Ein Interview mit Thomas Binder

Anliegen und Motivation

Michael Habecker: Herr Binder, Sie beschäftigen sich ja schon länger mit dem Thema Erwachsenenentwicklung, in Theorie aber vor allem auch in der Praxis, und haben auch entsprechende Ausbildungen gemacht – was ist ihr Anliegen dabei?

Thomas Binder: Mein Anliegen ist es, das Thema Ich-Entwicklung insbesondere im deutschsprachigen Raum so „aufzubereiten“, dass man darüber nicht nur redet, sondern es auch ganz pragmatisch nutzen kann. Ich bin mittlerweile mit vielen Entwicklungsmodellen vertraut, habe über die Jahre hinweg einige der Auswertungssysteme dazu gelernt. Nur hat mich immer gewundert, dass kaum jemand es soweit aufbereitet, um es im Coaching oder in der Führungskräfteentwicklung wirklich und in seiner vollen Bandbreite nutzen zu können. Angesichts der Tragweite, die hunderte Forschungsstudien nahelegen, ist das ein großes Missverhältnis.

Warum das Thema Erwachsenenentwicklung?

MH: Warum ist die Beschäftigung mit dem Thema Erwachsenenentwicklung überhaupt wichtig, allgemein und für Sie persönlich?

TB: Ich kann bei mir persönlich am ehesten anfangen. Es muss etwa 1992 gewesen sein, als ich über das Max Planck Institute for Human Development in Berlin damit in Kontakt gekommen bin. Damals arbeitete dort eine Gruppe konstruktivistischer Entwicklungspsychologen. Ich hatte nach dem Abschluss als Diplom-Kaufmann weiter Psychologie studiert und war im Zuge dessen mit Modellen zur Erwachsenenentwicklung in Kontakt gekommen, zuallererst mit Kohlbergs Entwicklungsmodell moralischen Urteilens. Es hat mich fasziniert, dass es dabei in erster Linie nicht darum geht, Wissen anzuhäufen oder bestimmte Fähigkeiten anzutrainieren, sondern dass unsere Strukturen des Denkens und Fühlens sich offensichtlich mit jeder Entwicklungsstufe erweitern. Dies hat für mich damals eine ganz neue Perspektive eröffnet. Von der Moralentwicklung her bin ich dann auf das umfassendere Thema Ich-Entwicklung gestoßen, und damit tat sich eine weitere neue Welt für mich auf. Denn dort ging es um das ganze „Ich“ und ich war beeindruckt, wie viel dazu bereits geforscht worden war. Dieses Modell (von Loevinger) zeigte welche Aspekte sich im Zuge der Ich-Entwicklung systematisch verändern. Seitdem hat mich das nicht mehr losgelassen, ich wollte dies verstehen und damit auch arbeiten.

 

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