"Embracing Reality - The Integral Vision of Ken Wilber"
Brad Reynolds |
Wer die Veröffentlichungen zu Ken Wilber bzw. seinem Werk in den letzten Jahren verfolgt hat, der weiß wie schwierig es ist, diesen Autor angemessen dazustellen bzw. zusammenzufassen. Wilber selbst hat verschiedentlich zu diesem "Problem" Stellung bezogen, seinen eigenen Beitrag zu dieser Situation freimütig zugegeben, und sich dann doch immer wieder gebetsmühlenartig in der Form "dies ist nicht das was ich sage" gegenüber Veröffentlichungen über sein Werk geäußert bzw. äußern müssen - so z.B. auch in Bezug auf das Buch Ken Wilber - Denker aus Passion von Frank Visser. Nun liegt mit "Embracing Reality" ein erneuter Versuch vor, den "ganzen Wilber" (auf rund 450 Seiten) zusammenzufassen, und das auf verschiedenen Ebene der Verdichtung.
Um den Gesamteindruck vorwegzunehmen - ich finde diesen Versuch sehr gelungen und bin froh, dass nun endlich eine - wenn auch bisher nur auf englisch erhältliche - "stimmige" Zusammenfassung von Wilber's Werk und dessen Entstehungshintergrund vorliegt.
Brad Reynolds ist - nach eigenen Angaben im Vorwort - seit 1993 ein Schüler Wilber's der sein Werk studiert, und auch die Gelegenheit hat im Dialog mit Wilber Klärungen herbeizuführen - ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn man ein Buch über ein sehr komplexes Werk schreibt. Reynolds hat bei der Abfassung des Buches von diesem direkten Kontakt auch reichlich Gebrauch gemacht - insbesondere im Abschnitt Introduction: Ken Wilber's Personal Odyssey, wo die Entstehungsgeschichte der Bücher und der Lebensweg von Wilber beschrieben werden. Reynolds macht aber auch deutlich, dass Embracig Reality allein "auf seinem (Reynolds) Mist" gewachsen ist, und übernimmt konsequenterweise die alleinige Verantwortung für dessen Inhalt.
Zum Aufbau des Buches:
Nach einer Widmung stimmt Reynolds den Leser mit einem Wilber-Zitat (Bodhisattva Enlightenment) aus Halbzeit der Evolution ein. Dann kommt ein Vorwort von Wilber höchstpersönlich, dazu später mehr. Ein weiteres Zitat (aus Eine Kurze Geschichte des Kosmos) The Task of Philosophy weist auf das Interesse das Autors an einer integralen Philosophie, welche die Dinge nicht nur von außen, sondern auch von innen betrachtet. Reynolds meldet sich dann in A Note to the Reader erstmals selbst zu Wort, beschreibt sein Verhältnis zu Wilber und seine Motivation für dieses Buch, und beginnt dann - wiederum nach einem Wilber-Zitat (aus Integrale Psychologie, A Person's Deepest Drive) - mit dem eigentlichen Werk.
In einer siebzigseitigen Einführung - Introduction: Ken Wilber's Personal Odyssey - beschreibt Reynolds die Parallelität von Wilber's Biografie und der Entstehung seines Werkes. Dieser Abschnitt liest sich sehr spannend und rund - und erzählt auf eine teilnehmende art, wie sich Leben und Werk von Wilber in einer wechselseitigen Bezugnahme entwickelt haben. Dem Autor gelingt es - und das ist eine große Leistung -, die Ereignisse aus einer empathischen Anteilnahme heraus zu beschreiben, und doch den notwendigen Abstand zu behalten. Fakten und Daten, persönliche Entwicklungen, dramatische Lebensumstände, Erfolge und Wegegabelungen in Wilber's Leben und Werk verdichten sich so zu einer packenden Lebensgeschichte eines Zeitgenossen, die sich mit jedem neuen Tag immer weiter entfaltet
Nach dieser Einführung geht es dann ans "Eingemachte", Reynolds nimmt sich alle bisher erschienenen Bücher von Wilber vor, und geht sie - entweder kurz zusammengefasst oder Kapitel für Kapitel - durch; von Das Spektrum des Bewusstseins (1977) bis zu Boomeritis (2002). Darüber hinaus - Wilber teilt sein Werk in unterschiedliche Phasen ein; I, II, III, IV, und V - gibt Reynolds noch einen Ausblick auf Wilber's aktuelle Schaffensphase V, soweit darüber bereits zum Zeitpunkt des Erscheinen des Buches etwas veröffentlicht wurde.
Dieser Hauptteil des Buches - gewissermaßen ein Wilber im Zeitraffer - ist eine intensive, informative und anregende Lektüre. Für Nicht-Kenner von Wilber besteht die Möglichkeit, sich eine guten Überblick über Inhalte und Entwicklungen seines Werkes zu verschaffen, die Kernaussagen und die roten Fäden zu verfolgen - für Kenner gibt es manche Erinnerungs-, und auch Aha-Effekte, die durch die Materialverdichtung hervortreten. Reynolds hat es geschafft, das jeweils Wesentliche der Werke zusammenfassend darzustellen, auch unter Zuhilfenahmenvon Grafiken (so sind beispielsweise die Tafeln aus Integrale Psychologie vollständig abgedruckt), und er zeigt Entwicklungen und Zusammenhänge auf, die bei der Lektüre der Originalliteratur leicht untergehen. Insbesondere die Bedeutung der Veröffentlichungen der Phasen I-III - der entwicklungsorientierte Wilber - als eine Vorbereitung für den integralen Wilber der Phase IV, sind sehr aufschlussreich, und es ist erstaunlich, wie sehr - auch bei der zusammenfassenden Darstellung - der Autor noch Raum für Details hat. Reynolds bleibt jedoch - wie viele andere, die über Wilber schreiben - nicht beim "frühen" Wilber stehen, sondern erläutert den integralen Wilber ausführlich (IV), und gibt auch einen Ausblick auf den postmetaphysischen Wilber (V), zu dem es bisher nur einige auszugsweise Veröffentlichungen gibt (Excerpts). Den Beginn der Phase V hat Reynolds möglicherweise in seinem Buch zu früh datiert, im Inhaltsverzeichnis werden Intergrale Psychologie, Ganzheitlich Handeln und Boomeritis dieser Phase zugeordnet, aber diese Zuordnungsfrage wird sich spätestens mit der angekündigten Veröffentlichung des zweiten Bandes der Kosmos Trilogie klären (zur Zeit arbeitet Reynolds an einer Darstellungen des ganz aktuellen Wilber - Phase V. Als einen Vorgeschmack hat er einen Text dazu auf www.shambhala.com veröffentlicht: Where'sWilber At?).
Stilistisch kombiniert Reynolds in seinem Buch geschickt Originalzitate mit eigenen Aussagen, und es gelingt ihm dabei ein zusammenhängender und schlüssiger Textfluss. Auch die Collected Works werden erwähnt, ebenso wie die Tatsache, dass z.B. Sex, Ecology, Spirituality - auf englisch - in einer zweiten, überarbeiten Auflage erschienen ist, der Autor ist auf dem Laufenden. Ein Zitat (Integral Philosophy) aus Das Wahre, Schöne, Gute beschließt diesen Hauptteil des Buches, und in einem Epilog schreibt Reynolds dann noch über Perspektiven einer globalen integralen Vision, und setzt das Werk Wilber's in einen entsprechenden Kontext.
Der Autor würdigt in Acknowledgements diejenigen Menschen, die zur Entstehung des Buches beigetragen haben, und führt dann eine detaillierte Bibliography bei, die sorgfältig die Veröffentlichungen von Wilber chronologisch darstellt. Interessant sind hier insbesondere die zahlreichen Veröffentlichungen außerhalb seiner Bücher. Reynolds erwähnt auch noch diejenigen Buchprojekte die Wilber angekündigt hat, und gibt so einen Ausblick auf dessen weiteres Schaffen.
Brad Reynolds ist seinem eigenen Anspruch, einen Überblick und Leitfaden zu Wilber's Werk zu schreiben, voll gerecht geworden. Er hat - und das ist selten - sowohl aus einer sympathischen Resonanz heraus geschrieben (er macht aus seiner großen Wertschätzung für Wilber keinen Hehl), er hat aber auch den notwendigen Abstand bewahrt, um eine derartige Zusammenstellung objektiv präsentieren zu können. Dieser souveräne Umgang mit unterschiedlichen Perspektiven (einer ersten, zweiten und dritten Person - subjektiv, intersubjektiv und objektiv) ist eine erfrischende Parallele zu Wilber's aktuellem Werk, wo es eben um diese Perspektiven-des-in-der-Welt-seins geht.
Ist dies ein kritischen Buch - oder gibt der Autor Wilber unreflektiert wieder? Reynolds hat Wilber eindeutig auch reflektiert, sonst wäre eine gelungene Verdichtung 1:20 (wenn man das bisherige Gesamtwerk von Wilber mit ca. 10000 Seiten veranschlagt) gar nicht möglich. Reynolds Anliegen ist aber nicht das eines kritischen Werkes - was Embracing Reality durch seine gute Darstellung der Ideen Wilber's jedoch leistet, ist die Schaffung einer soliden Grundlage, auf der eine kritische Diskussion überhaut erst beginnen kann. Nur allzu oft scheitern bedauerlicherweise viele "Wilber-Kritiken" bereits an einer falschen Darstellung dessen, was Wilber gesagt bzw. geschrieben hat.
Und was sagt Wilber selbst zu all dem? Im Vorwort erfahren wir folgendes:
Wilber würdigt die Arbeit von Reynolds ("Brad Reynolds hat eine außerordentliche Arbeit im Lesen, Zusammenfassen und Erläutern meiner Arbeit geleistet, bis hin zu den aktuellen Entwicklungen. Ich schätze sehr die Zeit und die liebevolle Mühe, die er in dieses Projekt gesteckt hat, und ich bin sicher, dass für viele Menschen, die an meiner Arbeit interessiert sind, dieses Buch einen großen Wert hat")
Wilber sagt aber auch, dass er das Buch von Reynolds nicht gelesen hat - ebenso wie alle anderen Bücher die über ihn geschrieben wurden bzw. noch geschrieben werden - und begründet dies mit einem Mangel am Zeit ("Wenn ich - vor dem Hintergrund von immer mehr Veröffentlichungen - damit beginne, dann wäre dies eine Arbeit ohne Ende, und deswegen ist es nur fair, wenn ich keine dieser Veröffentlichungen auf ihre Richtigkeit hin überprüfe"). Reynolds Arbeit ist daher - ebenso wie alle anderen Arbeiten über Wilber - keine "autorisierte" Darstellung.
Am Ende des Vorwortes schreibt Wilber einmal mehr vom "Feuer des Integralen" und demjenigen, worauf alle Bücher hinweisen. "Meine Bücher und Brad's Buch - sie alle sollen einfach nur daran erinnern, dass, wenn du wirklich ein integrales Leben leben möchtest, es darum geht zu dem zu erwachen der sieht, in den hineinzufühlen der fühlt, denjenigen kennen zu lernen der Erkenntnis hat, und dann diese Freiheit sich in die Fülle hinein ausdehnen zu lassen, die das getrennte Selbst überstrahlt, bereits verschwunden ist im Wunder der Gegenwärtigkeit, das gesamte Universum mit einer Hand umfassend, Augenblick für Augenblick - nichts besonderes, einfach nur dies
mh/2005
Embracing Reality - The Integral Vision of Ken Wilber
Brad Reynolds
"Embracing Reality - The Integral Vision of Ken Wilber"
Jeremy P. Tarcher/Penguin, 2004
"Embracing Reality - The Integral Vision of Ken Wilber"
Jeremy P. Tarcher/Penguin, 2004
Wer die Veröffentlichungen zu Ken Wilber bzw. seinem Werk in den letzten Jahren verfolgt hat, der weiß wie schwierig es ist, diesen Autor angemessen dazustellen bzw. zusammenzufassen. Wilber selbst hat verschiedentlich zu diesem "Problem" Stellung bezogen, seinen eigenen Beitrag zu dieser Situation freimütig zugegeben, und sich dann doch immer wieder gebetsmühlenartig in der Form "dies ist nicht das was ich sage" gegenüber Veröffentlichungen über sein Werk geäußert bzw. äußern müssen - so z.B. auch in Bezug auf das Buch Ken Wilber - Denker aus Passion von Frank Visser. Nun liegt mit "Embracing Reality" ein erneuter Versuch vor, den "ganzen Wilber" (auf rund 450 Seiten) zusammenzufassen, und das auf verschiedenen Ebene der Verdichtung.
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