ökonomische Theorie der Gesellschaft, 4., überarbeitete Auflage. Marburg: Metropolis-Verlag.
Dietz, R. (2015). Ökonomik als Kulturwissenschaft – Ökonomischer Fundamentalismus vs. Simmels Relativismus. Zeitschrift für Kulturphilosophie.
Marx, K. (1868). Das Kapital. Berlin (Ost).
Mises, L. v. (1931). Vom Weg der subjektivistischen Wertlehre. In L. v. Mises, & A. Spiethoff (Hrsg.), Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Erster Teil, S. 73-93. Leipzig und München: Duncker & Humblot.
Simmel, G. (1900/1907). Die Philosophie des Geldes (6 Ausg.). Berlin: Duncker&Humblot 1958.
Wilber, K. (1991). Das Spektrum des Bewusstseins. Reinbek bei Hamburg: Scherz-Verlag.
Wilber, K. (1997). Das Wahre, Gute, Schöne – Geist und Kultur im 3. Jahrtausend (The Eye of Spirit, 1997). Frankfurt am Main : Krüger.
Wilber, K. (2001). A Theory of Everything – An Integral Vision for Business, Politics, Science, and Spirituality. Boston: Shambala.
Autor: Dr. Raimund Dietz
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[1] Das ist ein brisantes Unterfangen. Denn, obwohl Tausch und Geld Wirtschaft konstituieren, spricht ihnen die Ökonomik die kategoriale Bedeutung ab. (dazu Mises 1931). Diese Ignoranz schürte den Glauben in den Sozialismus, eine Ideologie, auf dessen Altar im gerade abgelaufenen Jahrhundert 100 Millionen Menschen geopfert wurde. Dazu Dietz 2015c.
[2] Gesellschaft besteht nicht einfach. Sie ist ein ständiger Prozess ihres Zustandekommens. Luhmann definiert sie so: Gesellschaft ist Kommunikation und nur Kommunikation. Georg Simmel, einer der Begründer der Soziologie spricht von Wechselbeziehungen.
[3] Ein Stamm wirtschaftet zwar, aber er hat keine Wirtschaft. Erst das aus dem sozialen Prozess des Tausches emergierte Medium führt zu einer neuen kulturellen Qualität, die trotz der Selbstverständlichkeit, in der wir uns in ihr inzwischen bewegen, doch weitgehend unverstanden blieb.
[4] Da die Ökonomik vom Binnenraum nichts wissen will, muss sie zur Fiktion eines exogenen Beobachters bzw. (Walrasianischen) Auktionators Zuflucht nehmen, dem sie die Aufgabe der gesellschaftlichen Synthesis zuschreibt. Dieser müsste die Bedürfnisse aller Beteiligten und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung in einem einzigen Rechenakt zusammenführen und die Synthesis dann auch exekutieren. Die Folge solcher Modelle ist (a) die Eliminierung von Gesellschaft. Gesellschaft wird durch ein externes Subjekt ersetzt. Kommunikation/Interaktion findet nicht statt. (b) die Eliminierung des menschlichen Subjekts. Es wird als passive Made modelliert.
[5] Mises leitet einen Aufsatz, der ein Symposium vorbereiten sollte, in welchem sich die Creme deutschsprachiger Ökonomen zur Erörterung methodologischer Fragen zur Werttheorie zusammenfand, mit der Behauptung ein, der Fortschritt der Wirtschaftswissenschaften sei dadurch möglich geworden, dass die Wirtschaftswissenschaften von Tausch und Geld abstrahiert hätten. (Mises 1931: 75). Dazu näher Dietz 2015c.