Die Begegnung mit unseren Schatten eröffnet den Weg zur Entfaltung unseres „Einzigartigen Selbst“

Helmut Dörmann

Meditation öffnet die Büchse der Pandora und wir werden mit unseren Schatten konfrontiert.

In diesem Aufsatz möchte ich die Beziehung von Psychodynamik und Spiritualität vor einem integralen Hintergrund beleuchten. Unter Psychodynamik verstehe ich die Wechselwirkung innerlicher, psychischer bzw. seelischer Prozesse im Menschen, unbewusst, bewusst werdend und auch bewusst.

Unter Spiritualität verstehe ich einen Erfahrungs- und Erkenntnisweg, der sowohl die Erfahrung des „Ursprungs allen Seins“ als auch die Verwirklichung im ganz gewöhnlichen Leben zum Ziel hat. Eine integrale Spiritualität beinhaltet die beiden Aspekte gleichermaßen.

In Anlehnung an Ken Wilber können wir drei Hauptperspektiven gegenüber dem Göttlichen unterscheiden, die „drei Gesichter Gottes“:

Das dritte Gesicht Gottes ist vielen auch als „Naturmystik“ bekannt. Beispiel: Es ist Nacht. Ich liege unter einem klaren Sternenhimmel. Über mir das Universum in seiner ganzen Schönheit und Weite. Man erkennt in diesem Schauen das Gewebe des Universums als drittes Gesicht Gottes.

Das zweite Gesicht Gottes: Das kosmische „DU“, als Quelle, als Urgrund oder „Gottheit“ wie Meister Eckhart (1260-1328) es nennt. Diesem „DU“ kann ich mich hingeben. Ich bin nicht getrennt davon. Eckhart spricht von „Gottwerdung des Menschen als Menschwerdung Gottes“.

Damit gelangen wir zum ersten Gesicht Gottes: GEIST als erste Person ist das eigene WAHRE SELBST. Dieses ICH BIN durchdringt das gesamte relative Selbst und damit auch unsere Psyche. Dazu Sri Aurobindo (1872-1950): „Wenn es wahr ist, dass GEIST in Materie involviert und sichtbare Natur insgeheim Gott ist, dann ist es für den Menschen auf Erden das erhabenste und legitimste Ziel, in sich selbst das Göttliche zu offenbaren und Gott im Inneren und nach außen hin zu verwirklichen“.

Eine Möglichkeit, dies zu erfahren und zu offenbaren, wie es Sri Aurobindo nennt, ist die Praxis der gegenstandsfreien Meditation.

Freiheit und Fülle im Bewusstsein

In der Meditation kann sowohl GEIST als der absolute, unbegrenzte offene und freie Raum, in dem Erfahrungen kommen und gehen, erfahren werden, wie auch das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrungen als die Fülle des Relativen und Phänomenalen, das auftaucht, eine kurze oder auch sehr lange Weile im Bewusstsein verbleibt und dann wieder geht, durchlebt werden. Das persönliche Erleben kann sich dabei von „himmelhoch jauchzend“ bis zu „zu Tode betrübt“ erstrecken.

Die Meditation hilft uns so auf zweierlei Weise: Sie öffnet uns für das, was in uns vorgeht und zeigt uns gleichzeitig den Weg in die Freiheit. Eine Freiheit, die unabhängig von Bewusstseinsinhalten existiert, die unzerstörbar und immer gegenwärtig ist.

Die Büchse der Pandora

Wenn wir in uns gehen, ist es, als wenn wir einen Vorhang zur Seite ziehen und die Büchse der Pandora öffnen: Angst, Wut, Trauer, Sorgen, Begierden und viele Gedanken begegnen uns. Wir scheinen ein Spielball dieser Kräfte oder dieser Dynamiken zu sein und erfahren gleich am Beginn einer meditativen Praxis und auch in deren Verlauf, dass wir nicht „Herr (oder Frau) im eigenen Hause“ sind. So sitzen wir jahrelang und warten auf ein „Erleuchtungserlebnis“, und erleben auf dem Kissen eher Frust statt Lust. Oft hat man das Gefühl, dass auch nach Jahren der Meditation nichts passiert ist, ein endloses „Warten“ und „Wollen“. Statt der ersehnten Erleuchtung, die nicht gemacht werden kann, tauchen schmerzhafte seelische Verletzungen oder Kindheitserinnerungen in unserem Bewusstsein auf.

Die Reinigung der Seele gehört also zum Weg dazu und man kommt nicht darum herum, sich mit seiner Psyche und der darin enthaltenden Dynamik auseinanderzusetzen. Dem trägt auch Ken Wilber in einer „integralen Lebenspraxis“ Rechnung. Dort ist das Übungsmodul „Schatten“ eins von vier empfohlenen und unverzichtbaren Grundmodulen.

Persönliches Erleben

Ich möchte hier ein ganz persönliches Erleben wiedergeben. In meiner Beziehung zu meiner Frau (wir sind jetzt 26 Jahren verheiratet) waren die ersten Jahre davon geprägt, dass ich sie verändern wollte. Nur leider nicht mich, sondern meine Frau. Kurz gesagt, ich wollte mehr Austausch, wollte mehr Intensität, wollte mehr Auseinandersetzung. Ich war mir meiner guten und hehren Absichten bewusst und fühlte mich gut damit und gleichzeitig moralisch im Recht. Ich konnte nur leider den Schatten, der damit verbunden ist, nicht erkennen. Ich wollte meine Frau letztlich „formen“. Jetzt beim Schreiben, tut es immer noch weh, das zu sehen. In dieser Zeit gab es zunehmend Momente, in denen ich mich völlig hilflos fühlte. Ich empfand es so: „Ich habe alles ausprobiert, habe jetzt nichts mehr in der Hand. Ich weiß nicht mehr, wie es weitergeht.“ Als ich die Verzweiflung und innere Not zulassen konnte, war in der Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit ein winziger Punkt von Befreiung. Ich spürte, ich muss mich jetzt einfach nicht mehr anstrengen.

Im Prozess des Erwachsens kann sich unser einzigartiges Selbst entfalten.

Ich will es einfach nicht mehr. Ich habe genug davon. Ich lasse es jetzt wirklich los. Dieser Prozess zog sich über Monate hin. Dieses Loslassen, dieses Nicht-mehr-Wollen verwandelte sich allmählich und langsam in Akzeptanz und Wertschätzung für meine Frau … so, wie sie ist.

Hinsehen und loslassen – in einer Haltung der Akzeptanz können wir unseren Schatten mit Wertschätzung begegnen.

In dieser Zeit wurde mir schmerzlich bewusst, dass es, bezogen auf meine Meditationspraxis, ein ähnliches Muster gab, was da lautete: Wille, Disziplin und Anstrengung führen zur Erleuchtung. Auch hier erkannte ich schmerzlich, wie sehr ich mir selbst im Wege stand. Etwas zeitlich verschoben durchlebte ich diese ähnlichen und doch unterschiedlichen Erfahrungen. Erst als ich mich auch in der Meditation ganz auf meine Hilflosigkeit einließ und erkannte, dass jegliches Bemühen mich einfach nicht weiterbrachte, konnte ich allmählich erfahren, dass im Schmerz auch hier die Befreiung liegt. Erst als ich wirklich alles losließ, und ich meine wirklich alles, öffnete sich der Himmel in mir. Ich erlebte eine Gipfelerfahrung, die so stark war, dass sie nachhaltig bis jetzt wirkt. Meine Meditationspraxis wurde, wie es Johannes Tauler, ein deutscher Mystiker und Schüler Eckharts, ausdrückte „leicht und lustvoll“.

Weggemeinschaft

Ich möchte nun die gleiche Fragestellung auf eine Gruppe Meditierender übertragen. Auch hier gibt es eine Wechselwirkung. Beleuchten wir die Frage von der spirituellen Seite aus, gibt es auch hier ganz konkrete Erfahrungen.

Seit Jahren leite ich eine Jahresgruppe „Integrale Spiritualität“, die sich wöchentlich trifft. Schwerpunkt der Abende ist die Einübung von Meditation. Außerdem gehören Gruppenaustausch, Schattenarbeit im Augenblick, Tönen, Gebetsgebärden sowie die Einübung von emotionalen Praktiken wie Tonglen mit dazu. Das gemeinsame Praktizieren, auf unterschiedlichen Ebenen als eine integrale Lebenspraxis (ILP), hat ein Zusammengehörigkeitsgefühl wachsen lassen. Eine wunderbare Erfahrung ist: Man kann „Weggemeinschaft“ mit Menschen leben, die ähnlich spirituell ausgerichtet sind. Und das tut einfach gut. Der Dalai Lama spricht häufig davon, dass wir letztlich alle geliebt werden wollen. In einer Freundschaft, Beziehung, Ehe oder Gemeinschaft kann man üben zu lieben (beim Schreiben wird mir bewusst, dass „Liebe“ ein aus der Mode gekommenes Wort ist … eigentlich schade). Denn genau hier spiegelt sich unser Menschsein in seiner ganzen Vielfältigkeit. Wir alle sind ja nicht nur Lichtträger, sondern haben auch einen Schatten.

Und in der Gemeinschaft prallen gerade die Schatten „gerne“ aufeinander. Dass das zu Spannungen und Streitereien führt, kennen wir zur Genüge. Die gemeinsame Ausrichtung und das gemeinsame Praktizieren schützt natürlich nicht davor. Aber es schafft eine Art inneren Container, um Spannungen und Konflikte zu „halten“, erlebbar zu machen und zu transformieren. Ich möchte es als eine tragende Kraft bezeichnen, als immer feiner werdende Energie, als Raum, der sich zunehmend öffnet, als vertrauensvolle Atmosphäre, als Energie oder Kraft, die in manchen Momenten sehr präsent sein kann.

Einzigartiges Selbst

Kommen wir noch einmal zur „Erleuchtung“ zurück. Sind wir einmal erwacht, kann sich unser „Einzigartiges Selbst“ entfalten, als eine Kombination unseres Erwachens und unserer eigenen, einzigartigen und unverwechselbaren Menschlichkeit, mit all unsere Begabungen und Talenten. Mögliche Veränderungen können sein: Ich akzeptiere den Wunsch in mir, ein guter Mensch zu werden; ich lebe mein Potenzial; ich setzte andere Prioritäten in meinem Leben; ich ordne mein Leben und trenne Wesentliches von Unwesentlichem oder ich schenke mir und anderen einfach mehr Liebe und Aufmerksamkeit.

Dies geschieht in uns, aber vor allem auch zwischen uns und in Gemeinschaft hinein. Warum? Weil wir auf der absoluten Ebene ein gemeinsames WIR sind. Unser GEIST – in Aktion – will durch uns hindurchwehen, will sich manifestieren, will unsere ganz besonderen Qualitäten zur Entfaltung bringen.

Vom absoluten Standpunkt sieht es so aus: Wir sind bereits erwacht und waren es immer schon. Vom relativen Standpunkt aus entwickeln wir uns ständig weiter. Beides kommt in unserem einzigartigen Selbst zusammen.


Helmut Dörmann, Jahrgang 1957, Gestalttherapeut, Koordinator des Hospizkreises Minden, Spiritueller Lehrer und Vorstandsmitglied der Würzburger Schule der Kontemplation, Leitung von DIA Spirit – Die Integrale Akademie, Leiter des Integralen Salons in Minden, 3-jährige Ausbildung in buddhistischer Psychologie, Meditationspraxis seit 1980, langjährige Kurstätigkeit.
(aus: IP 17 – 11/2010)

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